- Beitritt
- 10.09.2014
- Beiträge
- 1.782
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 32
Vereinszimmer zu vermieten
Unser Logo ist ein Schneckerich. Waschechter Franzose, mit Moustache und der Trikolore zwischen den Fühlern. Der ist, wie es sich für ein Bistro gehört, überall – auf der Eingangstür, auf Tellern und Gläsern. Allerdings sind die Tellerstapel und Gläserbataillone früherer Jahre kleiner geworden.
Da geht mir beim Polieren so manches durch den Kopf. Wieso kriecht mein Leben dahin wie unser Logo? Hätte ich Judith halten können ... Und die neue Partei?
Gerechtigkeit!? Ein Phantom wie Seligkeit – doch wer rechtzeitig Mitglied wird, kann auf einen schönen Posten hoffen. Ich weigere mich, darüber nachzudenken.
Früher gingen wir in unserer Freizeit in die Sauna, fuhren übers Land, an die Seen, und abends dort essen, wo wir noch was lernen konnten, vielleicht noch in eine schicke Disco. Jetzt brüte ich im Büro über genau der Materie, die mir Judith vom Halse hielt. Behördendeutsch und viele Zahlen. Mein Ruhetag wird zum Unruhetag. Ich will etwas von diesem Tag haben, aber ich schaffe es nicht. Zu viele Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen und meine Zeit auffressen. Ich warte auf Handwerker, die nicht kommen, sehe, wie der Tag zerbröselt, werde missmutig und mische mir einen Pastis.
Das soll ein freier Tag sein? Die anderen hauen Freitagmittag ab, genießen das ganze Wochenende, genießen ihr Leben. Was machen die anders, besser als ich? Setzen alles steuerlich ab, sparen durch Profi-Tipps jede Menge Geld, von dem sie ihre Berater locker bezahlen können.
Judith war meine große Liebe. Jedes Jahr Frankreichurlaub, kreuz und quer durchs Land. Wir mochten die Art, wie Franzosen kochen und essen. Trüffelomelette in der Garage von Madame Béziers, Lapin à la Royale im Burgund. Alles haben wir aufgeschnappt, zu Hause ausprobiert, verworfen, verbessert – und es konnte nur in eine Richtung gehen: Wir eröffnen ein Bistro und präsentieren la vraie cuisine bourgeoise! Null Ahnung von Gastronomie, Kalkulation, Lieferantentricks, Steuerrecht, doch als Team unschlagbar. Unser Laden kam in Schwung, wir butterten alles rein, was wir hatten. Waren die letzten Gäste gegangen, nahmen wir uns noch einen Wein und palaverten, bis endlich alles erzählt war. Wir hatten Erfolg, waren zufrieden und stolz, viele Jahre – bis Judith für einige Tage allein wegfahren wollte.
Wir blieben fair, schließlich mussten wir weiterhin zusammenarbeiten. Doch die angespannte Atmosphäre tat weder uns noch dem Geschäft gut.
Der Tag kam, an dem nichts mehr ging. Und mit der Trennung begann die Abwärtsspirale. Judith fehlte überall. Mein Küchenelan ließ nach; Wolfgang, der Koch, war nichts wert ohne Führung. Ich trank zuviel, kam zu spät vom Einkaufen zurück und war schnell auf Hundertachtzig. Gäste blieben weg, ich kam noch mehr ins Trudeln.
Vielleicht waren auch die guten Zeiten für ‚bürgerlich-französisch’ vorbei – die Leute wollten Neues probieren, begeisterten sich für mexikanische Hackfleischbohnen und kalten Reis mit rohem Fisch.
Der ‚Hut’ ist wieder da. Kommt beinahe täglich. Ein magerer Mensch im Jeansanzug, wie er vor Jahrzehnten Mode war – mit Bartzopf, getönter Brille und eben diesem Hut, den er nie absetzt. Tief in die Stirn gezogen, Augenschutz, Blickschutz, vielleicht auch Käseglocke für brillante Gedanken, damit die nicht eigene Wege gehen und ihn allein zurücklassen. Ein Künstler, oder einer, der das von sich glaubt, jedenfalls ein arg verschlossener Typ.
Ich bin ziemlich beredt, doch bei dem spare ich mir die Auflockerungsversuche. Oder wartet er, bis ich ihn anspreche? Damit ich einen Menschen kennenlerne, der es immer schwer hatte im Leben, oder einen mit ‚gesundem Menschenverstand’ und den ‚richtigen’ politischen Ansichten. Brauch ich nicht, hab meine eigenen Probleme. Ein Blick ins Reservierungsbuch sagt mir, dass auch der heutige Abend ein Flop wird.
Mittlerweile hocken ein halbes Dutzend Männer und ein Pärchen an der Theke, zwei Vierertische sind besetzt. Stammgäste, die mir die Treue halten – oder genüsslich zuschauen, wie mein schönes Bistro an die Wand fährt. Greta ruft fröhlich: „Ach Helge, da hätten wir ja gar nicht reservieren müssen!“ „Doch, doch“, sage ich, „so kann ich mich schon Tage vorher auf euch freuen.“
Die Tür fliegt auf, ein robuster Mann mit Bürstenschnitt und Schlips hebt die Hand zum Gruß: „Gestatten, Arnulf Jansen. Vom ‚Forum für gerechte Gesinnung’“. Redet gleich los: „Wenn wir Gerechtigkeit wollen, muss auch jeder was zu trinken haben. Ich schmeiß ’ne Runde!“
Ich zapfe wie beim Oktoberfest, sie reißen mir die Gläser aus der Hand, und er redet schnell. Sie wären alle Sieger, gehörten aufs Podest, auf die oberste Stufe, als Lohn, weil sie nur eingespeist haben ins System – ohne eigene Ansprüche, still und fleißig.
Ich verwerfe die aufkommende Idee, ihn vor die Tür zu setzen. Sein Geld ist so gut wie das anderer Leute.
So schwätzt er ungehindert weiter, gräbt sich einen Tunnel in unsere Ohren: „ Die anderen sind dran, euch zu huldigen. Solch prächtige Menschen seid ihr, schuftet wie die Blöden – und was habt ihr davon? Streift doch den anderen das Joch über, amüsiert euch, macht ’ne schöne Reise, gönnt euch was!“
Mit seiner Partei sei das kein Problem, die würde für Gerechtigkeit sorgen. Es wäre höchste Zeit.
Der mit dem Hut will noch was bestellen, aber das übernimmt Arnulf. „Wie heißt du, Bürger?“
„Manfred Leukers.“
„Ah, willkommen bei uns!“ Er drückt ihm eine Broschüre in die Hand. „Wir sind bald Millionen, und dann kommt keiner an uns vorbei! Was machst du’n beruflich, wenn ich fragen darf?“
„Facility Manager. Momentan sitze ich in der Hartz-Falle.“
„Aber nicht mehr lange! Es wäre toll, wenn du bei uns Mitglied würdest. Jeder tüchtige Mann ist wichtig.“ Er schiebt ihm ein Formular zu. Name – Adresse – Unterschrift. Für die Abbuchung gleich mit. Zu meinem Erstaunen setzt der ‚Hut’ seinen Namen ohne Zögern unter den Vordruck. „Hab schon lange die Schnauze voll“, grummelt er dabei. Arnulf ist begeistert. „Gratuliere zur Mitgliedschaft, Manfred!“ Er fasst ihn am Oberarm und fährt ihm mit der anderen Hand den Rücken hoch und runter, sagt, in fünfundzwanzig Jahren, wenn Deutschland wieder sauber sei, bekäme er das silberne Parteiabzeichen und einen goldenen Kugelschreiber. Alles lacht, Freibier verpflichtet. Jeder sei willkommen, auch der Selbständige. Er schaut mich an.
‚Wohl verrückt geworden!?’, hätte ich beinahe geantwortet. Ich verkneife es mir.
Ist auch gut so, denn er sagt: „Einen schönen Laden hast du hier.“ Er zeigt geradeaus: „Hinter der Harmonikatür – ist das ein Gesellschaftszimmer?“
„Ja“, sage ich, „passen ungefähr vierzig Leute rein.“
„Interessant“, er macht ein bedeutungsvolles Gesicht, „darf ich mal ...?“ Er zieht die Schiebetür ein Stück auf, ohne meine Antwort abzuwarten.
Meine Bedienung kommt. Die erste Stunde mach ich immer alleine, um zu sparen. Seit ihre neue Freundin ihr paar Schminktipps verraten hat, ist wie durch Zauberei aus der grauen Maus eine aparte Frau geworden. „N’Abend allerseits!“, ruft sie aufgeräumt. Ich sage: "N'Abend, Renus!" und mir geht’s gleich besser. Ich mag sie, sie ist immer gut drauf, umsichtig, adrett – was will ich mehr? Doch sie ersetzt Judith in keiner Weise. Die putzte das Lokal selbst, machte das Büro, die Wohnung piccobello, sie war Kellnerin und Barfrau, wie’s gerade kam.
Ich würde den Citroën seltener waschen, wenn ich nicht den Namen meines Ladens in die Köpfe pflanzen wollte, müsste. Oder in Erinnerung rufen. Mit Standlicht parke ich ihn auf Discounter-Parkplätzen. ‚Bistro Chez Hugenin’, mit dem Schnecken-Logo. Auf dem Schneckenhaus sitze ich und halte die Zügel. Das fanden wir damals lustig. Ich ziehe den Schlüssel ab und fahre mit dem Rad zurück. Mache aus Neugierde kleine Umwege, um zu sehen, wie’s bei der Konkurrenz läuft.
Bei ‚Kashmir’ kommt ein Liefermofa zurück, ein anderes startet; das China-Buffet ist rappelvoll, bei deren Preisen kein Wunder, und All-You-Can-Eat-Giant-Pizza füllt sich gerade. Es kommt einfach über mich – dieses Mega-Scheiß-Gefühl aus Wut und Neid, aber auch Ohnmacht und Hass. Die Leute rennen denen die Bude ein, neue Besen kehren gut. Man müsste doch auch fragen, wie viel Gastronomie verträgt eine Stadt. Einer gräbt dem anderen das Wasser ab.
Wir haben Feierabend – meine schlimme Stunde. Eben noch konzentriert auf Service, Küche, Weinkeller, Kühlhaus, Gästetoiletten, Theke und Small-Talk mit der verehrten Kundschaft, kommt jetzt die Leere. Renus geht nach Hause, ich geh in die Mansarde.
Sie wischt noch mal über den Tresen. „Chef“, sagt sie, „ich bin so weit.“ Sie sagt oft Chef, aber wir sind per du. Ich hole den Kassenschlüssel, drücke ab und zähle nach. Stimmt, ich steck’s in meine Brusttasche. Renus schaut interessiert zu. “Ich zieh jetzt um die Häuser, ist alles rein netto“, sage ich. „Pacht, Steuern, Lieferanten, du, der Koch – das alles zahlt der Weihnachtsmann.“
„Bist heute wieder bezaubernd, so mag ich dich am liebsten. Übrigens – wie geht’s der Ex?“
„Oh Mann, die hab ich noch gar nicht drin in der Kalkulation. Da werd ich statt um die Häuser wohl allein nach oben gehen müssen.“ Ich hasse diese Bude unterm Giebel, scheiß Altstadt.
Fast höre ich nicht mehr, dass Renus sagt: „Nicht unbedingt, der neue Portugieser ist doch ganz ordentlich.“ Ich schnelle herum, hat sie’s doch als Frage verstanden! „Mensch Renus, vamonos!“, sage ich. Vierhändig bedienen wir die Lichtschalter, schlagartig ist es stockdunkel im Etablissement.
Wir machen zu wenig Umsatz, unbezahlte Rechnungen häufen sich. Muss zum Finanzamt, Stundung beantragen.
Am Eingang ruft jemand meinen Namen. Der Mann vom Gerechtigkeitsforum.
Ja, er habe durchaus Interesse an einem Mietvertrag, die Größe würde passen. Allerdings hätte das ‚Deutsche Eck’ auch ein leerstehendes Vereinszimmer, zumal der Wirt schon Parteimitglied sei.
Ah, verstehe.
Er bemerkt meine aufkommende Verstimmung und macht auf versöhnlich: „Ist doch ein ganz korrekter Deal: Du unterschreibst bei mir und ich bei dir.“
Recht hat er. Und er ist im Vorteil.
Denke ich an meine unbesetzten Tische, könnte ich in ihm den vom Universum geschickten Retter sehen. Zur Saalmiete kommt ja noch der Verzehr der Leute. Mich erfasst eine zunehmende Unruhe: Ist diese neue Partei meine Chance, vielleicht die einzige und letzte? Immer wieder kommt mir der Gedanke, dabei fehlt mir eine klare Vorstellung, auf welche Weise die mir nützen könnte.
Ich hab die Broschüre gelesen, zum großen Teil. Ja, es muss sich was ändern, auch in meiner Branche. Bald haben wir eine Multi-Kulti-Gastronomie, bei der die Ausländer die Einheimischen abkassieren. Und ich höre auch oft, die seien so freundlich zu ihren Gästen. Als ob ich und Judith, oder Renus, das nicht wären. Vielleicht soll ich noch einen Grüß-August anstellen?
In Groß-Heerschen gibt’s jetzt ein eritreïsches, in Millhausen ein Sri Lankisches Restaurant, und ein libanesisches von diesem Falafel-Clan. Aus vielen Döner-Buden sind kleine Restaurants geworden – und unsereiner bleibt auf seinen teuren Produkten sitzen, bald kann ich meine Kalbsfilets, Wachteln und Jakobsmuscheln für Renus und mich braten – exclusiv.
Oft könnte ich alles hinschmeißen. Die Arbeit macht mir nichts, aber es muss sich lohnen. Zwar kann ich noch davon leben, doch es wird ständig weniger. Ich sehe ein unscharfes Bild von mir, tadellos gekleidet, ohne Schweißgeruch, ohne Zeitdruck, inmitten der anderen, für nichts verantwortlich, abends frei, Wochenende frei. Den Rest der Broschüre hab ich auch noch gelesen.
Das macht nachdenklich, die Zukunft sieht nicht gut aus für unser Land. Man sollte sich tatsächlich engagieren, bevor es zu spät ist. Ich hab Arnulfs Gequassel noch im Ohr, von schnellen Aufstiegschancen. Es gibt ein Seminar für Führungskräfte – ich muss das mit Renus besprechen.
Ich wage es nach Feierabend. „Hör mal“, sage ich, „dieses Forum geht mir nicht mehr aus dem Kopf. – haben die jetzt Recht oder wie? Was hältst du davon?“
„Och“, sagt Renus, „mit Politik hab ich’s nicht so. Meine Tochter ist mir wichtiger.“
„Ja, aber die muss doch auch in Zukunft klar kommen? Wenn immer mehr von Afrika und Gott weiß woher zu uns strömen – wie soll das denn ausgehen? Mit Hauen und Stechen? Ich glaube nämlich nicht, dass sich alle lieb haben.“
„Ach Helge, dazu kann ich nichts sagen, könn’ wir nicht das Thema wechseln?“
Ich bin klug genug, ihre Forderung sogar überzuerfüllen, indem ich gar nichts mehr sage.
Wir duschen, und als unser Atmen immer schneller, dann zum Keuchen wird, spielt Politik eh keine Rolle mehr.
Beim Kaffee erfahre ich, dass sich Renus durchaus Gedanken über unsere Zukunft macht. Sie empfindet die Situation wie ich. Und sie teilt meine Entscheidung.
Wenn Greta und Freunde immer seltener kommen, hab ich keine Wahl. Bevor mich Existenzangst und nachlassendes Selbstvertrauen um den Schlaf bringen, denke ich ‚Augen zu und durch!’. Ich will überleben, Arnulfs Nummer hab ich.
Die Gerechten tagen heute das erste Mal bei uns, fast dreißig Leute. Die meisten wollen auch essen, ich habe ein paar preiswerte Sachen an die Tafel geschrieben. Wolfgang rotiert, Renus flitzt und ich springe dort ein, wo’s brennt. So kriege ich nicht nur das Fluchen in der Küche mit, sondern auch, was die Partei zu sagen hat:
‚Ein Schwarzer kann nie deutscher Staatsbürger werden – da kann er noch so gut deutsch sprechen.’ „Zweimal Rindfleisch mit Rübenstampf, bitte sehr.“ ‚Zuwandererfrauen sollten nach dem dritten Kind sterilisiert werden.’ „Linsen mit Blutwurst und Äpfeln für Sie, bitte schön.“ ‚Wohnraum und Jobs vorrangig für Deutsche’. Die Redner kommen in Rage: ‚Die deutsche Volksgemeinschaft leidet unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten, welche dem deutschen Volk das Fleisch von den Knochen fressen.’ Fast hätte ich der toupierten Dame die Tomatensuppe ins Dekolleté gegossen. ‚Wir sollten eine neue Mauer bauen!’ Einige schreien: „Und Lager!“ Die Stimmung wird unangenehm, statt gesprochen wird gebrüllt, getrampelt und gepfiffen.
Nach der Versammlung steht Arnulf an der Theke. Ich rechne seinen Deckel ab und lege den Bon vor ihn hin. Er sagt: “Halte mal!“ und gibt seinen Aktenordner dem ‚Hut’, um die Hände für die Brieftasche frei zu bekommen. „Das Essen war gut“, meint er.
„Besten Dank“, erwidere ich, „was die Karte verspricht, muss sie auch halten. Nur hat mir eure Broschüre anderes versprochen als das, was ich gerade gehört habe.“
„Emotionen“, sagt er, „nur Emotionen. Bei einigen gehen beim Referieren halt die Pferde durch.“
„Die hat aber keiner zur Ordnung gerufen. Ganz im Gegenteil – das kam sehr gut an. Stürmischer Applaus hat ja eine klare Aussage.“
„Ach, das war nur Höflichkeit.“
„Also kriegen wir bald höfliche Lager?“ Ich lege meinen Mitgliedsausweis neben den Kassenbon. „Ohne mich.“
Er schaut mich überrascht an: „Kein Problem. Hoffentlich weißt du, was du tust.“ In der Tür bleibt er stehen: „Der vom ‚Deutschen Eck’ wird sich freuen.“