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Und plötzlich war alles anders
Es gab keinen bestimmten Tag, an dem ich trans wurde. Es gab bloß den Tag, an dem ich es mir eingestand. Erst viel später kam der Moment, an dem ich den Mut fand, mein soziales Umfeld daran teilhaben zu lassen, endlich bereit, alle Konsequenzen dieser Offenbarung zu ertragen.
Seit meinem ultimativen Schritt, das Schicksal zu bezwingen, ist einige Zeit vergangen. Anfängliche Euphorie und Optimismus sind nüchterner Realität gewichen. Aus heutiger Sicht habe ich bloß ein Leid gegen ein anderes getauscht. Auch wenn es mir erträglicher erscheint, es bleibt ein Leid.
Das Handy klingelt. Hoffentlich keine fremde Person, die mich aufgrund meiner Stimmlage als Mann anspricht. Ein Blick auf das Display, es ist Peter. Der einzige Freund aus meiner Jugendzeit, mit dem ich noch Kontakt habe.
Ich übernehme das Gespräch. „Hi, Darling!“
„Wie geht's, Madam?“
„Danke, ich komm zurecht.“
„Johanna feiert heute Abend Geris Vierziger. Sie hat eine Menge Leute eingeladen. Ich hab mir gedacht, du willst vielleicht mitkommen.“
„Ausgerechnet der Geri. Von dem hab ich seit Jahren nichts mehr gehört.“
„Mach dir nicht ins Höschen und geh mit. Du sitzt sonst eh nur allein daheim herum. Johanna hat extra gesagt, ich soll dich mitbringen.“
„Mitbringen! Na ja. Und was hat Geri dazu gesagt?“
„Der weiß von nix. Die Party soll eine Überraschung für ihn werden. Wird sicher lustig. Mach dir keine Sorgen, bis auf Geri und Johanna kennt niemand deine Vergangenheit.“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Es tut dir sicher gut, ein wenig aus dem Haus zu kommen.“
„Hab nicht mal ein Geschenk. Und was soll ich da anziehen?“
„Was ihr Mädels immer mit dem Anziehen habt. Egal. Irgendwas halt.“
Ich wäge kurz ab, aber er hat recht. Ich sollte tatsächlich mehr unter die Leute gehen. Seit Längerem sitze ich fast jeden Abend allein vor dem Fernseher. „Na gut. Wann holst du mich ab?“
„Ich bin um sieben bei dir. Schau aber, dass du dann fertig bist. Um acht fängt die Party an.“
„Okay, Bussi!“
„Dir auch, bis dann.“
Ich wähle einen knielangen Jeansrock, kombiniert mit roter Bluse, dazu schwarze Strumpfhose und halbhohe Pumps. Ein wenig die Augenbrauen betont, Wimperntusche, einen Hauch Lippenstift. Das nackenlange Haar auf Mittelscheitel gekämmt, dazu silberne Kreolen, fertig.
Mir ist ein wenig flau im Magen, als ich mich im Spiegel betrachte. Vielleicht sollte ich doch besser Jeans tragen. In Hosen fühle ich mich sicherer. Besonders in fremder Umgebung.
Ich überlege eine Weile hin und her, aber was solls. Als Peter vor der Tür steht, bin ich fertig. „Siehst super aus,“ sagt er und kneift ein Auge zu.
„Ja, ja,“ antworte ich lächelnd und küsse ihn auf die Wange. Mir ist klar, dass er schmeichelt, aber dennoch freut mich sein Kompliment. Wir kennen einander seit frühester Jugend. Bis heute verbindet uns tiefe Freundschaft, geprägt von gegenseitigem Vertrauen.
Dass er mich so akzeptiert wie ich bin, voll und ganz als Frau sieht, nie meinen alten Namen oder falsche Pronomen verwendet, verleiht ihm Alleinstellung unter allen früheren Freunden bis hin zu meiner Familie.
Seit meiner Geschlechtsangleichung umschleichen wir einander. Er mich wie die Katze den heißen Brei, ich ihn wie ein Schulmädchen, das wohl möchte, aber gleichzeitig Angst vor dem ersten feuchten Kuss hat. Obgleich sexuell erfahren, auch wenn es sich hauptsächlich um verkrampfte Pflichtübungen gehandelt hatte, verhielt ich mich in meiner neuen Lebensrealität anfänglich so schüchtern wie eine pubertierende Hauptschülerin.
Vielleicht war es gerade dieser jungfräuliche Aspekt, der Peter an mir reizte, aber so sehr er sich um mich bemühte, mehr als zärtliche Begrüßungsküsschen, gemeinsames Nacktbaden am Schotterteich und verhaltene körperliche Berührungen ließ ich nicht zu. Es war, als gäbe es einen inneren Wall, eine Hemmung, die ich nicht überwinden konnte.
Geris Wohnung liegt im ersten Stock eines Zweifamilienhauses abseits der Hauptstraße. Er hat die ganze obere Etage für sich allein, nur seine Freundin wohnt mit ihm. Die beiden sind schon länger zusammen, ich kenne Johanna von früher. Sie ist eine quirlige Esoterikerin, die sich aus Jesus, Mohammed und Buddha ihre persönliche Religion zusammengebastelt hat.
Geri stellt sich eher als schlichtes Gemüt mit Bodenhaftung dar. Vielleicht ist es gerade dieser Gegensatz, der die beiden füreinander interessant macht.
Als wir aus dem Wagen steigen, kommt uns Johanna freudestrahlend entgegen. „Hallo Eva, du siehst umwerfend aus“, sagt sie und drückt mir links und rechts ein Küsschen auf die Wangen, noch bevor ich irgendetwas sagen kann. „Schön, dass ihr gekommen seid.“
Nachdem Peter dieselbe Behandlung erfahren hat, gehen wir ins Haus.
Fast alle geladenen Gäste sind bereits da. Geri befindet sich auf dem Heimweg vom Büro und soll bald kommen, sagt Johanna. Wir werden instruiert, uns im Nebenzimmer zu verstecken, wenn er seinen Wagen vor dem Haus parkt, bis wir von ihr gerufen werden. Die Überraschung soll perfekt sein. Nicht lange und wir hören den Kies auf dem Parkplatz vor dem Haus knirschen. Johanna guckt aus dem Fenster und scheucht uns ins Nebenzimmer. Wir stehen dicht gedrängt, sind mucksmäuschenstill und warten wie verabredet.
„Hallo Baby,“ sagt Geri, als er das Wohnzimmer betritt.
„Alles Gute zum Purzeltag!“, ruft Johanna.
Das ist unser Zeichen. Im nächsten Moment drängen zwei Dutzend Personen ins Wohnzimmer, scharen sich um den überraschten Geri, es werden Schultern geklopft, Fäuste aneinandergestoßen, Küsschen verabreicht, Gratulationen verkündet. Als ich an die Reihe komme, wage ich erst mal nicht, das Geburtstagskind zu küssen. Ich habe so meine Erfahrungen. „Alles Gute zum Geburtstag!“, sage ich und überreiche mein Geschenk, ein Messer mit Hirschhorngriff. Geri ist Hobbyjäger und Waffennarr.
Der Hirschfänger gehörte meinem Ex-Freund. Den musste er unbedingt haben. Als er abhaute, blieb er unbenützt zurück.
Ich sehe Geri an, dass mein Geschenk gut bei ihm ankommt.
„Tolle Klinge“, sagt er, „vielen Dank“. Er fackelt nicht lange und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Gleich fühle ich mich in meinem engen Jeansrock wohler.
Peter zieht mich beiseite. „Na siehst du, alles halb so schlimm“, flüstert er.
Johanna verschwindet in der Küche und kommt mit einem riesigen Tablett voll belegter Brötchen zurück. „Im Kühlschrank steht der Sekt“, sagt sie. „Auch Mineralwasser, Cola und Bier.“ Sie blickt auffordernd in die Runde. „Getränke sind Männersache“, fügt sie schnippisch hinzu. Peter macht sich gemeinsam mit einem Typen, den ich nicht kenne, auf den Weg in die Küche.
Nicht lange und die Stimmung steigt. Es wird zusammengestanden, gelacht, gequatscht, gefuttert, geraucht, der Sekt fließt in Strömen, daneben gibt es noch Bowle, Kognak und Whiskey. Auch ich entspanne mich, sitze bequem in der geräumigen Sitzecke bei Knabbergebäck und einem Glas Sekt und bin froh, mitgekommen zu sein. Meine anfängliche Steifheit hat sich gelegt. Peter und der Gast, mit dem er zuvor die Getränke aus der Küche geholt hat, setzen sich zu mir.
„Ich bin Hans“, stellt sich der Unbekannte vor und reicht mir die Hand. „Peter und ich sind gemeinsam in die HTL gegangen. Haben uns Jahre nicht gesehen.“
„Hi“, sage ich. „Eva.“
Hans zieht die Brauen hoch. „Du bist mit Peter hier?“
„Ja. Wir sind gute Freunde.“
„Gute Freunde?“ Er wirft Peter, der gerade seine Pfeife stopft, einen fragenden Blick zu.
„Nicht so, wie du denkst. Wir sind gute Freunde, das ist alles.“ Peter hat seine Pfeife fertig und verzieht sich schmunzelnd in Richtung Balkon.
„Dann gibt es noch Hoffnung“, sagt Hans und grinst mich lausbübisch an. „Darf ich mich zu dir setzen?“
„Natürlich.“
Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachte Hans aufmerksam. Er ist groß gewachsen, schlank und hat kurze, schwarze Haare. Neben seinem jungenhaften Gesicht gefällt mir vor allem seine tiefe, sonore Stimme, die mich umhüllt wie eine warme Decke. Hans beginnt sein Rad zu schlagen, erzählt von sich und seinem Leben, und so erzähle ich ihm auch etwas von mir. Nicht alles, aber mehr als üblich.
Hans hört aufmerksam zu, etwas, das bei Männern selten vorkommt. Wir stellen fest, gemeinsame Interessen zu haben, reden über Politik, Musik und Kultur, auch da sind wir weitgehend deckungsgleich. Er ist mir auf Anhieb sympathisch.
„Du hast so eine schöne, rauchige Stimme“, sagt Hans. „Echt sexy. Ich mag das.“
Längst ist er nah an mich herangerückt. Ich kann seine Körperwärme und den Atem spüren, lasse diese Nähe solange zu, bis ich seine Hand an meinem Knie fühle.
„Hans“, sage ich. „Was hast du vor? An einem One-Night-Stand bin ich nicht interessiert.“
„Entschuldige!“ Er lehnt sich zurück und nimmt die Hand von meinem Knie. „Du bist genau mein Typ, Eva“, seufzt er. „Das weiß ich jetzt schon. Ich möchte dich unbedingt näher kennenlernen.“ Er zögert kurz. „Du lebst doch momentan solo, soviel ich weiß?“
„Wer hat dir denn das verraten.“
„Sag ich nicht.“ Er grinst mich frech an. „Aber wir könnten doch zusammen mal was unternehmen. Kino, Konzert, Wandern. Wann immer du willst, ich bin bereit.“
Was soll schon groß passieren? Wir tauschen unsere Telefonnummern aus, danach muss ich auf die Toilette. „Bin gleich wieder da.“
Er setzt einen schmachtenden Blick auf. „Lass mich nicht zu lange warten.“
Als ich aus der Toilette zurückkomme, steht Hans mit Geri zusammen. Hans gestikuliert und schüttelt immer wieder den Kopf. Ich kann nicht hören, worüber sie sprechen und trete näher.
„Du Betrüger!“, schreit er, als er mich erblickt. „Um ein Haar wäre ich auf dich reingefallen!“
Ich blicke ihn verständnislos an.
„Du bist doch ein Transvestit!“, zischt er mir ins Gesicht, laut genug, dass es alle Umstehenden hören können. „Ein verkleideter Mann!“ Er schüttelt sich demonstrativ. „Und das muss mir passieren!“
Bevor ich noch irgendetwas erwidern kann, spüre ich zwei Hände, die mich an den Schultern nehmen und sanft beiseiteschieben. Peter ist plötzlich da und stellt sich zwischen Hans und mich. „Was fällt dir ein?“, schreit er ihn an. „Bist du völlig vertrottelt?“
Hans reckt selbstbewusst den Kopf in die Höhe. „Ich bin keine Schwuchtel! - Du vielleicht?“
„Nein, aber du bist ein mieses Arschloch, das sich nicht benehmen kann!“
Wie gereizte Kampfhähne stehen sich die beiden gegenüber. So zornig habe ich Peter selten erlebt. Seine Hände zittern vor Wut.
Hans: „So was hättest du mir doch gleich sagen müssen. Wie komm ich dazu?“
Peter: „So was? Eva ist kein So was. Sie ist eine liebe Freundin und in meiner Begleitung hier. Wenn du sie beleidigst, beleidigst du auch mich.“
„Sie? Hast du Sie gesagt?“
„Halt jetzt besser dein blödes Maul, sonst passiert noch was.“
Mittlerweile sind wir zum Zentrum des Geschehens mutiert. Alle Augenpaare ruhen auf uns dreien, kein Mucks ist zu hören. Johanna versteckt sich hinter Geri, der mit gesenktem Kopf Löcher in den Boden starrt, und lugt wie ein Papagei über seine Schulter.
„So eine Scheiße“, sagt Hans noch. „So eine elende Scheiße!“ Dann verschwindet er aus meinem Blickfeld. Endlich! Ich atme auf.
„Lass uns gehen“, sagt Peter. „Ich halte es hier nicht mehr aus.“
Ich sage gar nichts, alles in mir ist erstarrt. Peter holt meine Jacke, wir verlassen grußlos die Party.
Als wir aus dem Haus treten, legt er einen Arm um meine Schultern, ich drücke mich an ihn und beginne zu weinen. Schluchze meinen Weltschmerz in seine Lederjacke hinein.
Es ist immer dasselbe. Anfangs werde ich umschwärmt, aber sowie die Männer etwas bemerken oder es ihnen von jemandem gesteckt wird, lassen sie mich fallen wie ein benutztes Tempo. Und ich bin blöd genug, es immer wieder aufs Neue zu probieren.
„Eva“, sagt Peter leise, als wir beim Auto ankommen. Ich hebe den Kopf, er nimmt ihn in beide Hände und küsst mich auf den Mund. Ich erwidere den Kuss. Unsere Zungen spielen miteinander, ich schließe die Augen, sauge Peters Geruch, eine Mischung aus Tabak, Leder und Mann tief in mich ein. In meinem Kopf beginnt etwas nachzugeben. Es ist, als würde ein Damm brechen. Verdrängte Gefühle schaffen sich Bahn, überfluten mein Gehirn.
Für eine Weile bleiben wir schweigend, eng umschlungen, neben dem Auto stehen.
„Fahren wir zu dir oder zu mir?“, fragt Peter und streicht mir über den Kopf.
„Zu dir“, sage ich lächelnd. „Zu dir.“