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Vêtue de ta couleur qui est vie
Der Himmel ist gelb wie der Sand auf dem Platz, gelb wie der gebrochene Putz drüben an den Fassadenwänden. Ich sitze auf der Mauer, die Stofftasche unter den Arm geklemmt, das Buch zugeklappt auf den Knien, den Daumen zwischen den Seiten. Zu Hause werde ich sagen, dass es hier, wenn der Sand die Luft gelb macht, nach Mörtel riecht wie auf der Baustelle. Das stimmt nicht, aber es gefällt mir, deswegen will ich das so sagen.
Ein Junge steht in den Arkaden. Er schiebt seinen Rücken an der Wand des früheren Gouverneurspalasts entlang, unschlüssig, so sieht es aus, dann löst er sich und geht auf mich zu. Ich lächle nicht, nicke ihm nicht zu. Er kommt trotzdem näher.
Mit ausgestrecktem Arm hält er mir etwas hin, entschlossen, auffordernd, in der Bewegung so ruckartig, dass ich zurückfahre. Es ist eine Miniaturmaske mit großen Augen und spitzem Kinn. Ein Schlüsselanhänger. Ich warte, dass der Junge sagt, was er will. Er hält mir nur weiter den Arm hin.
„Und jetzt?“, frage ich.
„Sechstausend“, sagt er.
Ich schüttele nicht einmal den Kopf.
„Fünftausend“, sagt der Junge mit ausgestrecktem Arm.
„Blödsinn.“
„Viertausend.“
„Ich bin keine Touristin“, sage ich. „Ich bin von hier. Mein Vater ist von hier.“
„Dreifünf. Für deinen Vater.“
„Ich bin keine Touristin. Mich interessiert das Zeug nicht.“
Er setzt sich, nicht neben mich auf die Mauer, sondern vor mich hin auf den Sandboden. Er dreht die Schlüsselanhängermaske zwischen den Fingern.
Fred muss bald zurück sein. Wir haben verabredet, dass ich hier warte, so lange werde ich den Jungen wohl ertragen können.
„Was liest du?“, fragt er.
„Senghor.“
Er beugt sich vor, langt herüber zum Buch und zieht so selbstverständlich und so leicht daran, als würde er erwarten, dass ich es ihm überlasse, damit er reinschauen kann. Ich halte es jedoch mit beiden Händen fest. Er soll nicht glauben, dass wir Freundschaft schließen.
„Wovon handelt das, dein Buch da?“
„Es handelt davon, dass du nicht hier rumsitzen und betteln sollst.“
Er schaut auf den Boden zwischen seinen Füßen, dann in mein Gesicht und grinst. „Ich bettle nicht. Ich bin Verkäufer.“
Wir sitzen uns gegenüber. Er malt mit dem spitzen Kinn seiner Schlüsselanhängermaske verschlungene Bahnen in den Sand.
„Du machst Kratzer in das Teil, du scheuerst den Lack ab, dann kauft es eh keiner mehr“, sage ich.
„Willst du’s nicht haben für Dreitausendfünf?“
Ich lache ihn aus. „Jetzt wo du es kaputt gemacht hast.“
„Dreitausend?“
„Ich will den Schrott nicht. Das ist nutzloses Zeug. Das ist für Touristen.“
„Für deinen Vater vielleicht? Eine echte vielleicht? Mein Onkel hat welche. Die sind nicht für Touristen. Er hat richtig große, so --“ er zeigt die Höhe meiner Knie an, „oder noch größer. Mein Onkel hat so welche.“
„Mein Vater ist tot“, sage ich. Und das stimmt ja nicht, aber ganz falsch ist es auch nicht.
In meinem Stoffbeutel krame ich nach der Brieftasche und halte sie ihm aufgeklappt hin. „Schau, das ist er. Das ist Benoit. Mein Vater.“
Der Junge reckt den Hals. Er hockt auf den Fersen vor dem Bild und schiebt mit den Händen Staub über seine Zehen.
In der Brieftasche steckt noch ein anderes Bild. „Dein Mann?“, fragt er.
Ich muss lachen. „So alt? Nein“, sage ich, „Papa, mein Papa. Das ist jetzt mein Papa.“ Ich tippe mit dem Finger auf das Bild. „Verstehe,“ sagt er. „Stiefvater.“
„Hm“, sag ich zweifelnd, „Stiefvater. Nee, für mich ist das mein Papa.“
„Woher kommst du“, fragt der Junge. „Amerika? Frankreich?“ Er fragt mich nach Geschwistern, aber nicht, ob ich ein Kind habe. Ich bilde mir ein, er könnte mich für zu jung halten. Dabei habe ich früher lange gefunden, man müsse Kinder mit unter Dreißig bekommen, weil man danach abstumpft und das alles nicht mehr voll fühlen kann, und wenn ich davon ausgehe, dann wird es sogar ziemlich knapp.
„Ich kann dich über die Insel führen. Ich weiß alles über die Geschichte.“
„Das ist sehr lieb“, sage ich, „ich hab aber schon einen Guide.“
Der Junge malt mit seinem Schlüsselanhänger Kreise in den Staub um seine Füße. „Gibst du mir Geld für Milchpulver? Ich brauch das. Für meine kleine Schwester. Gibst du mir Geld, dann kann ich das für sie kaufen.“ Er zeigt auf den Stoffbeutel, in den ich meine leere Brieftasche gesteckt habe.
Für Milchpulver nicht gern, ich mag die großen Konzerne nicht. Warum trinkt das Baby nicht an der Brust? Trotzdem frage ich: „Wie viel?“
„6500, die kleine Packung. In der Apotheke.“
Die kleine Packung, soso, die kleine also. Der Schlawiner. Ich werd ihn nicht fragen, was die große kostet. In der Hosentasche habe ich lose Geldscheine, damit ich nicht ständig den Geldgurt aufmachen muss, die hässliche Fummelei vor aller Augen. Ich zeige ihm einen Zehntausender. „Schau“, sage ich. „Kleiner hab ich das nicht.“
„Das ist mehr“, sagt er.
„Ja.“ Ich behalte den Schein in der Hand. „So viel kann ich dir eigentlich nicht geben. Hast du Wechselgeld?“
Er hat keins.
„Das ist zu viel, der Schein“, sage ich.
Er nickt und malt Kreise in den Sand.
„Wie weit weg ist deine Apotheke?“
Er schaut auf und zeigt mit der Hand. „Gleich dahinten. Ganz nah.“
Ich folge seinem Blick und versuche, gemeinsam mit dem Jungen unter den Arkaden durchzulinsen, sehe aber nur den Sand am Boden und dahinter Mauern ohne klare Konturen.
„Also: Du kriegst den Schein. Du kaufst die kleine Packung. Dann kommst du wieder hierher und bringst mir das Restgeld.“
Er nickt.
„Wann bist du wieder hier?“
„Fünf Minuten.“
Ich halte den Schein mit beiden Händen fest. „Denk dran, wenn du mir den Rest nicht zurückgibst, mache ich das nie wieder. Ich gebe nie wieder jemandem so einen Schein. Wenn mich jemals wieder ein Kind um irgendetwas fragt, gebe ich nichts. Ich vertraue dir, das musst du beachten.“
Der Junge nickt.
Er hat den Schein zwischen den Fingern. Ich lasse noch nicht los, zwinge ihn, mir in die Augen zu schauen. „Ich gebe niemandem mehr was, wenn du mich betrügst.“
Er nickt.
„Du hast eine Verantwortung.“
Der Junge rennt los. Er verschwindet durch den mittleren Arkadenbogen. Ich sehe ihn noch abbiegen.
Ich verwische mit meinen Füßen die Kreise, die der Junge in den Sand gezogen hat. Ob Papa mein Mann ist, hat er gefragt. Am Anfang hatte ich noch ein Bild von Flo in der Brieftasche drin, ich hab es rausgenommen, Fred zuliebe, obwohl er nicht darum gebeten hat.
„Bu!“, ruft jemand von der Seite her ganz aus der Nähe. Ich erschrecke über die Frechheit des Jungen, aber dann weiß ich im selben Augenblick, dass es Fred ist. Er trägt eine Plastiktüte mit einer Kokosnuss, aus der zwei Strohhalme herausschauen.
„Gerade denke ich darüber nach,“ sage ich zu Fred, „vielleicht laufe ich hier Verwandten über den Weg und habe keine Ahnung.“
„Wir beide sind verwandt“, sagt er, nimmt meine Hand, drückt sie gegen seine Brust, während er ein Knie bis zum Boden beugt, und macht ein Operettengesicht. „In der Seele.“
Er richtet sich auf und zieht mich von der Mauer hoch. Einen Moment lang meine ich, ich müsste noch auf den Jungen warten. Wozu? Er wird nicht zurückkommen. Es ist so oder so besser, wenn wir gehen, Fred soll nicht mitbekommen, dass ich jemandem was gegeben habe. „Gib denen nichts“, sagt er, wenn die Kinder mir nachrufen oder an meinem Ärmel ziehen. Er sagt es nicht als eine Aufforderung, sondern in beiläufiger Bestimmtheit, als ginge er davon aus, dass ich seine Meinung von selbst schon teile. Als könnte man das gar nicht anders sehen. Als würde sich an dieser Frage unbedingt entscheiden, ob sich das Gute in der Welt vermehrt oder vermindert, siegt oder untergeht. Dabei ist es egal. Gebe ich was, ist es egal, gebe ich nichts, ist es auch egal. Es tut nichts zur Sache. Ein Problem ist es nur für Leute, die ihren Stolz verletzt sehen, wenn sie betrogen werden.
Wir gehen. Ich will es gar nicht wissen, ob der Junge mir das Geld vielleicht doch zurückbringt. Das kann er mit sich selbst ausmachen. Mit mir hat das schon nichts mehr zu tun.
Ich lege meinen Arm um Freds Hüfte.
„Nur noch eine Woche“, sagt er und zieht mich fester an sich.
„Jetzt ist jetzt. Jetzt bin ich hier“, sage ich, „und ich bin bei dir.“
Ich bin hier zu Hause. Ich gehöre hierher. Ich bin eine von hier. Das habe ich Fred zu verdanken, noch mehr als meinem Vater.
„Ich weiß, dass du von hier bist“, sagt Fred. „Ich spür das. Wie du läufst, wie du sprichst. Die andern sehn das nicht, aber ich sehe das. Ich hätte dich unter hunderten herausgefunden.“ Dann wieder das Operettengesicht, das in seiner Überzogenheit diesen Schmalz erst erträglich macht.
„Fred“, sage ich, „Frédérick. Du bist ein Schleimer.“ Ich schiebe die Hand in den Hosenbund und taste nach dem Muttermal über dem Beckenknochen. Und irgendwo fühle ich, dass er trotzdem recht hat, wenn er diese Dinge sagt. Fred mit seiner Trainingshose, unter der er nichts trägt.
Ich will nicht über Flo nachdenken, den ich zu Hause zurückgelassen habe und von dem ich kein Bild mehr in mir habe. Ich habe es verloren, indem ich den Boden hier betreten habe. Ich stelle ihn in der Erinnerung vor mich hin, aber da ist nichts, ich schaue durch ihn hindurch. Er hat braune Augen, keinen Bart, glatte Haare, das kann ich aufsagen, weil ich es weiß, aber ich sehe es nicht vor mir. Dabei telefonieren wir fast täglich miteinander und sagen uns nette Dinge, wie es mir geht, will er dann wissen, ob die Reise mir gut tut. Anfangs hab ich darauf gewartet, dass er mich fragt, ob ich mit anderen Männern schlafe. Aber das hat er nicht getan. Ich würde nein sagen. Es hätte ohnehin falsch geklungen, auch anfangs, als es noch stimmte.
„Warum gehst du nicht nach Kanada?, hat Flo zu Hause gefragt. Benoit ist doch Kanadier.“ Guter Witz. Er hing in seinem zurückgekippten Stuhl, drückte den Hinterkopf gegen die Dachschräge und spielte mit der Balance. Er wippte sanft vor und zurück, indem er den Kopf bewegte, die Hände zusammengefaltet auf dem Bauch. „Ceci n’est pas une pipe“ stand auf seinem Shirt, und dazu ein Foto von Duchamps Pissoir. Vor ein paar Jahren fanden wir das ungeheuer lustig. Dieses T-Shirt für Eingeweihte, haha.
„Was wär denn besser an Kanada?“
„Wär nicht besser. Ich versteh’s halt nur nicht.“
Er hat nie infrage gestellt, dass Benoit mein Vater ist. Du siehst gar nicht so aus – das hat er nie gesagt. „Ich hab mal so zwei gekannt“, hat er gesagt, als ich ihm die Geschichte erzählt habe. „Der Junge sah total dunkel aus und das Mädchen total hell. So richtig. Dabei waren das Zwillinge. Das gibt’s.“
Also, habe ich ihm gesagt. Ich muss einfach dahin.
Er fand das seltsam: Warum ich nicht Benoit aufspüre, sondern ihn in einem Land suche, aus dem – „Womöglich!“ - seine Vorfahren kamen. „Warum nicht Angola?“, hat er gefragt. „Warum nicht Kamerun? Ich meine, du kannst da hin, aber warum ausgerechnet da?“ Er versteht das nicht. Natürlich trete ich dort in die Spuren, wo die Ahnen den Heimatboden hinter sich gelassen haben. Ich musste das Tor sehen, durch das sie auf die Schiffe geschleppt worden sind, um ihr Land nicht wiederzusehen.
Er sagte: o. k.
Aber dann, am Abend, hat er trotzdem die Faust auf den Tisch geschlagen.
„Hast du Angst, dass es mit uns vorbei ist, wenn ich ein paar Wochen weg bin?“, habe ich ihn gefragt. Er hat mit den Schultern gezuckt. Sechs Wochen sind lang, hat er gesagt.
„Wenn es mit uns vorbei ist, nur weil ich ein paar Wochen weg gewesen bin, dann war es schon jetzt vorbei. Wenn du anfängst, auf mich aufpassen zu müssen, ist es eh zu spät.“
Erst hat er gesagt, das stimmt. Dann hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen und dabei sein Weinglas zertrümmert. Aber auf die Idee, dass er mich begleiten könnte, ist er nicht gekommen.
Das war nicht meine Absicht, diese Sache mit Fred, ich hab es nicht darauf angelegt. Es ist so gekommen, und erst als es schon passiert war, habe ich gespürt, dass ich das Richtige tue. Ich habe erwartet, dass ich mich schäme, dass ich morgens aufwache und mich schäme, aber da war nur das Gefühl, dass es so richtig ist und so sein soll.
„Durch dich bin ich von hier“, sage ich. Das meine ich auch so. Die Verbindung mit Fred hat mich hier verwurzelt. Fred hat in mir Wurzeln geschlagen, dadurch bin ich mit dieser Erde verwachsen. Das ist kein Selbstzweck, das ist kein Reiseflirt. Wir stehen in einer rituellen Beziehung, das muss auch Flo verstehen, wenn es darauf ankommen sollte.
Ich nehme Flo ja nichts. Wenn ich zurückkomme, habe ich Fred vor ihm gehabt, wie ich andere vor ihm gehabt habe, das ist alles.
„Manche kommen doch zurück“, sagt Fred. Er kniet auf dem Boden vor seiner Gazelle, setzt an und lässt den Kronkorken aufploppen, so dass er durch die Luft schnellt, hält die Flasche weiterhin fest und trinkt nicht, sondern schaut direkt von oben hinein, ein Auge zugekniffen. Er atmet tief ein, das ist noch kein Seufzen, aber schon gut hörbar. Er sieht gekonnt nachdenklich aus, der Schauspieler. Ich bin drauf und dran ihn zu fragen, ob er den Flaschengeist sucht. Er schiebt die Unterlippe vor. Dann schaut er doch zu mir hoch.
„Willst du nicht bleiben?“, fragt er.
„Nein“, sage ich. Das würde zerstören, was zwischen uns ist. Ich strecke die Hand nach ihm aus. „Das Band zwischen uns ist ewig, weißt du, aber wir können uns nur kurz berühren, das muss so sein.“ Und es ist so. Das hat mit Flo nichts zu tun, es liegt daran, dass magische Begegnungen im Moment bestehen.
Es hat auch nichts mit dem Kind zu tun. Ich gehe nicht wegen dem Kind zurück. Ich kann aber auch nicht wegen ihm bleiben. Fred hat nie gefragt, ob ich verhüte. Vielleicht nimmt er es an. Wenn es ihm nicht egal ist, hätte er ja fragen können. Das Kind kann ihm jedenfalls nicht fehlen, wenn er nichts davon weiß.
„Fred“, sage ich, „ich lasse dir mein übriges Bargeld da. Was soll ich zu Hause mit eurem Geld. Die Dollars auch. Was soll ich mit Dollars, die sind bei uns nichts wert. Ich lass dir alles da.“
„Nein“, sagt er. „Das ist nicht so was zwischen uns.“
„Fred“, sage ich, „was soll ich damit. Ich habe vorhin einem Jungen was gegeben, ich weiß nicht wohin mit dem ganzen Papier.“
Er schüttelt den Kopf und schaut mich streng an.
„Der Junge hat nicht gebettelt, er wollte mir was verkaufen.“
Ich werde Fred trotzdem mein Geld geben.
Es wird einfach Flos Kind sein, wenn er will.