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Verheißungen eines Rosenblattes

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09.09.2012
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Verheißungen eines Rosenblattes

Verwundert starrte Dr. K sein altes, verstaubtes Lichtmikroskop an, ein Kindheitsgeschenk seines Vaters. Er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wie dieses nutzlose Gerät den Weg in sein modernes Labor fand, geschweige denn, für was. Behutsam befreite er es aus den Fängen der Staubweben, die sich über die Jahre der verborgenen Existenz fein abgelagert haben. Den Umstand, dass Anfang und Ende seiner Karriere zusammentrafen, realisierte er nicht.

Diesem unerwarteten Zwischenfall in seinem sonst alltäglichen Ablauf mag es zu verdanken sein, dass K sich zu einer untypischen Aktion hinreißen ließ. In Anbetracht seiner schnell näher rückenden Pensionierung beschloss er, ein Rosenblatt zu untersuchen, mit dem vor vielen Jahren sein Interesse erweckt worden war.

Damals, als kleiner Junge, zupfte er spitzbübisch ein rotes Blütenblatt aus dem dornigen Rosenstrauß seines Vaters für die Mutter, und freute sich über die Launen des Lebens, welches ihm heute unverhofft ein Mikroskop bescherte. Neugierig widmete er sich die nächsten Stunden nur dem Rosenblatt. Untersuchte deren verzweigte Strukturen, beleuchtete von unten wie von oben, während seine Eltern sich schweigend in die Küche zurückzogen und die Türe schlossen.

Eingeklemmt zwischen den diversen Papierstapeln in seinem Büro, platzierte K das Rosenblatt unter dem Objektiv. Still dankte er dabei dem anonymen Verehrer seiner Sekretärin, welcher ihr kürzlich zum Valentinstag eine Rose hinterließ.

Fünffache Vergrößerung. Kindisch grinste K in sich hinein und war froh, dass er seine Türe abgeschlossen hatte. Nichts Außergewöhnliches auf dem Rosenblatt, weshalb er wie üblich direkt zur maximalen Vergrößerung überging. Mittelmäßigkeit war K zuwider. Seinem Wissen konnte auch die maximale Auflösung nichts entgegensetzen. Erleichtert über das Ende seines unwillkommenen Aussetzers, wollte K das Mikroskop beiseite stellen und sich wieder seriösen Aufgaben zuwenden, als er zu seiner Überraschung die Objektive nicht in die Ausgangsposition zurückdrehen konnte. Es verharrte auf der mittleren Stufe. "Schicksal!", durchzuckte es ihn, und er zwang sich ausnahmsweise zu einem weiteren Blick.

Ein Mädel im gelben Bikini sonnte sich auf dem Rosenblatt.

Ungläubig starrte K durch das Okular, wechselte schnell zur maximalen Stufe, doch ließ sie sich nicht mehr aufspüren. Eine Dame auf dem Rosenblatt, unmöglich, stammelte er vor sich hin. Mit zittriger Hand stellte K die mittlere Vergrößerung wieder ein ...

Seelenruhig lag sie da und genoss die Sonnenstrahlen. Ob es ihr bewusst war, dass diese eigentlich von seiner Lampe herrührten? K optimierte nochmals den Höhenfokus, zentrierte sie in die Mitte, beobachtete schweigend weiter, die Wissenschaft vergessend, die diese Begegnung nicht gutheißen konnte.

„Hallo?“, hauchte K ihr zaghaft entgegen.

Aber sie zeigte keine Reaktion. "Wahnsinn, genug davon!", dachte sich K und schlich sich zum Fenster. Immer wenn er intensiv überlegen musste, schaute er aus seinem Büro auf das emsige Treiben der Straßenkreuzung herab. Beobachtete schweigend die unzähligen Autos und Spaziergänger und war froh, nicht Teil davon sein zu müssen. K wollte verstehen, und nicht als Unwissender getrieben werden.

Es musste mit seiner Drogenvergangenheit zusammenhängen. Es war die ihm letzte verbliebene Erklärung, denn in seinen jungen Jahren stillten unzählige Drogenexzesse spezielle Vorstellungen und Sehnsüchte. Leider auch noch während diverser Jahre als etablierter Wissenschaftler, als der Geist über die körperlichen Schwächen siegen musste.

Schmunzelnd begab sich K wieder zum Mikroskop. Seine Halluzinationen stellten bis jetzt kein Forschungsthema dar, aber auch hier galt es, die Leitlinien guter und korrekter wissenschaftlicher Arbeit einzuhalten. Routiniert schaltete er das Auflicht aus und wollte gerade das Ablicht einschalten, als er eine piepsende Stimme vernahm.

„Hey! Wer spielt mit dem Licht? Ich hab das Rosenblatt für eine ganze Stunde gemietet.“

„Ich!“, antworte K forsch, und schaltete schnell wieder das Auflicht ein.

„Wer ist ich, und wo bist du? Ich sehe dich nirgendwo.“

„K, ich heiße Martin K. Und ich schaue dir von hier oben schon die ganze Zeit zu.“

„Aha, du schaust mir also auf meinen Busen ...“

„ … nee Mädel, dein Busen kreuzt meine Sicht … Wie heißt du?“

„Anna. Ich muss jetzt los.“

„Warte! Warum? Du bist doch nur eine Halluzination von mir? Bleib noch ein bisschen hier.“

„Das geht nicht. Wenn man uns sieht, müssen wir das Rosenblatt sofort verlassen. Und eine Halluzination bin ich auch nicht. Merk dir das.“

„Und … und wie kommst du hier weg? Springst du einfach vom Blatt runter, oder fliegst du mit zarten Feenflügeln davon?“

K konnte sein Lachen nicht unterdrücken.

„Nein, ich gehe ganz normal durch die Tür zum Studio zurück. Kannst du sie nicht sehen?“

„Nein, alles hier ist nicht real. Du nicht, unser Gespräch, dieses Studio, es ist nur in meinem Kopf.“

„Okay, ich bin real. Vielleicht treffen wir uns mal auf der Straße. Aber jetzt muss ich wirklich los. Und außerdem, vielleicht solltest du auch mal einfach genießen und nicht zu viel überlegen. Ciao Bello.“

Irritiert suchte K das Rosenblatt nach ihr ab, zweimal zur Sicherheit. Sie blieb verschwunden. Ob sie wohl ahnte, dass er ein älterer Herr war, nur falls sie sich tatsächlich begegnen würden. Natürlich wird dies nie der Fall sein. Zufrieden verpackte er sein altes Mikroskop, um es mit nach Hause zu nehmen. Angenommen, es wäre real gewesen, wie würde er auf das Rosenblatt gelangen. Braucht es mehr Vorstellungskraft oder Glaube an sich? Würde er alleine den Duft der Rose genießen? Was wäre, wenn seine immer noch verschlossene Bürotür ihn heute ins Unbekannte führen würde. Ginge er hindurch?

Entschlossen drehte K den Schlüssel und öffnete seine Tür.

 

Hallo Marai,

vielen Dank, freut mich sehr :).

gut erkannt :thumbsup:! In der Tat hab ich mir dazu ein paar Gedanken gemacht. Das Zitat von Shakespeare kenne ich zwar nicht, aber es trifft den Punkt vollkommen. K erkennt durch seine Arbeit nur noch das Messbare und Nachvollziehbare. Seine Realität wird darüber definiert, was natürlich eine Einschränkung darstellt. Das Bikinimädel zwingt ihn, über den Tellerrand zu schauen. Am Schluss ist es ja auch so, dass K sich fragt, ober seine Bürotür vielleicht für ihn eine Überraschung bereit hält. Zwar glaubt er nicht daran, aber er schließt es auch nicht vollkommen aus. Hier nahm er sich auch schon den letzten Satz oder Ratschlag des Mädels zu Herzen ;).

Zuletzt gibt sie ihm ja dann den Rat: "Vielleicht solltest du auch mal einfach geniessen und nicht zu viel überlegen."

beste Grüße
Kroko

 

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