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Unausgesprochene Worte
Ohne dich aufgewacht, zum ersten Mal seit Menschengedenken. Zum ersten Mal kein Kinn auf meiner Schulter, kein Kopf auf meinem Arm, kein Hüfte um meinen Bauch. Zum ersten Mal alleine in diesem Bett, alleine in diesem Zimmer, alleine in dieser Welt. Zum ersten Mal ohne Worte aufgestanden, ohne Blick zurück ins Bad gegangen. „Deine unausgesprochenen Worte tun so weh“, mit Lippenstift auf dem Spiegel, der jetzt scheinbar mir gehört.
Welch merkwürdiger Satz für ein Lippenstift-Graffiti. Kein „ich hasse dich“. Kein „fick dich“. Kein „Ich weiß, dass du eine andere fickst“.
Nein. „Deine unausgesprochenen Worte tun so weh“. Ich hätte mit allem umgehen können. Mit „ich hasse dich“, mit „fick dich“, mit „ich weiß, dass du eine andere fickst“. Aber nicht mit „Deine unausgesprochenen Worte tun so weh“.
Stumm setzte ich mich in die Dusche, ließ mir Wasser über den Kopf laufen, ließ mir Wasser über den Körper laufen, Wasserfälle, stundenlang, kalte Wasserfälle aus dem Duschkopf, warme Wasserfälle aus meinen Augenwinkeln. Die Gedanken ertränken, die Gedanken ertränken, den Körper ertränken. Zwei neue Worte ohne Bedeutung: Gedanken, Körper.
Der Tag war gegangen, die Sonne zusammen mit den Wasserfällen in den Abfluss gekrochen. Ohne in den Spiegel zu Blicken aus dem Bad, ohne die kalte Haut zu trocknen in den Gang, ohne die nassen Klamotten zu wechseln aus der Wohnung, ohne das Ziel zu kennen aus dem Haus, ohne die Tränen zu unterdrücken durch die Stadt. Zwei neue Worte ohne Bedeutung: Wohnung, Ziel.
Die Menschen drängen sich um mich, ich spüre ihre Schultern, manchmal, ich spüre ihre Blicke, ständig. Der Schnee knirscht unter meinen Zehen, ich erinnere mich an das Datum, noch bevor die erste Rakete steigt, bejubelt von den Menschen, ungesehen von mir, wohl auch ungesehen von dir. Ein neues Wort ohne Bedeutung: Menschen.
Die Kälte dringt, betäubt, trägt mich nach Hause, durch offene Türen, nicht geschlossen von mir. Wozu auch? Die blauen Füße hinterlassen weiße Spuren auf dem braunen Parkett. Kirsche. „Ich liebe diesen Boden“, deine Worte klingen in mir, so alt sie auch sind. „ich liebe diesen Boden und diese Wohnung. Wir haben zuhause gefunden“. Ein neues Wort ohne Bedeutung: Zuhause.
Das Telefon klingelt, klingelt wütend, klingelt schon immer, der Hörer ist schwer, schmerzt zwischen meinen steifen Fingern. Mutter. Tränen. „Was hast du getan? Wie konntest du nur?“ endlos mehr, endlos der Kummer, ihrer, meiner, endlos die Wut, ihre, endlos die Zeit, meine. Keine Kraft zu Antworten, kein Sinn zu wiedersprechen. Drei neue Worte ohne Bedeutung: Zeit, Kraft, Sinn.
Wache auf, blaues Bündel auf braunem Kirschparkett, weißer Telefonhörer in blauer Umarmung auf braunem Kirschparkett, grauer Sonnenschein auf grünen Augen in blauem Gesicht auf braunem Kirschparkett. Stehe auf, Schmerzen, Taubheit oben, Taubheit unten, Taubheit außen, Taubheit innen. Laufe ins Bad, drei Meter, zwanzig Schritt. Sehe die Worte auf dem Spiegel. „Deine unausgesprochenen Worte tun so weh“. Worte mit Bedeutung. Gedanken, Körper, Wohnung, Ziel, Menschen, Zuhause, Zeit, Kraft, Sinn. Worte ohne Bedeutung.
Setze mich in die Dusche, lasse Wasser auf den Kopf laufen, lasse mir Wasser über den Körper laufen, Wasserfälle, stundenlang, kalte Wasserfälle aus dem Duschkopf, warme Wasserfälle aus meinen Augenwinkeln.
Die Gedanken ertränken, die Gedanken ertränken.
Den Körper ertränken.