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Umbau
Umbau
Endlich werde ich wieder zu meiner Familie kommen, weiß aber nicht, wohin die Reise geht. Zehn Kunststoffwesen sitzen mir in der Raumkapsel gegenüber. Ihre Körper pulsieren, als ob sie sich unterhielten, und ihre Oberflächen blubbern, berühren sich aber nicht. Meine Wunden schmerzen. Eiter fließt aus meiner Bauchwunde. Eines der Kunststoffwesen, der Kleinen, kommt näher zu mir und holt dann zwei andere dazu. Ich muss das über mich ergehen lassen, weil ich noch angeschnallt oder, besser gesagt, gefesselt bin. Wenigstens berühren mich die Kleinen nicht, denn das kann ja sehr weh tun.
Es scheint als wollten die drei, von denen zwei auffällig kleiner sind, Kontakt mit mir aufnehmen, doch ich fürchte mich vor ihnen. Ich habe nur Sehnsucht nach meiner Familie und wünsche mir, dass meine Schmerzen endlich aufhörten.
So vergehen viele Stunden, bis wir endlich landen. Die Landschaft besteht aus grauem Gestein und würfelförmigen Blöcken mit Eingängen aber ohne Fenster. Ich suche nach Menschen, nach den Leichten, die vor mir weg durften. Ich sehe keine. Sind sie nicht hier? Ich rufe. Keine Antwort. Die Kleinen führen mich. Diese kann ich nicht nach den Menschen fragen, weil Kommunikation immer von den Kleinen ausgeht. Zudem bekomme ich kaum Luft. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre ist niedriger als zu Hause. Wie gut könnte ich jetzt das Blut gebrauchen, das ich verlieren musste, um leichter zu werden. Die Kleinen quetschen mich durch ein enges Loch in einen der Blöcke. Im Inneren ist es dunkel. Auch keine Spur von Menschen. Schon wieder wächst meine Angst. Ist alles umsonst gewesen?
Ich fühle Berührungen in der Dunkelheit und erschrecke. Es riecht nach Klebstoff. Drähte, wahrscheinlich aus Plastik, werden um mich gelegt. Sie schnüren mich so eng ein, dass das Blut staut. Ich muss nachgeben und werde irgendwohin gefesselt. Ich schreie wieder, brülle sogar. Keine Reaktion.
Die Kleinen bringen weitere Drähte an. Dann werden sie gelockert. Trotzdem kann ich mich derart eingedrahtet kaum bewegen. Ein leises Surren kommt aus der Nähe. Dann kommt es mir vor, als ob Schnüre in mich eindrängen. Mein Angstschweiß tropft auf den Boden. Und es gibt noch keine Spur von anderen Menschen.
Jetzt krabbelt es an meinem Körper, wie wenn durch den Kunststoff ein elektrischer Strom fließen würde. Besser kann ich es nicht sagen. Aber die Schmerzen gehen weg. Haben die Kleinen meinen Wunsch doch begriffen? Ich glaube es nicht.
Es wird etwas Inneres von mir genommen, es kommt wieder, dann geht es wieder. Wellenartig. Es sind Bilder, Erinnerungen, Gefühle. Es bläst, zischt und saugt. Abwechselnd. Schreien, rufen und sprechen wird unmöglich. Meine Zunge verschwindet. Ich werde von meiner Welt getrennt, fühle bereits außen am Körper nichts mehr, kein Druck, kaum noch Schmerzen. Plötzlich riecht es auch nicht mehr nach Plastik. Die ganze Prozedur scheint wenigstens nichts zu kosten; das beruhigt ein bisschen. Für so was kann man mich unmöglich zur Kasse bitten. Das habe ich nie bestellt.
Meine Frau erscheint. Verschwindet wieder. Ich fürchte, sie könnte für immer Abschied nehmen. Wo ist sie? Neben mir? Die Kunststoffdrähte an meinem Kopf scheinen sie wie Erinnerungssauger aus meinem Gedächtnis zu ziehen. Dann bläht etwas in meinem Kopf, das zu platzen droht, fällt jedoch gleich in sich zusammen und reißt weitere Bilder und Geräusche aus meiner Erinnerung. Meine Gedankenschwere fällt ab und ich kann nicht mehr grübeln.
Mein Körper wird weich und schrumpft. Furcht und Panik wachsen, obwohl die Schmerzen inzwischen völlig verschwunden sind. Darüber sollte ich mich eigentlich freuen. Ich bewege mich etwas. Das geht inzwischen, weil ich kleiner geworden bin. Meine Knochen geben keinen Widerstand, die Sehnen kann ich nicht mehr dehnen. Ich erschrecke, weil sich dafür etwas anderes in mir ausweitet. Ich denke, dass jetzt sogar Hohlräume oder Luftblasen in mir sein könnten. Verwandelt sich mein Körper in Kunststoff? Werde ich meinen kaputten Körper los? Bekomme ich etwas Besseres? Meine Substanz löst sich irgendwie auf. Lästige Körperpflege scheint damit überflüssig zu werden.
Meine beiden Kinder spielen am Bach. Das Bild verschwimmt und das Kindergeheul wird leise. Auch die Erinnerung an die Kinder wird mir genommen werden. In verschiedenen Größen erscheinen und verschwinden die Kinder. Stinkende Windeln kommen und gehen. Wenigstens die werde ich nicht so sehr vermissen. Aber die fast erwachsenen Kinder! Und meine Frau! Sie brauchen mich doch! Ihre Rufe drehen sich in mir, bevor sie ebenfalls abgesaugt werden.
Es blitzt in mir. Musik überlappt mit Farben. Melodiefragmente verwischen. Naturbilder blinken. Zum letzten Mal. Dann verblasst mein inneres Farbensehen. Sogar der Unterschied zwischen hell und dunkel. Alles schmilzt weg. In Plastik? Dafür zieht sich über meinen ganzen Körper ein anderes Empfinden. So hatte ich das vorher nie gefühlt. Es ist, wie wenn alle Sinne gleichzeitig in der Haut wären. Konzentriert. Ja, das muss es sein, die Haut nimmt alle Arten von Wellen und Strahlung wahr. Sehr ungewohnt. Das Äußere wird ein Rezeptor für hundert Sinne.
Meine gewohnten Sinne sind verschwunden. Ich höre nichts mehr. Ohren, Nase und Augen scheinen nicht mehr da zu sein. Dafür fühle ich sanfte Berührungen wie von Luftstößen am ganzen Körper. Sehen konnte ich der Dunkelheit sowieso nicht viel, aber inzwischen bin ich sicher blind. Ich versuche verzweifelt das Bild meiner Kinder zu behalten, doch es geht nicht. Meine Erinnerungen und Gefühle werden - wie von einem Magneten angezogen - geraubt. Hoffentlich bleibt die Seele, dieses Nichts sollte mir ja nicht genommen werden können.
Dann läuft ein Bikinimädchen vor dem Rest meines inneren Auges entlang. Meine Frau als junges Mädchen? Ich kann sie bereits nicht mehr klar erkennen. Eine letzte Welle bringt mir das Aussehen eines weiblichen Körpers. Das Interesse daran schwindet, wird entzogen, verwandelt sich in andere Materie. Ich werde leerer. Dafür pulsiert meine Haut. Der letzte Gedanke wird aus mir geholt. Es ist, als ob ich nur noch aus Schleim bestehen würde. Aber es fühlt sich auch wohl ohne Sorgen. Das Leben im Fleischkörper ist sowieso keine bequeme Sache gewesen.
Ich werde losgebunden. Ich kann meine gesamte Körperoberfläche nach meinem Willen bewegen. Ich habe keinen Wunsch. Nur noch ein Ich-Gefühl.
Mit den Kleinen gehe ich irgendwohin. Die Welt ist farblos, stumm und welk. Ich fühle Signale in mir. Noch kann ich sie schwer analysieren und schon gar nicht beschreiben. Aber ich merke, dass ich laufe oder rolle. Ich tue das sogar irgendwie selbst, ich kann ja die gesamte Köperoberfläche verformen. Nur der Wille dazu ist anders, irgendwie elastischer. Ich fühle mich zwar befreit, doch von was, weiß ich nicht mehr.
Dann nehme ich etwas wie eine innere Stimme wahr: „Du gehörst jetzt zu uns. Der Umbau in ein höheres Wesen hat bei dir besonders viel Energie gekostet. Es ist teuer, Fleisch in hochwertigen Kunststoff zu verwandeln. Für die Verwandlung nehmen wir nur Auserkorene. Solche, die leicht sind. Wir gratulieren.“ Ich verstehe die neue Sprache, eine Verständigung über Strahlen, die in den Körper dringen. Eine andere Macht ist über mir.
Ich gehe mit den Kleinen weiter und warte auf Anweisungen. Ich bin zufrieden. Meine Zukunft scheint eine stille zu werden.