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- 23.02.2005
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Und du gehst dich amüsieren?
Tanzen, bis die Füße in den schmalen Sonntagsschuhen wehtun. Ein Glas Wein oder auch zwei. Ein Bursche, der sie im Kreise dreht, bis ihr schwindelig wird. Und sie würde lachen, weil es ihr so gut täte.
„Ich habe nichts anzuziehen.“
Ilse witterte Morgenluft und zog einige Haarnadeln aus Marlies' Dutt. „Ach komm, Schwesterchen, wenn du deine Haare offen lässt, sieht keiner, dass dein Sonntagskleid schon ein paar Jahre alt ist.“
Marlies setzte sich auf die Bettkante und ließ sich ins Federbett fallen.
„Ach, ich weiß nicht.“
Ilse legte sich neben sie und strich ihr eine Strähne hinters Ohr. „Edwin würde dir doch nicht den Kopf abreißen, wenn du am Winzerfest zum Tanzen gehst. Du kannst doch nicht jahrelang nur daheim sitzen und auf ihn warten.“
Marlies sah an die Decke, ohne weiter zu blinzeln. Irgendwann kamen die Bilder wie aus dem Nichts. Heute sah sie mehrere Köpfe, die im Gespräch zusammensteckten.
„Die reden dann über mich.“
„Die sollen dir den Buckel runterrutschen.“ Eine brüllende Kuh ließ Ilse hochspringen. Sie knöpfte ihre Arbeitsschürze auf und band sie neu zurecht. „Ich mach' heute mit Vater den Stall und kümmere mich noch schnell ums heiße Wasser. Du hast Zeit, dir noch die Haare zu waschen. Und hörst du, rubbel' nicht zu viel drin herum, damit die Locken schön bleiben.“
Edwin hätte etwas dagegen, wenn sie mit anderen Männern tanzen würde. Es war beim letzten Fest, das sie gemeinsam erlebten, als er mit ihr über die Bretter flog und ihr dabei ins Ohr flüsterte, dass ja kein anderer so nah an sie herankommen und in ihre blauen Augen blicken solle, wie er es gerade täte. Dabei streiften seine Lippen den Hals leicht unterhalb vom Ohr und sie hielt sofort die Luft an in der Hoffnung, dass diese Berührung damit auch bliebe. „Du bist der wichtigste Mensch für mich, Edwin. Also fast. Die Ilse noch, aber sonst keiner.“
„Und du bist meine Marlies.“ Edwin presste sie ganz nah an sich. Unter dem Vorwand eines kleinen Kusses schlich er mit der Zunge an ihre heran.
„Edwin, hier unter den Leuten!“
„Wart' erst mal ab, bis wir alleine sind.“
Einige Sekunden dachte sie an das drohende Ende seines Heimaturlaubes und ärgerte sich darüber, dass sie den Abend nicht aus vollem Herzen genießen konnte.
"Wir sollten noch heiraten, bevor ich fahre."
"Übers Heiraten haben wir noch nie gesprochen."
"Ich war auch noch nie im Krieg."
Vier Tage später fand die Hochzeit statt. Standesamtlich getraut mit ihrem Sonntagskleid, ohne kirchlichen Segen, war sie in wenigen Minuten Edwins Frau. Der Fotograf im Nebenraum machte ein gutes Geschäft mit den Paaren, die er wie am Fließband ablichtete.
Marlies hängte das eingerahmte Hochzeitsbild von der Wohnzimmerwand ab und legte es auf den Schoß. „Wenn ich nur wüsste, dass du noch lebst.“ Er wirkte in seiner Ausgehuniform wie ein Fremder. Lieber hätte sie ihn in einem Anzug gesehen. Trotzdem mochte sie das Bild. Das musste an dem kaum merklichen Lächeln liegen, dass er dem Fotografen gönnte. Groß stand er neben ihr, seinen linken Arm unbeholfen um ihre Schulter gelegt. Marlies küsste zart seinen Kopf. Das Glas war kalt. Mit ihrem Taschentuch polierte sie den Abdruck, bis er verschwunden war. „Ich kann nichts für diesen Krieg. Entschuldige, wenn ich jetzt zum Feiern gehe.“
Ihr Vater saß am Küchentisch vor seinem Vesper. „Marlies, halt' dich zurück, wenn du ins Dorf gehst.“
„Dir täte etwas Abwechslung auch mal gut, Vater.“
„Ich weiß jedenfalls, wie ich mich als Witwer zu verhalten habe!“
„Hör doch auf, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich bin weder Witwe, noch jetzt grade wirklich eine Ehefrau, noch schau ich anderen hinterher. Ich bin grade … ja, was bin ich denn? Gönn' mir doch das Fest.“
„Du weißt nicht, was dein Mann durchmacht und gehst dich amüsieren?“
Ilse dirigierte Marlies an den Schultern zur Tür. „Komm, lass ihn. Es hat keinen Wert.“
Es war das zweite Winzerfest nach den langen Jahren im Krieg. Marlies' Haar war frisch gewaschen, die braunen Locken wippten bei jedem Schritt. Ihr altes Kleid leuchtete in einem frischen Blau, das ihre Augenfarbe betonte. Der linke Schuh scheuerte am Knöchel, was ihr egal war. Die Musik hatten sie schon von Weitem gehört. Der Dorfplatz im Nachbarort war hell erleuchtet. Als sie bei den ersten Tischen ankamen, hatten die Bläser und Trommler mit ihrer Lautstärke so zugelegt, dass Marlies sehr nahe an das Ohr von Ilse herankommen musste. „Wird nicht einfach, einen Platz zu finden.“
In der Mitte war extra für diesen Abend der Tanzboden aufgebaut worden. Birkenzweige waren um das Geländer gebunden, Kinder klemmten sich wie Äffchen um die Latten und schauten den Tanzenden zu. Auf der einen Seite saßen die Musiker durch ein Podest etwas erhöht.
Rund um den Tanzboden waren die Dorfbewohner an Biertischen verteilt und genossen Festbier oder Limonade. Von einer übermütigen Gruppe wurden die Schwestern angerempelt und nach vorne geschubst. Marlies sog tief die Luft ein. „Ilse, riechst du das? Grillwürste! Wie lange habe ich schon keine mehr gegessen!“
Schallendes Gelächter über einen Witz auf der einen Seite, auf der anderen schien jemand nach ihr zu rufen. Sie drehte sich um.
„Marlies, das freut mich, dass du hier bist!“ Martin strahlte sie an.
„Ja, ich dachte …“, fing Marlies an zu erklären. Ilse lächelte in sich hinein und verschwand im Getümmel.
„Ich hab' dich schon lange nicht mehr gesehen, außer bei den Gottesdiensten.“
„Ach Martin, ich weiß grade nicht, was ich bei Festen soll. Ich bin ja grade nicht Fisch, nicht Fleisch.“
„Da hast du recht. Du bist einfach eine wunderhübsche junge Frau.“ Martin führte sie ohne Aufforderung auf die Tanzfläche, während er schon den Takt mit Daumen und Mittelfinger schnippte. Dem Musikverein fehlten viele Spieler. Die einzelne Instrumentengruppen bestanden fast nur aus ein bis zwei Musikanten, das Flügelhorn fehlte komplett. Sie versuchten sich an einem Walzer.
„Bin ich glücklich, wieder Musik zu hören. Ist das nicht grandios?“ Martin war mit den Lippen an ihrem Ohr. „Und das mit dir.“
Sie musste ihren Kopf leicht in den Nacken legen, um den Schalk in seinen Augen aufzufangen.
Ihre linke Hand lag auf seinem Oberarm. Durch das Hemd hindurch fühlte sie seine Muskeln. Ihre rechte umschloss er mit festem Händedruck. Unentwegt sah er sie an, während er ihre Taille umfasste und sie im Walzertakt führte. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Wie lange war es her, dass ein Mann sie so im Arm gehalten hatte? Sie tanzten einige Minuten. Kein Wort durchbrach die knisternde Spannung, die sich in ihrem Inneren auflud. Die Härchen ihrer Haut richteten sich auf.
„Mit jeder Runde wird das schöner, Marlies. Ich genieße diesen Augenblick wie keinen anderen in meinem Leben. Und ohne Angst, es könnte einen Bombenalarm geben, das ist so schön.“
Er könnte sie jetzt küssen. Es wäre ihr egal, was die anderen dachten.
In einer Pause zwischen zwei Stücken umfassten ihre Hände seine Unterarme. „Martin, wieso hast du mich nie geküsst, als wir früher zusammen unterwegs waren?“
„Ich hab' mich nie getraut.“
„Schade, ich habe mir das immer gewünscht.“
"Du hättest mich ja auch küssen können.“
„Ich hab' mich auch nie getraut. Und dann kam ja auch Edwin.“
„Ich habe bis heute nicht verstanden, wieso du ihn ausgesucht hast.“
Marlies konnte seinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. War das ein missglücktes Grinsen oder schaute er traurig drein? „Wahrscheinlich, weil mir Edwin viel deutlicher gezeigt hat, dass er mich will. Du hattest ja dafür Glück im Unglück mit deiner Verletzung.“
„Soll das jetzt ein Trost sein? Ja glaubst du, das ist so einfach, dann daheim zu sein, während deinen Kameraden im Dreck liegen und um ihr Leben bangen müssen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber du bist daheim. Für dich geht es weiter. Edwin kommt sicher auch bald.“ Sie starrte auf seinen obersten Hemdknopf.
„Marlies, wirklich? Machst du dir nicht etwas vor? Ich mein es ernst. Schau mal. Jetzt ist der Krieg drei Jahre vorbei und du hast seit – wie lange eigentlich? – nichts von ihm gehört. Wie lange willst du warten?“
„Es sind jetzt fast fünf Jahre.“
Martin musste ganz genau hinhören, um Marlies zu verstehen.
„Ich warte, bis er zurückkommt oder ich erfahre, dass er gefallen ist. Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist, dass ich es nicht mehr aushalte. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus. Und ich halte es nicht mehr aus, alleine zu sein.“
Die Musikkapelle setzte zum neuen Stück ein. Marlies' Lippen berührten sein Ohr. „Halt' mich für verrückt, das ist mir egal. Ich möchte mit dir irgendwo anders hin.“
Er nickte, ließ sie los, als wollte er nicht mehr mit ihr tanzen, nahm sie leicht an der Hüfte und dirigierte sie vom Tanzboden in die frisch gemähte Wiese. Martin löste sich von ihr und ging alleine zielstrebig aus dem Licht. Sie schlenderte durch die Reihen von Biertischen, sprach im Vorbeigehen noch ein paar Worte mit einer alten Schulkameradin und steuerte auf die Schule zu, in der die Aborte waren. Kurz davor drehte sie ab und suchte Martin im Dunkel der Nebenstraße.
Ein Pfiff zeigte ihr die Richtung an. Martin saß auf der Treppe zur Laderampe vom Milchhaus. „Marlies?“
„Ja!“
„Ich bin ungefähr in der Mitte der Treppe. Ich wusste, dass du mich findest. Komm hoch.“
Diese tiefe Stimme, der sie stundenlang zuhören konnte.
„Ach, hier sind deine Knie. Ich seh' wirklich nichts, Martin. Mach mal deine Beine zusammen.“
„Ist so recht?“ Sie raffte das schmal geschnittene Kleid die Hüften hinauf und setzte sich rittlings auf ihn. Er zog sie nahe an seinen Schoß. „Du trägst ja gar keine Strümpfe.“ Marlies spürte sein Zittern. Die Hände auf ihren Schenkeln fühlten sich schwielig an, auch wenn er zaghaft darüber strich.
Seine Lippen berührten ihre ganz leicht. Ein behutsamer Kuss. Der Atem blies warm über die Haut. Marlies schöpfte tief Luft und stieß sie mit einem kehligen Laut hinaus.
„Mehr.“
„Bist du sicher?“
„Frag' nicht, mach!“
Martin hielt sie an den Schultern fest, damit sie loslassen konnte. Sie roch Bier und Zigarettenrauch vermischt mit Kernseife; eine Mischung, die sie mit einem Lächeln in sich einsog. Ihre Küsse waren ein Suchen, Ankommen und Finden. Sie umschlang seinen Hals und zog ihn an ihre Brust.
Aus der Geräuschkulisse des Festplatzes lösten sich Stimmen, die immer lauter wurden.
Martin spürte, wie sich Marlies anspannte.
„Wir müssen weg“, wisperte sie in sein Ohr.
„Oder uns ganz still verhalten?“
„Gut, dann lassen wir sie vorbeiziehen.“
Mehrere angeheiterte Burschen passierten das Milchhaus.
„Bummbumm, bummbumm … das klopft ganz schön schnell“, flüsterte Martin, nachdem sich die Gruppe weit genug entfernt hatte.
„Im Moment klopfen zwei Herzen in meiner Brust. Martin, was mach' ich bloß für Dummheiten? Wenn mich meine Mutter von oben so sehen kann, schäm' ich mich.“
„Vielleicht sollten wir wieder zurück, bevor deiner Schwester auffällt, dass du nirgends zu sehen bist?“
„Hast recht, mir ist das hier auch nicht richtig wohl, so schön es auch mit dir ist. Lass' uns wieder tanzen gehen.“
„Wann können wir uns wiedersehen, Marlies?“
„Vielleicht … Montag muss ich die Rüben hacken, die am oberen Feld. Nach dem Stall bin ich da und geh' zum Kochen wieder heim. Da würde es gehen.“
„Und Ilse?“
„Waschtag.“
„Du bringst mich so durcheinander, dass ich da nicht dran gedacht habe. Marlies?“
„Ja?“
„Mach dir keine Vorwürfe. Was wir tun, ist nicht falsch.“
„Wenn ich dir das nur einfach so glauben könnte, Martin. Aber du tust mir so gut.“
Sie küsste ihn lange auf seine Lippen. „Ich werde den ganzen Tag an dich denken und das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommen. Hoffentlich merkt Ilse das nicht.“
Die Kirchenuhr schlug gerade einmal, als Ilse und Marlies den Heimweg antraten. Der Mond war mittlerweile aufgegangen und gab ein fahles Licht ab. „Du hast ja oft mit Martin getanzt, Schwesterherz.“
„Ja und? Du dafür mit Arthur.“
„Stimmt. Stell' dir vor, er will mich nächsten Samstag zur Kirmes in die Stadt mitnehmen!“
„Ilse, wie schön!“
Ihr Knöchel tat weh. Kein Wunder, da war eine aufgescheuerte Blase.
„Will Martin was von dir?“
Marlies gab keine Antwort.
„Ist da was?“
„Nein … ja.“
„Ja – was jetzt?“
„Ich … wir … es darf doch nicht sein.“
„Marlies ...“ Ilse holte hörbar Luft. „Sag mal, was machst du denn, wenn Edwin einfach vermisst bleibt? Wie lange willst du denn noch warten?“
„Es kommen doch immer wieder welche heim. Erst Gerhard, vor ein paar Wochen Friedrich. Aber … ach Ilse, es ist so schwer.“
Marlies blieb stehen und klammerte sich an sie. Die zwei Gläser Wein taten ihr Übriges. Marlies schluchzte auf und fing an zu weinen. Ilse hielt ihre Schwester im Arm, die vor Heulen zitterte und zwischen den Schluchzern die Nase hochzog. „Jetzt putz' dir mal die Nase, du Arme.“
„Ich will jetzt endlich wissen, was mit Edwin ist. Was ist das denn für ein Leben? Und jetzt noch Martin. Den mag ich auch. Was soll ich denn machen? Ich halte das nicht mehr aus!“
Marlies hatte zwei Reihen Rüben von Unkraut befreit, als sie den Pfiff hörte. Sofort begann ihr Herz zu klopfen. Den ganzen Sonntag hindurch war nur Martin in ihrem Kopf herumgespukt und ihr Schoß zog sich dabei nicht nur einmal zusammen, als sie an seine Küsse dachte. Wie hatte sie diesen Moment herbeigesehnt. Sie wollte Martin wieder spüren. Ihn riechen. Er soll sie wieder in den Arm nehmen und ganz fest drücken.
„Marlies ... endlich.“ Martin stand strahlend vor ihr und umfasste vorsichtig ihre Wangen. „Es ist weit und breit niemand, keine Angst.“ Viele kleine Küsse verteilte er über ihr ganzes Gesicht, während Marlies' Lächeln immer breiter wurde.
„Bevor jemand kommt, muss ich dir unbedingt sagen, dass ich dich liebe. Ich weiß, dass das für dich eine unmögliche Situation ist, aber es muss raus.“
„Martin, ich darf es doch eigentlich nicht einmal denken. Aber mir geht es genauso mit dir.“
Er fasste ihre Hände, die braun vor Erde waren und drückte sie an sein Herz. „Und jetzt?“
„Ich weiß es nicht, Martin. Edwin kann noch leben und hatte einfach keine Möglichkeit, sich zu melden.“
„Edwin kann auch tot sein, Marlies.“
„Weißt du es?“
„Nein.“
„Marlies, versuch mal kurz, Edwin zu vergessen. Nur kurz. Liebst du mich?“
„Ich glaube ...“
„Nicht glauben!“ Martin wurde lauter. „Liebst du mich?“
„Ja.“
„Gut.“ Er nahm Marlies in die Arme. Es wäre ihm egal gewesen, wenn ihn jemand beobachtet hätte.
Sie wand sich nach kurzer Zeit aus seiner Umarmung.
„Was verlangst du von mir? Gehst du aus meinem Leben, wenn Edwin zurückkommt und hoffst somit, dass er tot ist? Oder muss ich mich für einen entscheiden, wenn Edwin zurückkommt?“
Marlies packte ihn an den Schultern.
„Martin, das ist doch alles Wahnsinn!“
„Vielleicht verstehst du dich ja auch gar nicht mehr mit Edwin, wenn er zurückkommt?“
„Wenn, wenn, wenn ...“ Marlies Stimme überschlug sich. „Lass' mir Zeit.“
„Ja. Die kannst du haben.“
„Nach der Christmette können wir uns kurz hinter der Friedhofsmauer sehen.“Martin hielt den Zettel, den sie ihm nach dem Gottesdienst beim Herausgehen aus der Kirche in die Hand gedrückt hatte, mit einem Lächeln in der Hand. Seit einem Vierteljahr sahen sich die beiden regelmäßig. Heimlich. Schnee knarzte unter seinen Stiefeln, als er hinter der Mauer auf sie wartete. Beim Aufstehen galten seine ersten Gedanken ihr. Beim Zubettgehen, wenn er noch Hand an sich legte, sowieso. Marlies war allgegenwärtig. Er hatte sie bisher nie bedrängt, sich zu entscheiden. Sie kam, vermummt in ihrem dicken gestrickten Schal, auf ihn zu.
„Frohe Weihnachten, Martin.“
„Marlies, ich wäre froh, wenn ich dir das unter einem Baum wünschen könnte und nicht versteckt hinter einer Mauer. Das muss jetzt aufhören, meine Geduld ist am Ende.“
„Martin, was verlangst du von mir?“
„Da muss ich ja lachen. Marlies, was verlangst du von mir? Ich könnte mir eine Frau suchen, mit der ich frank und frei auf der Straße spazieren gehen könnte. Die könnte ich küssen und alle könnten zuschauen. Mit dir versteck' ich mich im Wald, in eurem Heuschober, hier hinter der Friedhofsmauer. Das ist doch keine Zukunft!“
„Ich will dich. Aber du weißt, was ich für Kämpfe haben werde. Vater. Die anderen. Alle.“
„Ich helfe dir, soweit ich kann. Ich möchte mit dir leben. Ich möchte, dass du meine Frau wirst.“
„Also gut, Martin, irgendwann muss ich da durch. Ich lade dich morgen offiziell zum Weihnachtsessen ein. Vater werde ich dann von uns erzählen. Kommst du um zwölf?“
„Danke, du machst mir damit das größte Weihnachtsgeschenk, was ich je bekommen habe.“
„Ilse, Martin möchte, dass ich mit dem Theater aufhöre. Ich versteh' es ja, ich fühle mich bei der Heimlichtuerei auch nicht wohl. Ich habe ihn morgen zum Essen eingeladen“
„Oje, Marlies, das wird Vater nicht gefallen. Muss das grade jetzt an Weihnachten sein?“
„Dafür gibt es nie einen guten Zeitpunkt.“
„Liebst du Martin so, dass du alle Konsequenzen mittragen kannst?“
„Was meinst du damit?“
„Wenn Edwin kommen würde – bist du dir dann sicher, zu wem du stehst?“
„Wenn du mich so im Moment fragst, entscheide ich mich für Martin. Aber wenn Edwin tatsächlich vor mir stehen würde ...“ Marlies sah Ilse lange an, zog dabei die Schultern hoch und ließ sie in einem Ruck wieder fallen.
Am zweiten Weihnachtstag kamen ohne Unterlass dicke Schneeflocken aus dem Himmel und jeder, der nicht aus dem Haus musste, war dankbar dafür. Die Schwestern hantierten in der dampfenden Küche, Martin saß dem Alten in der guten Stube gegenüber. Sie warteten am gedeckten Tisch auf das Festessen.
„Martin, du weißt, dass ich nichts davon halte, wenn sich Marlies mit anderen Männern trifft.“
„Aber das ist doch Marlies' Entscheidung. Wie lange muss sie denn Eurer Ansicht noch warten, damit es in Ordnung ist?“
„Bis sie Bescheid weiß.“
„Wir alle wissen, dass das Jahre gehen kann, bis vermisste Soldaten für tot erklärt werden.“
„So, du gehst also davon aus, dass Edwin tot ist?“ Der Alte stemmte sich den Tisch hoch und lehnte sich zu Martin. „Hauptsache, du bist daheim, was?“
Marlies kam eilig in die Stube gerannt. „Vater, jetzt mach' doch dem Martin keine Vorwürfe. Keiner wollte den Krieg. Wir müssen mit dem, was er aus uns gemacht hat, leben.“
„Edwin ist dein Mann.“
„Ja, Vater. Aber wo ist er denn? Sag's mir doch! Keiner weiß doch was. Und hier ist einer“, und bei diesen Worten nahm sie die Hand von Martin, „den ich anfassen und mit dem ich reden kann. Jetzt setzt euch wieder hin, ich bringe mal einen Schnaps zur Beruhigung.“
„Ich will mich gar nicht beruhigen.“
„Soll ich gehen?“ Martin erhob sich und sah den Alten an.
„Nein, bleib, sonst machen mir die Weiber die Hölle heiß.“
Er packte seine Pfeife und den Tabaksbeutel aus und schenkte dem Stopfen seine ganze Aufmerksamkeit.
Ilse und Marlies waren gerade dabei, den Weihnachtsbraten am Tisch aufzuschneiden, als es an die Tür klopfte.