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Unter freiem Himmel
Sie ziehen los und queren die Felder, mit zusammengekniffenen Augen, denn die Sonne steht tief. Irene trägt ein blaues Sommerkleid und die Weide, auf die sie sich legen, ist warm. Seine Hand berührt ihren Arm und Irene dreht einen Grashalm zwischen den Fingern.
„Was denkst du?“ Jakob betrachtet den verdorrten Halm in ihrer Hand und schweigt.
Es dämmert. Jakob lässt seine Zunge über Irenes Haut gleiten, er hebt ihren Slip mit den Fingern etwas an, die Zungenspitze tastet und der Geruch ist kräftig und alles ist gut. Noch sind sie ein Paar und was er tut, ist nicht falsch.
Irene zieht Jakob zu sich. Seine Augen haben die Farbe von dunklem Honig, die Iris franst an den Rändern aus, was seinem Blick eine Unbestimmtheit verleiht, die manchmal schwer zu ertragen ist. Wie sehr er sich verändert hat! Wenn sie draussen auf der Terrasse serviert, sieht sie ihn zuweilen mit dem Traktor vorbeifahren und alles an diesem Bild ist falsch. Wenn er den Sonnenwagen lenken würde, ihr stolzer Apoll. Doch er sitzt zusammengekauert auf diesem unförmigen, dunkelgrünen Ding, an dessen Hinterreifen Kuhmist klebt. Seine ganze Existenz ist bleich geworden wie die Tierschädel, die im Hirschen an der Wand hängen.
In der Nähe zirpen Grillen und Jakob erinnert sich, wie er, damals war er sieben oder acht, eine Grille gefangen, in eine Schachtel gesteckt und mit nach Hause genommen hat. Ein paar Tage lang hat er sie gefüttert und sich um sie gekümmert, doch eines Abends alle Luftlöcher zugeklebt. Später fragte ihn seine Mutter, was mit der Grille geschehen sei, und er schwieg, denn die Antwort hätte ihn schuldig gemacht. Wirklich ist nur, was ausgesprochen ist. So hat er damals dumpf empfunden und so denkt er auch jetzt, während er Irene ansieht und ihr eine Strähne aus dem sommersprossigen Gesicht streicht.
Als sie ihm das erste Mal begegnete, sah sie einen kräftigen Jüngling die Beiz betreten. Das war zwei Tage, nachdem sie hierher gezogen war, und ihre Stelle im dunkel getäferten Hirschen angetreten hatte. Er war der einzige im Dorf, der sich anständig bedankte, wenn sie ihm einen Kaffee an den Stammtisch brachte. Als sie sich das erste Mal küssten, war ihr, als würde sie in warmes Wasser tauchen. Nichts schien ihn aus der Ruhe zu bringen, ein Mensch, zufrieden mit sich und der Welt. Nur war seine Welt furchtbar klein.
„Diese Frau ist nicht gut für dich“, sagte sein Vater und dass er den Hirschen nicht mehr betreten werde, bis die Sache vorbei sei. „Setzt dir Flöhe ins Ohr, der fremde Fötzel.“ Da hatte er gewiss Recht. Wunderbar gekitzelt haben die Flöhe, es war aufregend und schön und Irene hat viel erzählt, von grossen Städten und fernen Ländern, davon, wie die Menschen dort seien. Das ist eine ganze Weile her und die Geschichten sind verblasst. Doch Irene zupft und zerrt an seinem Geist. Es habe seinen Sinn, dass sie hierhergekommen sei, denn so habe sie ihn kennengelernt. Ansonsten sei es ein Fehler gewesen. Wenn sie wieder weg ginge, ob er mit ihr käme? Aufbrechen. Die Welt entdecken. Marokko. Amerika. „Wieso nicht?“, sagte er dann, doch ihm wurde schwindlig und seine Hände zitterten. Das ist nicht gut. Bald wird er es ihr sagen. Dass die Liebe austrocknen kann, wie der Bälenteich im Hochsommer. Dass er wieder zur Ruhe kommen muss. Heute aber will er ihr noch einmal nahe sein. Er wird sanft sein und es gut machen.
Seine Stösse sind ungeduldig, es brennt und jetzt, da Jakob in ihr drin ist, ist er so weit weg wie noch nie. Irene legt die Hände in seinen Nacken und atmet ein. Vielleicht wird es ihn beruhigen. Sie ahnt, dass sie, die Fremde, die ins Dorf gekommen ist, Jakobs Unruhe, seine Sehnsucht nach dem Fremden, überhaupt erst entfacht hat. Gemeinsam haben sie geträumt, ja gefiebert. Weg von diesem Ort, wo mächtige Berge als stumme Wärter die Seele umschliessen. Wo der Mensch rau ist und schroff und alles, was ist, so bleiben soll. Weg von hier und in die USA! Oder nach Marokko. Oder wenigstens in die nächste Stadt. Doch ihrem Apoll fehlt die Kraft. Er fühlt sich seinem Vater verpflichtet, dessen Hof er übernehmen soll. Sagt, dass alles nicht so einfach sei. Mittlerweile findet er nicht einmal mehr Worte, um zu sagen, wovon er träumt. Dafür hängen in der engen Kammer, in der er schläft, Bilder von fernen Inseln. Türkis, blau und heller Sand.
Irene hat ihre Hände auf seinen Nacken gelegt. Das ist schön. Jakob küsst ihren Hals, ihre Schultern. Dann gleitet er aus ihr und legt seinen Kopf auf ihre Brust. So könnte er einschlafen. Hier, unter freiem Himmel, könnte er womöglich ein wenig Ruhe finden. Die Ruhe, die er früher empfand, als er Steine in den Ribibach legte, sich ans Ufer setzte und beobachtete, wie sich das gestaute Wasser neue Wege bahnte. Doch das ist eine Illusion. Er hört Irenes Herz laut und lauter pochen, ihr Blut drängt gegen sein Ohr und er spürt ihre Rippen und kann so nicht liegen bleiben. Jakob dreht sich zur Seite und von ihr weg.
Irene schaut den Wolkenschwaden zu, die vor dem Mond vorbeiziehen. Sie wirken ungerührt, die Welt geht sie nichts an. Jakob atmet gleichmässig. Langsam steht Irene auf und streift ihr Kleid über. Wann immer sie hier, weit weg vom Dorf, miteinander geschlafen haben, war dies für sie der Vorgeschmack eines Lebens, das sie führen könnten, wenn Jakob es wollte. Als sie ihn heute fragte, was er denke, und er schwieg, schien noch die Sonne. Jetzt ist sie längst untergegangen, Apoll ist entschwunden und diesmal für immer, dessen ist sie sich sicher.