Mitglied
- Beitritt
- 03.05.2017
- Beiträge
- 79
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Veilchengelb
„Es wird Winter“, stellte ich fest und wickelte meine Jacke enger um mich herum.
Steffen sah mich an. „Wie meinst du das?“
Es war ein lauer Frühlingsabend, fast schon Sommer. Überall in der Stadt blühte es und die meisten Menschen – er auch – waren im T-Shirt unterwegs. Ich schwieg. Versuchte, in meinem Gehirn mein Empfinden in für ihn verständliche Worte zu verpacken. Bevor ich damit Erfolg hatte, hakte Steffen bereits ungeduldig nach.
„Vielleicht ist dir einfach nicht gut. Du frierst ja sogar."
„Das ist es nicht“, entgegnete ich trotzig. Er sah mich erwartungsvoll an, dabei hätte er sich einfach nur noch einen Moment länger gedulden müssen. „Ich glaube, es hängt mit den Sternen zusammen.“
Skeptisch richtete er seinen Blick in den Himmel. „Was soll mit den Sternen sein?“
„Nichts, das ist es ja: Wann hast du zum letzten Mal die Sterne gesehen? Die Sonne hat sich auch schon lang nicht mehr blicken lassen.“
Steffen zuckte mit den Schultern. „Es ist ja aber auch nicht direkt dunkel.“
„Findest du denn, dass ein Himmel so aussehen sollte? Rein von der Logik her, meine ich.“
„Naja, er ist halt bewölkt. Schon recht lange, das stimmt, aber deswegen gleich zu vermuten, dass es um diese Zeit im Jahr Winter wird, ist doch Blödsinn! Hier, sieh mal: Die Blumen blühen doch und sehen gesund und prächtig aus.“
„Plastik“, erklärte ich.
„Hä?“, machte er.
„Ja, sie riechen gar nicht.“
„Plastikblumen. Hier überall – wie soll das gehen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Es geht halt.“
Er atmete mehrmals tief durch die Nase ein und aus, um die Luft zu riechen. Dann gab er auf und hob erneut die Schultern. „Ich weiß nicht.“
Ich lief zu einem Blumenbeet und riss ein Veilchen heraus.
„Was zum Teufel machst du denn da?“
„Da, Plastik!“ Triumphierend – weil ich Recht hatte, nicht weil ich mich darüber freute – zog und zerrte ich vor seiner Nase an den Blüten. Sie waren zäh.
„Ach!“ Er nahm mir die Blume aus der Hand und warf sie weg.
„Und du findest es auch nicht stickig?“
„Ich bin Allergiker, für mich ist es im Frühling immer stickig.“
„Aber es ist anders“, murmelte ich. Wieso merkte er das alles nicht? Die Luft war bleischwer in meinen Lungen und jeder Atemzug war eine Welle dumpfen Schwindels, die über mich hinwegrollte.
„Anders stickig?“
Ich ignorierte ihn. „Wir sollten aufs Land fahren.“
„So spät noch?“
Wie spät? War es überhaupt schon Abend? Ich sah mich um, aber nirgendwo konnte ich eine Uhr entdecken. Der Himmel half mir auch nicht weiter, er war gelb. Nicht dunkel, nicht hell, nein: einfach gelb.
Auf der anderen Straßenseite liefen Menschen vorbei, die sich daran nicht zu stören schienen. Sie lachten. Die Männer trugen Shorts und T-Shirts, die Frauen sogar Sommerkleider. Dabei war es wirklich nicht warm.
„Was meinst du, wohin sie gerade unterwegs sind?“, fragte ich und nickte in Richtung der fröhlichen Gruppe.
„Woher soll ich das wissen?“
„Na du meinst ja, dass es schon spät ist. Also: Sind sie zum Abendessen unterwegs oder zu einer Party? Kommen sie vielleicht gerade vom Kaffee trinken? Wenn du mich fragst, könnten sie genauso gut zum Brunchen gehen.“
„Worauf willst du hinaus?“, seufzte Steffen.
„Was glaubst du, welche Tageszeit wir haben?“, fragte ich, diesmal so, dass er nicht ausweichen konnte. Er änderte seine Taktik und übte sich in Schweigen, während ich mich fragte, ob er endlich einsah. Ob er verstand, was ich ihm mitzuteilen versuchte.
Am Ende der Straße segelte die erste Schneeflocke an meinem Gesicht vorbei und ich zertrat sie mit meinem Schuh.
Dann kam noch eine. Und noch eine. Und noch viele mehr. So viele, dass sie bald nicht mehr auf Steffens dünnem T-Shirt-Stoff schmolzen und einsickerten, sondern als flauschige Kristalle seine Schultern bedeckten. Ich kuschelte mich in meine Strickjacke und sah vorsichtig zu Steffen auf, dessen fassungsloser Blick in den Himmel gerichtet war. Er blinzelte die Flocken weg, die sich in seinen Wimpern verfingen. Starrte weiter ins Gelb des Himmels, als ob er dort des Rätsels Lösung vermutete.
Ich machte einen Schritt nach vorn und zog an seinem Handgelenk, um ihn aus seiner Paralyse zu holen. Nur mit Mühe schaffte er es, seinen Blick auf den Gehweg zu lenken, der inzwischen wie mit Puderzucker überzogen war. Zunächst noch ungelenk und vorsichtig, vergaßen wir bald das geringe Profil unter unseren Sommerschuhen und rannten die verschneiten Straßen entlang bis zu seiner Wohnung.
Der dünne Balken im Thermometer sank so schnell, dass man ihm dabei zuschauen konnte. Ich dachte an die Plastikblumen, die nun unter der immer dicker werdenden Schneedecke zu Boden gedrückt wurden. Dachte daran, dass diese Decke nicht weiß war, wie sie eigentlich zu sein hatte, sondern gelb. Gelb wie der Himmel über ihr und die Veilchen darunter. Gelb wie das Sommerkleid, das eine der Frauen aus der fröhlichen Gruppe getragen hatte. Ich hoffte für sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, wo auch immer sie um diese Uhrzeit hinwollten.
Neben mir sah Steffen wieder starren Blicks in den Himmel, seine Winterjacke eng um den Körper gezogen.
„Es wird Winter“, gab er endlich zu.