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Unter den Hammer
Langsam füllte sich das kleine Auktionshaus, das einst selbst ein richtiges Schmuckstück gewesen sein musste. Doch auf der breiten Treppe im Foyer lag kein grober Fischgratläufer mehr. Die angelaufenen Messingstangen klemmten unnütz in den Halterungen der Stufenecken. Und von der wasserfleckigen Decke hing ein defekter Kronleuchter, dessen Glasanhänger müde den Schein der seitlich angebrachten Neonröhren reflektierten.
Anja zog die schwarze Satinweste glatt, richtete ihr Namensschild und begrüßte einige ankommende Besucher. Ein letztes Mal würde sie diesen Irrsinn mitmachen.
Direkt gegenüber der großen, gläsernen Eingangstür stützte sich Christian mit dem Ellenbogen auf den Empfangstresen. Er trug die gleiche Weste. Zwei kichernde Frauen meldeten sich bei ihm für die heutige Versteigerung an. Mit den Bieterkarten in der Hand traten die beiden Freudinnen ein paar Schritte vor Anja durch die geöffnete Doppeltür in den Nebenraum.
Viele Stühle der ersten Reihen waren bereits mit Jacken belegt. Und überall wimmelte es von Schatzsuchern mit einem Bedürfnis nach wohldosiertem Risiko. Profis erkannte man daran, dass sie sich Notizen machten, auf welche Exponate sie später bieten würden. Mit fast wissenschaftlichem Interesse untersuchten sie Taschen und Flugetiketten.
"Sie haben noch gut vierzig Minuten Zeit, die Gepäckstücke in Augenschein zu nehmen, bevor die Auktion startet", sprach Anja die beiden Frauen an, lächelte und ging weiter in Richtung Bergmassiv aus Koffern und Taschen, das seitlich des Rednerpultes auf langen Regalen aufgetürmt worden war. Margret stellte gerade die Thermoskanne ihres Mannes auf die Ablage neben Holzhammer, Mikrofon und Tasse. Unzählige Teeringe im Inneren zeugten von vielen abgehaltenen Versteigerungen. Mit ruhiger Hand legte Margret die goldene Taschenuhr mittig vor das Mikro. Am Rand sah man deutlich die eingravierten Initialen K. F.
Als sie Anjas Blick bemerkte, griff Margret nach der Zuchtperlenkette an ihrem Hals. Ihr Blick flackerte, dann wurde er hart. Sie nahm einen dünnen Hefter und steuerte auf Anja zu.
"Die Nummern an den Koffern müssen kontrolliert und die Beschreibungen aktualisiert werden", wies sie an, noch bevor sie Anja ganz erreicht hatte, drückte ihr die Kopien in die Hand und ließ sie stehen.
Es dauerte nicht lange, bis die Illusion der Altgepäckverwertung Flecken bekam, wie die Teppichstangen am Eingang. Anja dachte an den Tag, als ihre Probezeit überstanden war, dachte daran, wie Richard sie zu sich, Margret und Christian in den Lagerraum rief. Dort wurden in hohen Regalen die Koffer und Taschen bis zur nächsten Auktion aufbewahrt. Doch anstelle einer Mengenkontrolle der an diesem Tag gelieferten Gepäckstücke, fand auf dem großen Tisch eine Bestandsaufname der Kofferinhalte statt. Anja verstand nicht wozu. Das Personal der Fluggesellschaft hatte keine Hinweise zu den Besitzern gefunden, der Zoll die Sachen vorab auf gefährliche und verbotene Gegenstände kontrolliert. Mit einem Pfeifen hielt Margret eine flache samtbezogene Schmuckschatulle hoch. Sie murmelte etwas, öffnete den Verschluss und jauchzte sogleich beim Anblick einer eleganten Perlenkette mit Zirkonia-Verschluss. Anja starrte den mitjubelnden Richard an, der Margret zur Hilfe eilte, um ihr das Fundstück um den Hals zu legen.
Christian schloss geräuschvoll einen Hartschalenkoffer und schimpfte, dass die Leute nur noch Mist dabei hätten.
"Probiere die aus dem linken Regal. Das ist Rückfluggepäck“, ermutigte ihn Margret, während Richard am Verschluss der Kette nestelte. Margrets Blick kreuzte Anjas. "Das ist absolut in Ordnung", beteuerte sie und deutete ein Nicken an. "Die alten Besitzer hatten ihr Zeitfenster. Man konnte sie nicht ausfindig machen."
"So viel geht verloren", meldete sich jetzt Richard zu Wort, nachdem er die Kette endlich schließen konnte. "Das wäre doch ein Jammer!"
Er schüttelte den Kopf. "Ich würd ja auch verreisen, mit meiner Margret. Aber wer soll sich denn um das Geschäft kümmern?"
Er drehte sich von Anja weg, zurück zum Tisch und öffnete den Schnappverschluss eines glänzenden Trolleys.
"Aber es heißt, dass die Koffer und Taschen ungeöffnet zur Versteigerung gehen. Das ist Betrug!", wies Anja auf das Offensichtliche hin. Ihr Magen verkrampfte sich.
"Ach, papperlapapp. Die Koffer sind schließlich nicht leer, wenn wir sie präsentieren. Und den meisten Bietern geht es sowieso um den Nervenkitzel."
Christian deutete auf den Trolley. "Liebe Anja, da drin könnte dein neuer Läppi sein." Er wackelte mit den Augenbrauen. "Wenn, drück die Daumen, dass kein Passwort drauf liegt."
Anja schüttelte den Kopf. "Ich ..., ich brauch nichts."
Eilig steuerte Anja auf den Anmeldetresen zu, wedelte geschäftig mit dem Hefter und bedeutete Christian, den Stuhl zu räumen. Er widersprach ihr nicht. Als er in den Auktionssaal nebenan verschwunden war, atmete Anja tief durch und begann die Beschreibungen abzuändern.
Etwa zehn Minuten später, Anja nahm gerade die überarbeiteten Seiten aus dem Drucker, klackerte Margret mit den Fingernägeln auf den Tresen. "Ich bin noch mal kurz bei der Apotheke, Kamillendrops für Richard kaufen."
"Okay, alles klar." Anja sprang auf. "Warte!", rief sie und lief um den Tresen. Sie nahm der verdutzten Margret den Mantel vom Arm und half ihr hinein. "Vergiss deinen Schal nicht. Der Wind ist heute tückisch." Anja zog ein rot kariertes Tuch aus der Manteltasche und band es um Margrets Hals. Anschließend drapierte Anja es in lockeren Falten. "So, fertig!", sagte sie, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schaute auf ihr Werk. Margret runzelte die Stirn. Die Tür schloss sich hinter ihr. Anja stöpselte alle Kabel des Laptops ab und schob ihn zwischen Hefter und Ringblock.
Richard stand hinter dem Pult, nickte ab und an jemandem zu und wiederholte im Fünfminutentonus, dass die Exponate besichtigt, aber nicht angefasst oder gar angehoben werden dürften. Als er Anja mit den Kopien auf sich zukommen sah, trat er nervös auf der Stelle. "Hm. Das ist aber ganz schön spät jetzt, um mich vorzubereiten."
Anja unterdrückte ein aufsteigendes Stöhnen. "Ich kann dir die Schlagworte gelb markieren.“
"Ja. Ja, das wäre eine Hilfe." Zufrieden strich Richard über die Front des Cordsakkos und wandte sich wieder dem Treiben am Kofferberg zu, während Anja Erwähnenswertes wie Reiseziel und Kofferfabrikat anstrich. Dabei fiel ihr Blick auf Richards Taschenuhr.
Es waren nur noch zehn Minuten bis Auktionsbeginn und sie sollte die Richtigkeit der Nummernschilder an den Koffern kontrollieren. Anja eilte noch durch die Regale, als sich die meisten Besucher bereits gesetzt hatten. Die abgehakte Liste in der Hand lief sie zum Saaleingang, um die Türen zu schließen.
Durch die Facettenschliffgläser der Tür sah Anja Margret in dem etwas zu großen Mantel durchs Foyer stolzieren und öffnete ihr leise die Tür. Richard hielt bereits seine Eröffnungsrede, berichtete von Geldbündeln in geheimen Zwischenwänden und Seidenpashminas in Originalverpackung. Dann folgte noch eine kurze, obligatorische Einführung in das Procedere. Alles wurde so angeboten, wie es zu sehen war, es gab grundsätzlich keine Garantie oder eine Rückerstattung des Ersteigerungsbetrages.
Margret streifte das Wollungetüm ab und hängte es an einen der alten, geschwungenen Wandhaken, das Tuch ließ sie um.
In den Besucherraum kam Leben. Denn Christian wuchtete den ersten Koffer, dunkelblau, abgewetzter Stoff, auf die Bühne. Die Gebote waren verhalten. Sein ramponiertes Äußeres schreckte ab. Für zwanzig Euro erstand ein Mann mit gepflegter Halbglatze den Koffer.
Die meisten Käufer öffneten die Gepäckstücke sofort nach Erhalt. Zu groß waren Neugier und die Hoffnung auf den Jackpot. Doch hier bewahrheitete sich die Vermutung der meisten Anwesenden: lediglich dreckige Wäsche in minderer Qualität und der falschen Größe. Die Augen des Käufers weiteten sich, als er einen Gegenstand aus der Wäsche pellte und eine goldene Taschenuhr zum Vorschein kam. Anja schaute interessiert zu Richard. Der runzelte die Stirn, starrte auf den leeren Platz vor dem Mikrofon, ließ sich aber nicht beirren und führte weiter durch die Veranstaltung. Mit großen Gesten und amüsanten Anekdoten pries Richard eine Tasche nach der anderen an. Anja lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und wartete geduldig. In der hintersten Reihe packte ein älteres Paar seine belegten Brote aus. Von den rund einhundert, hauptsächlich männlichen Anwesenden im Saal gab es höchstens fünfundzwanzig, die wirklich mitboten – fünf von ihnen trieben den Preis nur hoch. Sie meldeten sich einmal bei niedrigen Preisen, um dann die gesamte Zeit zu schweigen. Richard hatte sie im Sommer auf der Baustelle nebenan angesprochen.
Als nächstes kam eine schwarzgrau karierte Tasche unter den Hammer. Der Käufer rieb sich auf dem Weg zur Bühne die Hände, bevor ihm sein neu erworbenes Eigentum hinunter gereicht wurde. Anja konnte die Augen nicht von ihm und dem Koffer lassen und es fiel ihr schwer, ruhig zu atmen. Die Notizzettelprofis beachteten ihn kaum. Doch als er zwischen Hotelbademantel und -handtüchern einen Laptop hervorzog, jubelten ihm alle zu. Christian fuchtelte mit dem Zeigefinger Richtung Grund der allgemeinen Euphorie und rief Anja über die Sitzreihen hinweg zu: „Siehst du? Da sind öfters Läppis drin. Ist der gleiche, den ich auch hab.“ Anja schnalzte mit der Zunge. „Derselbe“, korrigierte sie stimmlos. Neben ihr verschränkte Margret die Arme und ließ ihre Fuchsialippen zu einem schmalen Strich werden. Die folgenden Koffer erzielten Höchstpreise, obwohl ihre Inhalte wenig Brauchbares hergaben. Mit müden Bewegungen hievte Christian einen beigen Hartschalentrolley neben das Pult. Richard bemerkte das Notizzettelgeraschle und rückte seinen Krawattenknoten zurecht. Dieses Gepäckstück würde der heutige Spitzenreiter werden, denn die Meute hatte Blut geleckt. Die Angebote überschlugen sich, wurden mit finsteren Blicken der Überbotenen quittiert. Für zweihundertachtzig Euro erwarb schließlich der ältere Herr aus der letzten Reihe den Koffer, der farblich perfekt zu seiner Haut- und Garderobenfarbe passte.
Das Ehepaar beschloss, ihn zu Hause in Ruhe zu begutachten. Anja half ihnen mit der Automatik des Griffes und zog unbemerkt den Reißverschluss etwas auf. Die Frau faltete gerade sorgsam das Butterbrotpapier, als der Herr hinter dem Spalt etwas schimmern sah und den Koffer öffnete. Beide hielten sich die Hand vor dem Mund. Im Licht der Neonröhren funkelten die edlen Perlen einer Halskette mit aufwendig gearbeitetem Verschluss. Die Menge jubelte erneut, übertönte Margrets Aufschrei, nachdem sie sich das Tuch vom Hals gerissen hatte. Margret lief auf die Bühne zu, stampfte immer stärker auf den fleckigen Teppichboden. Enttäuscht über das gedämpfte Ergebnis blieb sie schnaufend vor dem Publikum stehen, das sie wie paralysiert anstarrte – weißer Schaum auf Fuchsiagrund. Sie rannte auf Richard zu, grifft das Pult und warf es um. Unverständliche Wortbrocken schrillten durch den Saal, während Margret auf Richards Rücken einschlug. Eine der Freundinnen, gelöst aus der Starre, drehte sich fragend zum älteren Herrn um. "Was sagt sie da, immerzu?"
Der tippte entschuldigend auf sein Hörgerät. "Irgendwas mit Koffer."
Anja schloss die Tür des kleinen Auktionshauses, das einst selbst ein richtiges kleines Schmuckstück gewesen sein musste. Der Messinggriff war kalt. Sie vergrub ihr Kinn im Schal und die Hände in den Manteltaschen. Mit bis zu den Ohren gezogen Schultern und tief gesenkter Stirn lief sie durch die klirrende Novemberluft. Der Wind ist heute wirklich tückisch, dachte sie und lächelte in die groben Strickmaschen.