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Unter Laborbedingungen
Die Julisonne strahlte auf die blinden Fenster und ließ das Quecksilber im chemischen Institut auf sechsundzwanzig Grad steigen. Trotz gekippter Oberlichter hing ein Geruch in der Luft, der Andrea Bilder von verschimmelten Nüssen und Kirschen aufdrängte. Der Stopfen sprang mit einem Plopp von der Essigsäureflasche. Sie streckte sich nach dem Regal und setzte ihn wieder auf. Mit der Knopfleiste ihres weißen Kittels verhedderte sie sich am Griff der Schublade, musste zurück auf die Zehenspitzen, um sich zu befreien. Das lädierte Radio auf dem Fensterbrett spielte Roxette. Daneben lagen tote Käfer. Heute Nachmittag war sie mit den Jungs allein.
Eine Reihe weiter dröhnte ein Schlag, Glas zersplitterte auf der Laborbank.
"Scheiße", brüllte Ralf, "das war die letzte Stufe!"
Stefan schlug sich auf die Schenkel. "Alter, kratz das Zeugs vom Boden!" Die Scheibe des Abzugs schien vom Gelächter zu vibrieren. "Geile Ausbeute!"
Andrea senkte den Blick und zählte im Geiste ihre Atemzüge, bis die für effizientes Arbeiten erforderliche Ruhe wieder einkehrte. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was Ralf gerade runtergefallen war. Nicht dass es von Bedeutung wäre. Man befand sich durch Zufall im gleichen Labor und hatte einander nichts zu sagen. Solange man sie unbehelligt ließ, war alles gut.
Aus dem Augenwinkel sah sie Lorenz um die Ecke kommen. Der war ein stiller Typ, arbeitete konzentriert und mit ruhiger Hand. Sein ledernes Notizbuch lugte aus der Kitteltasche. Die hochgeschobenen Ärmel ließen Tattoos erkennen: verschlungene Schriftzeichen und mit etwas Phantasie einen Wolf. Lorenz' Haare waren zum Zopf zusammengebunden.
Er erinnert mich an einen Indianer.
Sie lächelte bei der Vorstellung in sich hinein, ein Mann der Wildnis könne sich ausgerechnet hierher verirren. Lorenz schob sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn und klammerte den Glaskolben mit der hellroten Lösung an den Rotationsverdampfer. Andrea zwang sich, nicht auf seinen Hintern zu starren.
Sie beschriftete die gläsernen Spitzkolben mit Edding und hängte einen nach dem anderen von der Destillationsspinne ab. Zufrieden betrachtete sie das ölige, goldglänzende Produkt. In ihrer Kitteltasche fand Andrea die Emaillespange, damit steckte sie ihr Haar hoch, während sie dem monotonen Summen der Geräte lauschte und Gedanken nachhing: In den Semesterferien mit Linda durch Andalusien trampen und unterm Sternenhimmel zelten - so lautete der Plan.
Erneut knallte der Stopfen von der Flasche, diesmal in hohem Bogen. Lorenz fing ihn in der Luft auf. Wie so oft kniff er dabei ein Auge zusammen; seit sie sich angewöhnt hatte, im Hörsaal schräg hinter ihm zu sitzen, war ihr das an ihm aufgefallen.
Er legte den Stopfen vor ihr auf der Laborbank ab. "Dachte schon, du lässt die Sektkorken knallen. Letztes Präparat und so."
"Mach ich übermorgen, wenn das NMR gut aussieht."
"Klar sieht das gut aus. Die Farbe stimmt. Und die Menge ist auch ordentlich." Er deutete mit dem Kopf auf ihre Laborbank. "Wie viel Grad?"
"Na, ich schätze, sechsundzwanzig sind es heute bestimmt. Morgen soll es noch heißer werden."
"Ich mein dein Produkt."
"Ach so. Einundneunzig."
"Na also. Das ist im grünen Bereich."
"Bin froh, wenn der Herrmann das hier akzeptiert hat. Und wie läufts bei dir?"
"So wie es aussieht, werd ich auch am Mittwoch fertig." Lorenz' Mundwinkel sanken. "Hab mir schon mal alte PC-Klausuren angeschaut: Voll krass, Differentialgleichungen ohne Ende."
Mathe war seine Achillesferse. Aber er sprach ganze Sätze mit ihr und war schwer in Ordnung. Bei der letzten Klausur hatte sie ihn abschreiben lassen.
Andrea deutete mit der Hand hinter ihn. "Oh oh, Achtung, beim Rota, da blinkt was. Der Kolben."
Er sprintete zurück, stierte abwechselnd auf die grüne Betriebsleuchte des Gerätes und auf den Kolben, der sich leise surrend weiterdrehte, und fuhr wieder zu ihr herum. Auf seiner Stirn hatte sich eine Querfalte gebildet.
Sie prustete los.
"Für das da ...", er pausierte und richtete den Zeigefinger auf sie, "gehen wir heute Abend ins 'Chez Matilda'."
Andrea setzte den Stopfen zurück auf die Flasche. "Definiere 'wir'."
"Na, wir zwei. Du und ich."
"Bis halb acht hab ich Volleyball."
"Perfekt. Dann sehen wir uns um halb neun. Weißt du, wo das ist? In der Rosalind-Franklin-Straße, ganz hinten auf der rechten Seite."
"Okay. Ich werd sehen, was sich machen lässt", sagte sie und drehte sich weg, um das Thermometer in die Schublade zu legen und ihr Lächeln zu verbergen.
Als Andrea die Tür ihres Schrankes öffnete, um einen Korkuntersetzer zu holen, spürte sie hinter sich Bewegung. Sie drehte sich langsam, bis Lorenz' Blick sie traf. Seine Iris schaute wie Bernstein aus; er blinzelte mit langen Wimpern. Aus dem Radio tönte 'Listen to your heart'. Ohne nachzudenken, schloss sie die Augen und vertraute darauf, das sei Signal genug. Seine Handflächen legten sich auf ihre Taille, dann presste er seine trockenen Lippen auf ihre Stirn.
Mit einem Mal nahm sie einen Lufthauch wahr. Sie setzte voraus, er müsse von der halb angelehnten Balkontür kommen, und fuhr zusammen, als Ralf neben ihr sagte: "Ich fass es nicht."
Lorenz wandte sich wieder dem Rotationsverdampfer zu. Ralf langte nach der Acetonflasche auf ihrer Laborbank.
"Hey", sagte sie. "Das ist meins. Da brauch ich gleich was von."
"Zick nicht rum. Ist ein Notfall."
"Fünfzig Milliliter." Sie bekam ihn am Ärmel zu fassen. "Nimm mehr und du stirbst."
"Komm, lass es. Aus Aceton kriegst du das nie wieder auskristallisiert", sagte Lorenz. "Hier, ich hab was Besseres." Er hielt seine Ethanolflasche in die Höhe.
Ralf stellte das Aceton zurück und zog ab. Unmerklich neigte Andrea ihren Kopf in Lorenz' Richtung. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Heute Mittag war Andrea mit Linda und Tabea in der Mensa zum Essen verabredet. Der Stundenplan der Pharmazeuten ließ das montags zu. Sie hatten beim Gemüsecouscous angestanden, als Andrea gelbe Flecken am Saum ihres T-Shirts auffielen. Linda trug eine makellose Seidenbluse mit rotem Paisleymuster und Tabea ein silberweißes Häkeltop. Während Andrea nach Besteck und Papierserviette griff, sah sie die Jungs, die am Eingang die Menüs und die Warteschlangen in Augenschein nahmen. Lorenz stellte sich beim Couscous an, Stefan und Ralf zogen weiter zu Currywurst mit Pommes.
Linda winkte Andrea und Tabea zu einem Tisch, der gerade frei wurde. Der Couscous zerfiel trocken wie Stroh in Andreas Mund. Als ihre Volvic-Flasche leer war, schob sie den Teller von sich. Sie lehnte sich zurück, neigte die Schulter nach der Brise, die durch die geöffneten Flügeltüren von der Terrasse hereinwehte, und sah rüber zu den Jungs, die auf einen Tisch ein paar Reihen weiter zusteuerten. Neben Andrea war noch ein Platz frei.
Lorenz, komm. Setz dich zu mir.
Absurde Wunschfantasie, die Wahrscheinlichkeit konvergierte gegen Null. Im Grunde war es egal - sie freute sich auf den Abend.
Er lächelte ihr flüchtig zu, bis Stefan ihm so heftig auf den Rücken schlug, dass er die Balance verlor und der Pappbecher von seinem Tablett kippte.
Mit ihrem French-Fingernagel zeigte Tabea wie mit einem Dolch auf Andrea. "Warum tust du dir ein Studienfach mit diesen Typen an? Wechsle doch zu uns. In der Pharmazie ist es viel netter."
"Mich interessiert aber die Wissenschaft und nicht die Apotheke."
Tabea öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder.
"Sehen wir uns am Freitag auf der Pharmafete?", fragte Andrea.
"Das ist falsch verstandene Emanzipation", sagte Linda zu ihr. "Am Ende kräht kein Hahn mehr danach."
"Du warst auch auf einer Mädchenschule."
"Echt jetzt?", sagte Tabea. "Das wusste ich gar nicht."
Nach dem Cappuccino in der Cafébar war Andrea alleine zurück ins chemische Institut gelaufen. Wenige Jahre trennten sie noch von ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Sie würde ins Ausland gehen, wahrscheinlich in die USA. Neue Wirkstoffe entwickeln, die das Leben von Patienten verbesserten. Ein Teil der Forscher-Community werden.
Linda und Tabea würden nach dem Examen Hustensaft verkaufen und Gesichtscreme mit Rosenduft. Wenn das Jüngste in den Kindergarten kam, würden sie in Teilzeit in die Apotheke zurückkehren. Beide waren intelligente Gesprächspartnerinnen. Brillant waren sie nicht.
Ralf hockte am Boden und versuchte, mit dem Spatel die tiefgrünen Nadelkristalle von den Flusen zu separieren und in eine Schraubdose zu überführen. Glasscherben knirschten unter seinen schwarzen Nikes. Beim Radio hatte sich der Sender verschoben, unter Rauschen und Knistern sang Sinead O'Connor 'Nothing compares to you'. Stefan brummte etwas von AC/DC vor sich hin, bis Ralf ihn anfuhr, er solle endlich sein gottverdammtes Maul halten.
"Leute, regt euch ab", sagte Lorenz. So leise, dass nur Andrea es hören konnte.
Sie räumte ihr Arbeitsmaterial in den Schrank und verschloss ihn. Wann immer sie es unbeaufsichtigt gelassen hatte, war etwas verschwunden oder zu Bruch gegangen. Bei den Pharmazeuten im Neubau ging sie zur Toilette. Andrea sah auf die Uhr, es blieb genug Zeit: Vor dem Training würde sie schnell nach Hause fahren, ihre Lieblingsjeans holen und das schwarze Netzshirt.
Zurück im Laborsaal wischte sie ihren Arbeitsplatz mit Ata. Ralf spülte seine Glasgeräte. Lorenz war nicht zu sehen.
Eine widerspenstige Strähne fiel ihr ins Gesicht, als sie Taschenrechner und Laborjournal zur Seite legte und sich über die Feinwaage beugte, um sie zu tarieren. Durch die halbgeöffnete Glastür drang das Gurren fetter Tauben. Stefan und er rauchten auf dem Balkon. Eine Brise bewegte die braunen Lamellen der Sonnenblende.
"Am Freitag ist Pharmafete", hörte sie Lorenz sagen.
"Was willst du da? Ist doch megalangweilig."
"Die Typen, ja. Aber die Weiber ... Nicht so wie bei uns."
"Ich sag immer: Die haben im Labor nichts zu suchen."
"Ganz genau. Arbeit und Vergnügen sollte man trennen." Lorenz stieß Rauch aus. "Außerdem: Wozu soll das gut sein? Die bekommen ja doch Kinder."
Anstelle des regulären Trainings traten sie heute in der großen Halle gegen Blau-Weiß an.
"Ist nur ein Freundschaftsspiel", rief Trainerin Gerti ihnen mit sich überschlagender Stimme zu und klopfte jeder aus dem Team auf die Schultern. "Macht sie fertig", sagte sie leise und nahm einen Schluck aus dem Flachmann.
Durch Andreas Aufschlagserie erspielten sie einen Vorsprung, mit dem sie den ersten Satz gewannen.
"Jetzt sag schon, was hast du genommen?", raunte Linda ihr beim Seitenwechsel zu.
Andrea hob die Schultern und unterdrückte ein Grinsen. Sie spielte präzise Pässe und schien damit ihr ganzes Team anzustecken. In drei Sätzen fegten sie Blau-Weiß vom Platz. Gerti nahm Andrea überschwänglich in die Arme und ließ gar nicht mehr los. Wiegte sie in einer Wolke aus Kaloderma und Jägermeister, wiegte und wogte sie hin und her, bis Andrea loslachte.
Sie preschte in die Dusche, und als der Wasserstrahl auf ihre überhitzte Kopfhaut prasselte, durchzog ein Kribbeln jede Faser ihres Körpers - sie war hellwach.
Um acht trat sie mit Linda aus der Halle. Die Abendluft wehte lau.
Andrea atmete tief ein, roch Holzkohle und Flieder. "Jetzt einen Kiba ..."
"Kennst du die Luna Bar?", sagte Linda. "Die haben neu aufgemacht. Fünf Minuten von hier."
Andrea breitete die Arme nach oben. "Luna Bar - let's go", rief sie in den Sternenhimmel und begann sich im Kreis zu drehen, erst langsam, dann immer schneller.