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Unten
Es hatte gedauert, jemanden zu finden, der etwas wusste. Er war schon älter, vielleicht so um die Fünfzig, und ich traf ihn in einer Kneipe. „Kann dir keiner sagen, was dich unten erwartet“, sagte er. „Es heißt, es ist irgendwas Organisches, das dich liest wie ein Buch. In der Luft solls halluzinogene Sporen geben, also glaub nicht alles, was du siehst oder hörst, am besten glaubst du nichts, das ist alles nicht real. Was willste denn da? Wenn du Selbsterkenntnis suchst, dann lass es lieber! Isses nicht wert. Is völlig bescheuert, meiner Meinung nach, is ja nicht ungefährlich, gibt einige, die nicht wieder zurückgefunden haben …“
„Ich suche meine Frau. Maja …“ Ich zog mein Handy aus der Tasche und zeigte ihm ein Foto, auf dem wir beide glücklich in die Kamera lachen.
Er sah es an und nickte. „Hübsch.“
Ich nickte auch, denn ich vermisste ihre sanften, braunen Augen. „Sie ist verschwunden.“
„Und du denkst, sie ist unten?“
„Ich weiß es. Ihre Schwester hat es mir erzählt.“
Er sah mich eine Weile an, dann fuhr er fort: „Du musst erst einmal reinkommen. Du wartest draußen vor der Tür, scheißegal, was für Wetter is, kann dauern. Wenn die Tür sich öffnet, gehst du die Treppe runter, da sitzt dann einer, der fragt dich: Willst du nach unten?“
„Ja!“, sage ich. „Will ich! Ich habe gewartet, fast sechs Stunden, jetzt lass mich rein.“
Er nickt mich durch, hinein in einen Tunnel, der sich in dunklem Grau und nur spärlich beleuchtet, in die Tiefe windet. Die Tunnelwand sieht aus, als wäre sie feucht, ist aber trocken und warm, als ich mit dem Finger darüber streiche. Ich lege die Handfläche auf, spüre ein Heben und Senken, ein schiffsartiges Wanken. Übelkeit klettert meine Speiseröhre hoch.
„Am Ende des Gangs is ne Treppe“, ruft er mir hinterher und reißt mich aus meinem Taumel, „eine hoch, eine runter, deine Entscheidung, Bro!“
„Ja, danke“, sage ich mehr zu mir selbst, löse die Hand von der Wand und gehe weiter in den Tunnel hinein.
Ich weiß nicht, wie lange ich gehe, bis ich endlich die Treppen erreiche. Den großen, braunen Sessel sehe ich schon von weitem. Eine Frau fläzt darin. Sie ist sehr schön und kaut gelangweilt am Nagel ihres großen Zehs, das Bein lässig verbogen, wie die Hälfte einer Brezel.
„Nach unten?“, fragt sie und spuckt mir was vor die Füße.
„Ich denke …“, sage ich.
„Du denkst?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue hoch. „Wenn du nicht sicher bist, geh besser wieder hoch!“
Aber ich muss Maja finden, mich entschuldigen, ihr alles erklären. Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, dass ich Kinder mit ihr haben, mit ihr alt werden will. Ich bin verloren ohne sie. Ich muss nach unten, muss mich dem stellen, was mich unten erwartet. „Deinen Ängsten“, hatte er gesagt. „Kann man leicht unterschätzen!“ Was auch immer das bedeuten soll. Gibt nicht viele Dinge, vor denen ich Angst habe.
„Nein, ich will runter“, sage ich. „Ich will runter!“
„Dann krieg ich einen Zeh von dir!“ Davon hatte der Typ nichts erzählt und ich suche nach einem Grinsen in ihrem Gesicht, aber sie deutet mit einem Nicken auf meine Schuhe. „Den kleinen Zeh, kann auch ein Finger sein, halt irgendwas … zehn Gramm ungefähr.“ Sie zuckt mit den Schultern.
Ich muss da nicht lange überlegen. Ich bin bereit Opfer zu bringen. Für sie. Für uns. Ich ziehe meine Schuhe aus.
Die Brezelfrau holt ein Laserskalpell aus der Sesselritze, schiebt den Regler nach oben. Die Skalpellspitze leuchtet rot und still.
„Ich schneid den Zeh mit diesem Ding ab, die Wunde wird gleichzeitig versiegelt. Is nich so schlimm, wie es klingt. Is tatsächlich so, geht auch ohne gut, wirst sehen.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass der kleine Zeh an beiden ihrer Füße fehlt. Sie klopft mit ihrer Hand vorne auf die Sitzfläche des Sessels und ich stelle meinen Fuß dorthin, zwischen ihre Schenkel. Mit dem Skalpell schneidet sie meinen kleinen Zeh ab, in einem schönen Bogen von innen nach außen. Es zischt, riecht nach verbranntem Fleisch und schmerzt wie bei einer leichten Verbrennung.
Sie wirft meinen Zeh in ein Loch neben dem Sessel. „Sie weiß jetzt, wer du bist.“
Ich will meine Schuhe nehmen, aber sie lacht. „Die brauchst du da nicht und jetzt verpiss dich!“ Sie fläzt sich wieder in den Sessel, schlingt ihr Bein, bemerkenswert biegsam, über die Schulter und kaut weiter an ihrem Nagel herum.
An der Treppe schaue ich noch einmal zu meinen Schuhen, die neben dem Sessel stehen. Ich habe sie mit Maja zusammen ausgesucht und es fühlt sich nicht richtig an, sie zurückzulassen. Barfuß steige ich die Treppe nach unten. Mit jeder Stufe wird es dunkler. Bis alles schwarz ist. Vorsichtig taste ich mich von Stufe zu Stufe, halte mich an der Wand fest, die sich hebt und senkt und meine Welt ins Wanken bringt. Erneut arbeitet sich Übelkeit meine Speiseröhre hoch, entlädt sich in einem Schwall. Erbrochenes, das mit einem Klatschen auf die Stufen und meine Füße fällt, einen beißenden Geruch verbreitet. Aber die Übelkeit ist fort. Schließlich trete ich auf eine steinerne, ebene Fläche, bedeckt mit Wasser, das mir bis zum Knöchel reicht, den Geruch von meinen Füßen wäscht und die Stelle kühlt, wo der kleine Zeh amputiert worden ist. Ich gehe einen Schritt vorwärts, taste um mich herum: Nichts. Gehe zurück Richtung Treppe, zurück zur Wand, aber ich finde die Treppe nicht wieder und auch nicht die Wand.
„Hallo?!“, sage ich in die Schwärze hinein und ein Licht geht an. Eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke baumelt. Ich stehe in einem Büro, vor einem Schreibtisch, hinter dem ein Mann ein belegtes Brot isst.
„Momentchen! Nehmen Sie ruhig Platz.“ Er deutet auf einen Stuhl an der Wand, auf den ich mich setze und warte, bis er die Brotdose schließt und in einer Schublade verstaut. „Was kann ich für sie tun?“ Seine Augen stehen seltsam aus ihren Höhlen hervor und glotzen mich an. Mit dem Fingernagel pult er Essensreste zwischen den Zähnen hervor.
„Ich suche meine Frau. Maja. Maja Kalkbrenner.“
„Und Sie sind?“
„Thomas Schütt.“
Er steht auf, holt eine Akte aus einer Hängeregistratur an der Wand, setzt sich wieder, schlägt die Akte auf, liest.
Ich warte. „Und? Wo ist sie?“
„Herr Schütt, ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Was? Wieso nicht? Ich bin mir sicher, dass sie hier ist!“
„Das mag schon sein, aber sehen Sie …“ Er legt einen Zettel vor mir auf den Tisch. Suche mich nicht! steht in Majas Kleinmädchenschrift darauf.
„Ja, ich kenne diesen Zettel.“
„Gut! Dann werden Sie sicher verstehen, dass …“
„Nein, ich verstehe gar nichts!“
Er blättert durch die Akte. „Streng genommen, ist Frau Kalkbrenner ja auch gar nicht Ihre Frau.“
„Wir wollen heiraten. Wir werden heiraten - wenn Sie mir sagen, wo ich sie finde.“
„Mir sind da die Hände gebunden.“ Er glotzt mich teilnahmslos an.
„Hören Sie! Es gab da ein Missverständnis. Nur darum ist sie hier. Und ich würde das gerne aus der Welt schaffen.“
Er holt eine Nagelfeile aus einer Schublade und kratzt damit Dreck unter seinen Nägeln hervor. Wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es Unhöflichkeit. Ich stehe auf, stütze mich auf den Schreibtisch und sage: “Sie blöder Arsch, was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“
„Herr Schütt, ich muss doch sehr bitten! Senken Sie Ihre Stimme!“
„Ich will zu meiner Frau! Jetzt!“
Er drückt auf den Knopf einer Gegensprechanlage, sagt: „Ich brauch hier mal die Gabi!“
Hinter ihm öffnet sich eine Tür. Ich könnte schwören, die war eben noch nicht da.
Gabi ist eine stattliche Frau. Ein Blümchenkleid schwingt locker um ihren massigen Körper. „Thomas“, sagt sie streng, ohne dass ihr Dauergrinsen auch nur im Geringsten verrutscht, „wir haben doch darüber gesprochen. Erinnerst du dich?“
Ich kenne diese Frau nicht und erinnere mich an gar nichts. „Ich will einfach nur zu meiner Frau!“, sage ich.
„Erst einmal gehen wir in den Gruppenraum, dort kannst du dich beruhigen und dann sprechen wir darüber.“
„Ich muss mich nicht beruhigen. Ich bin ruhig.“
Die beiden werfen sich Blicke zu. Schließlich sagt Gabi: „Komm mit rüber in den Gruppenraum und dann schauen wir, was wir tun können.“
„Na, schön“, sage ich. „Dann komme ich eben mit.“
Sie nimmt meine Hand und obwohl wir ähnlich groß sind, komme ich mir sehr klein vor an ihrer Hand. Ich komme mir vor wie ein Vierjähriger.
Im Gruppenraum sieht es aus wie im Kindergarten. Selbstgemalte Bilder hängen an den Wänden, an einem Tisch sitzen zwei Mädchen und basteln. In einer Ecke wird auf einem Teppich mit Lego gebaut und auf dem Sofa schauen sich zwei Kinder ein Bilderbuch an.
„Komm“, sagt Gabi, „setz dich zu Luna und Marie. Ich gebe dir ein Blatt Papier. Dann kannst du etwas malen.“
„Nein!“, sage ich laut und deutlich, aber Gabi legt ein Blatt Papier auf den Tisch und stellt einen kleinen Eimer mit verschiedenen Stiften daneben.
„Komm, setz dich!“, sagt sie noch einmal.
„Ich werde mich nicht setzen. Ich werde jetzt gehen!“ Ich bin erwachsen. Ich brauche niemanden, der mir sagt, dass ich zu malen habe, um mich zu beruhigen. An der Tür erreiche ich die Klinke nicht. Ich bin zu klein. Zu klein! Dieser verfluchte Ort. „Könnten Sie bitte die Tür aufmachen?!“, frage ich freundlich, weil ich weiß, dass Freundlichkeit im Leben Türen öffnen kann.
„Mal doch erst einmal ein Bild!“
„Ich will kein Scheißbild malen!“
„Dann bau Lego.“
„Ich will auch nicht Lego bauen. Kein Buch angucken. Nicht basteln oder etwas puzzeln. Ich will zu meiner Frau! Kommt das nicht an?“
„Oh doch, ich höre dich sehr gut. Und trotzdem kommst du hier nicht raus, solange du dich nicht beruhigst.“
Ich atme ein. Und schließe die Augen. Das ist alles nicht real. Ich erinnere mich an die Schwärze nach dem Ende der Treppe. Ich visualisiere diese Schwärze, ihre Undurchdringlichkeit, den von Wasser bedeckten Boden. Und als ich die Augen öffne, bin ich noch immer im Gruppenraum. „Gabi, hören Sie, ich will nur durch diese Tür. Das ist alles! Bitte seien Sie doch so freundlich und öffnen sie für mich. Denn wie Sie sehen, komme ich nicht an die Klinke heran.“
„Weißt du, Thomas, du entscheidest selbst, wie hoch oder tief die Klinke ist. Ich habe damit nichts zu tun. Mein Rat ist, setz dich an den Tisch, mal ein Bild und beruhige dich!“
Ich bin ruhig, aber so langsam verliere ich wirklich meine Geduld. Ich probiere es noch einmal mit Vernunft. „Ich – bin – ruhig!“, sage ich. „Ab – so – lut – ruhig!“ Okay, das stimmt nicht, meine Hände zittern und gerade habe ich meinen Geduldsfaden reißen hören. Mit all der Luft, die meine Lungen hergeben, schreie ich: „Ich bin sowas von ruhig! Wenn ich hier endlich raus bin!“ Ich schlage und trete gegen die Tür, aber sie gibt nicht nach. Gabi hat sich aufs Sofa gesetzt und ignoriert mich. Ich sagte ja schon, dass ich Unhöflichkeit nicht mag. Da kann ich meine gute Kinderstube schon mal vergessen. „Hey, du fettarschige Kuh!“, sage ich und dann geht etwas mit mir durch. „Mach sofort die Tür auf, du hirnlose Arschmade! Du versoffenes Miststück! Haben Sie dir ins Gehirn geschissen, oder was? Ich lass mich doch von dir nicht einsperren oder von diesem verfickten Scheißort.“
Gabi reagiert nicht, zuckt nicht mal mit der Wimper, tut einfach so, als wäre ich nicht da, als würde ich hier nicht meiner Freiheit beraubt, als wäre alles normal. Auch die Kinder ignorieren mich, sie stehen alle vor dem Sofa, auf dem Gabi mit ihrer fetten Arschkiste sitzt und sagt: „Wir gehen heut auf Bärenjagd. Und wir haben keine Angst.“
Mir reichts. Ganz im Ernst. Beim Schlagen gegen die Tür, habe ich mir meinen Daumen verletzt. Er tut weh, ganz zu schweigen von meinem kleinen Zeh, der immer noch brennt, obwohl er gar nicht mehr da ist, weil ich ihn geopfert habe. Für Maja. Die einfach abgehauen ist. Suche mich nicht! Was für ein dämlicher Satz. Sie kennt mich doch. Als ob ich sie nicht suchen würde. Ist das ein Test? Oder hat sie das ernst gemeint? Warum sagt sie nicht einfach, was sie will? Ich habe wirklich genug. Ich will, dass Gabi mich ansieht. Meine Existenz anerkennt. Ich schubse ein Kind beiseite, das heißt, ich will es zur Seite schubsen, aber meine Hand fährt einfach durch es durch. Es kommt nicht mal ins Stolpern. Es watet durch einen imaginären Sumpf und sagt: „schmitz, schmatz, schmitz, schmatz …“ Ich gehe durch die Kinder hindurch als wären sie Luft, stelle mich vor Gabi und sage: „Hier bin ich!“, aber sie sieht mich nicht an und ich will ihr Gesicht zwischen meine Hände nehmen, sie zwingen, mich anzusehen, aber meine Hand gleitet einfach durch Gabis Gesicht.
„Das ist nicht witzig!“, sage ich. „Gabi, hör jetzt auf damit! Ihr alle, hört auf damit!“ Ich muss ruhiger atmen, aber mein Atem gehorcht mir nicht. Mir wird schwindelig, mein ganzer Körper kribbelt. Auf allen Vieren krabble ich zur Tür, die Türklinke ist noch immer unerreichbar für mich. Ich muss hier raus! „Ich kriege keine Luft“, sage ich. „Ich brauche einen Arzt!“ Aber ich bin ganz allein. Niemand hört mich hier. Ich lehne mich gegen die Tür und warte, dass ich gleich sterbe, dass ich ersticke oder mein Herz explodiert. Aber ich sterbe nicht. Und mit der Zeit beruhigt sich meine Atmung genauso wie mein Herz. Noch immer kauere ich auf dem Boden. Dann weine ich. Einfach so, weil alles so verdammt beschissen ist. Mein Leben und dass ich schon wieder ausgerastet bin und dass Maja mich verlassen hat, weil sie genug von mir hat. Wäre sie nicht in die Glastür gefallen, was ein Unfall war, wäre ich jetzt nicht hier. Ich würde sie niemals mit Absicht verletzen. Ich liebe sie. Das muss sie wissen. Ist aber sowieso alles egal, weil ich hier nie wieder rauskomme. Ohne dass ich sie hab kommen sehen, sitzt Gabi plötzlich neben mir. Sie legt den Arm um mich und ich weine an ihrer üppigen Brust.
„Willst du jetzt ein bisschen malen? Das machst du doch so gerne!“
„Warum nicht“, sage ich, denn es stimmt, als ich ein Kind war, habe ich sehr gerne gemalt. Sie nimmt meine Hand und führt mich zum Tisch, auf dem immer noch das Blatt liegt und der Eimer mit den Stiften steht. Es ist seltsam, wie anders der Platz jetzt aussieht, obwohl es derselbe Tisch ist, derselbe Platz, dasselbe Blatt. Ich weiß sofort, was ich malen will, und zeichne mit einem braunen Filzer die Umrisse unseres Sofas zu Hause. Bevor ich es ausmale, setzte ich Maja und mich darauf. Und darüber zeichne ich ein Herz, das ich mit dunklem Rot ausfülle. Mit schwarzem Filzer schreibe ich M+T hinein.
„Ist das dein Zuhause?“, fragt Gabi.
Ich nicke.
„Komm mal mit!“ Sie reicht mir die Hand und dann gehen wir gemeinsam zur Tür. Die Tür ist geschrumpft oder ich bin gewachsen, jedenfalls ist die Klinke vor mir, auf Bauchhöhe. Ich drücke sie herunter, als wäre es das Leichteste der Welt, eine Tür zu öffnen. Dann stehe ich in meinem Wohnzimmer und auf dem Sofa sitzt: Maja. Mein Herz rast wie verrückt und all die Verzweiflung, die ich eben noch gefühlt habe, die Hoffnungslosigkeit, all das fällt ab, denn ich habe sie gefunden. Da ist sie. Vor mir auf dem Sofa sitzt sie, als wäre sie nie weg gewesen. Ich will etwas sagen, irgendwas Schlaues, sodass sie weiß, wie sehr ich sie vermisst habe, wie sehr mir alles leid tut, aber ich habe keine Worte. Ich stürme einfach auf sie zu und nehme sie in den Arm und will sie für immer festhalten, ihre Wärme und Nähe spüren. Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar, das nach Shampoo riecht, und bin einfach so erleichtert, dass sie wieder bei mir ist. „Du bist da“, murmle ich in ihr Haar. „Ich habe dich gefunden.“
„Ja, du hast mich gefunden.“
Ich löse mich aus der Umarmung und schaue ihr in die Augen. „Warum läufst du denn einfach weg?“
Sie sieht mich komisch an, irgendwie irritiert und besorgt. Dann sagt sie: „Ich erinnere mich nicht.“
„Egal! Hauptsache, du bist da. Aber mach das nie wieder, okay?! Wir gehören doch zusammen!“
„Ja. Wir gehören zusammen.“
„Für immer.“
„Ja. Für immer.“
Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und küsse sie, küsse ihren Mund, die Augen, die Stirn, küsse ihre Wangen, das Kinn, die Nase. „Wollen wir denn jetzt wieder nach Hause gehen?“
Sie nickt, aber dann sieht sie mich wieder so komisch an und sagt: „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Was meinst du, ob du kannst?“
„Ich glaube, ich kann hier nicht weg.“
„Ja, ich weiß, es ist ein seltsamer Ort, aber wir finden schon wieder heraus. Er wollte mich erst gar nicht zu dir lassen, aber jetzt sind wir zusammen und zusammen finden wir wieder heraus. Wollen wir?“ Ich nehme ihre Hand und machen einen Schritt Richtung Tür.
„Nein!“, sagt sie panisch. „Ich kann da nicht rausgehen. Können wir nicht hierbleiben? Wir können doch hier zusammensein.“
„Maja!“, sage ich. „Was ist denn los? Du musst keine Angst haben. Wir gehen einfach nur nach Hause.“
„Ich kann da nicht raus, das musst du mir glauben. Etwas schreckliches wird passieren. Ich weiß es.“
„Du hast nur Angst“, sage ich. „Das ist dieser verfluchte Ort, der macht das mit dir.“ Ich gehe zur Wohnzimmertür, die geschlossen ist. Vorhin war der Gruppenraum dahinter, doch als ich sie jetzt öffne, stehe ich im Flur unserer Wohnung, von dem aus ich in die Küche sehen kann. Alles ist genau wie zu Hause, bloß aufgeräumter. Ich stehe im Flur und strecke ihr meine Hand entgegen. „Siehst du, hier ist nur der Flur. Komm mit! Ich beschütze dich.“
„Gut“, sagt sie.
„Trau dich. Ich bin bei dir!“
„Ja, du bist bei mir“, sagt sie, während sie in den Flur tritt und sich in Luft auflöst. Einfach so. Ich stehe allein im Flur. Dann sehe ich sie im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen.
„Wie hast du das gemacht?“, frage ich.
„Ich weiß nicht. Ich sag doch, ich kann da nicht rausgehen.“
„Bist du überhaupt Maja?“, frage ich. Ich kann diesen Mindfuck nicht mehr ertragen. Ich will nur raus hier. Mit Maja. Ich schreie sie an: „Bist du überhaupt Maja?“
Sie fängt an zu weinen: „Thomi“, sagt sie. „Ich weiß es doch auch nicht!“
„Ich will nach Hause. Mit dir. Ist das zu viel verlangt?“
„Können wir nicht hier zu Hause sein? Du und ich?“ Sie zieht mich aufs Sofa, setzt sich auf meinen Schoß und umarmt mich. Eine Weile sitzen wir einfach nur da. Dann küsst sie mich und ich weiß, dass sie nicht die echte Maja ist, weil sie Dinge macht, die die echte Maja nicht macht. Nach dem Sex liegen wir nackt auf dem Sofa. Ich habe eine Kanne Tee gekocht und während ich ihn in die Tassen gieße, streichen ihre Finger über meinen Rücken.
„Es ist doch schön, oder?“, fragt sie. „Mit uns beiden. Hier.“
„Sehr schön. Aber es ist nicht echt.“
„Ist das wichtig?“
„Ich weiß nicht. Gerade ist nur wichtig, dass du hier bei mir bist.“
„Ja. Das finde ich auch.“
Eine blecherne Lautsprecherstimme fällt in unsere Zweisamkeit wie eine Bombe. „Wir schließen in einer Stunde. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang!“
„Was soll das bedeuten?“, frage ich sie.
„Ich weiß nicht. Ich kann ja nicht weg.“
Ich hasse diesen Ort. Erst gibt er mir Maja, dann nimmt er sie mir wieder. Erst lässt er mich rein, dann will er, dass ich gehe. Ich weiß, dass diese Frau, die nackt neben mir auf dem Sofa sitzt, nicht die echte Maja ist. Ich weiß das. Und es ist auch nicht so, dass ich hierbleiben will. Mit der Fake-Maja für immer hier unten bleiben will, in dieser Fake-Wohnung. Aber nur, weil ich mal einen ruhigen Moment habe, muss man mich ja nicht gleich rausschmeißen. Ich erinnere mich, dass die Brezelfrau von einer „sie“ sprach. Sie weiß jetzt, wer du bist. Was für ein Mist.
„Bitte, erleuchte mich! Wer bin ich denn?“ Aber niemand antwortet. „War so klar!“, schreie ich ins Nichts.
Maja legt den Arm um mich. „Warum bin ich überhaupt hier? Irgendwas stimmt mit mir nicht.“
„Du bist nicht echt. Das stimmt nicht mit dir.“
Sie sieht mich an mit ihren braunen Augen, den gleichen Augen, die die echte Maja hat. „Aber warum?“, fragt sie. „Wenn ich nicht echt bin, was mache ich hier?“
„Keine Ahnung. Wirklich. Ich hab dich nicht gemacht, das war dieser Ort.“
„Aber er hat mich hierher gebracht. Er hat mich hier zu dir gebracht. Warum? Ich fühl mich nicht gut“, sagt sie plötzlich. „Ich muss mich hinlegen.“ Sie sackt auf dem Sofa zusammen. Ihre Haut ist blass, fast durchsichtig.
„Nein!“, sage ich. „Lass sie in Ruhe! Sie kann doch nichts dafür.“ Aber ich weiß, dass ich es bin, der sie zum Verschwinden bringt. Ich habe sie hergebracht und jetzt habe ich sie wieder fortgeschickt. Ich will ihr die Haare aus der Stirn streichen, aber ihr Körper bietet keinen Widerstand mehr und ist kaum noch zu sehen. „Es tut mir leid“, sage ich.
Ihre Antwort ist nicht mal mehr ein Flüstern und doch verstehe ich sie. „Es ist nicht deine Schuld.“
Ich möchte ihr glauben und weiß es doch besser. Wie eine Ohrfeige trifft mich die Frage: Was mache ich hier unten? Sie hat mir einen Zettel geschrieben. Suche mich nicht!, stand darauf. Ist das nicht eindeutig? Meine Wangen glühen, als wollte mein Körper mich von innen heraus verbrennen. Sie hat auf einen Zettel geschrieben, was sie will. Aber es hat mich nicht interessiert. Ich wollte mich entschuldigen, mich erklären, sie überzeugen, zu mir zurückzukehren, weil ich ein guter Mensch bin, ein guter Mann. Aber auch das stimmt nicht. Sie hatte Angst vor mir und ich habe es nicht gemerkt. Sie hat mir diesen Zettel geschrieben und ist nach unten geflohen, weil sie nicht geglaubt hat, dass ich ihren Wunsch respektiere. Zum ersten Mal, seit ich hier bin, frage ich mich, wie es ihr geht. Wie soll ich weiterleben mit der Erkenntnis, dass sie an diesem Ort lebt, nur, um vor mir zu fliehen, um nicht bei mir sein zu müssen? Und nicht nur das: Hier sitze ich und versuche sie zu finden. Könnte ich doch nur alles rückgängig machen. Alles! Vor allem, dass ich sie in die Glastür geschubst habe. Ohne Vorwarnung übergebe ich mich, während die blecherne Stimme in der Luft tönt: „Wir schließen in dreißig Minuten. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang!“
„Fuck you!“, sage ich und wische mir den Mund ab. Was soll mir dieser Ort schon noch antun, was ich mir nicht schon selbst angetan habe? Aber ich gehöre hier nicht her, denn sie ist hier, um sich vor mir zu verstecken. Ich will einfach nur weg. Man kann nichts rückgängig machen, man kann nur das Richtige tun, so abgeschmackt das auch klingt. Ich stehe auf und ziehe mich an. Vor der Wohnungstür erkenne ich die Treppe, die mich nach unten gebracht hat. Die Muskeln in meinen Oberschenkeln zittern. Unüberwindbar wirkt die Treppe, wie sie sich Stufe für Stufe nach oben streckt. Stufe für Stufe schleppe ich mich hinauf, stütze mich an der Wand ab, spüre ihr Heben und Senken, bin zu erschöpft für jede Übelkeit. Oben sitzt die Brezelfrau noch immer im Sessel. Sie richtet sich auf, sagt aber nichts. Als ich an ihr vorbeigehe, hält sie mir meine Schuhe entgegen, aber ich schüttle nur den Kopf, während ich an den Gang denke, der vor mir liegt und sich ewig bis zur nächsten Treppe zieht. Aber ich gehe weiter, Schritt für Schritt, und meine Beine tragen mich. Ich werde gehen, soweit sie mich tragen. Und schließlich erklimme ich auch die nächste Treppe, stoße die Tür nach draußen auf. Ich weiß nicht, wie lange ich unten war. Es interessiert mich auch nicht. Draußen ist helllichter Tag, die Sonne blendet, ein Auto hupt mich an, als ich über die Straße gehe. Meine Beine tragen mich noch immer. Schon erstaunlich, was wir alles noch können, wenn wir denken, dass wir nicht mehr können. Zu Hause gehe ich ins Wohnzimmer. Ich nehme den Zettel vom Esstisch, zerknülle ihn und werfe ihn in den Mülleimer. Dann lege ich mich ins Bett und plane, nie wieder aufzustehen. Wozu auch?