Trockenzeit
Mama weint. Das tut sie oft. Papa weint auch. Aber nur, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Im Auto oder in der Garage. Ich hab’s gesehen. Aber das weiß er nicht. Abends beim Essen ist Papa lustig – wie immer. Er macht Witze und bringt Marlis und mich zum Lachen. Wenn Marlis lacht, lächelt Mama traurig und tupft sich heimlich eine Träne weg.
Marlis ist schon siebzehn. Sie ist hübsch, und die Jungs pfeifen ihr nach. Dann läuft sie weg. Sie schämt sich wegen der Narben. Ihre Unter- und Oberarme sind voll davon. Deshalb trägt sie immer Langärmeliges, auch bei der schlimmsten Hitze. Die Narben sind weiß. Sie fühlen sich hart und runzlig an. Marlis’ Arme sehen aus, als gehörten sie nicht zu ihr. Als hätte man ihre eigenen abgeschraubt und falsche anmontiert.
Ich habe Mama gefragt, warum sich Marlis schneidet. Mama schaute mich lange an, dann schüttelte sie den Kopf, wischte eine Träne weg und sagt nur: „Ach Kind.“ Also fragte ich Papa. Der zuckte mit den Schultern. Er glaubt, wenn er Marlis nur oft genug zum Lachen bringt, wird schon alles gut.
Ich fragte Marlis: „Warum schneidest du dich?“
Sie sagte: „Weil keine Tränen kommen. Wenn keine Tränen kommen, kann die Traurigkeit nicht raus. Deshalb schneide ich mich. Dann blutet die Traurigkeit heraus und fließt in den Abfluss. Verstehst du?“
Ich nickte und sagte: „Aber das tut doch weh“.
Sie sagte: „Traurigkeit tut immer weh.“
Wenn ich sie bitte, mir eine Geschichte zu erzählen, zeigt sie mir ihre Narben und sagt: „Such dir eine aus.“ Zu jeder Narbe gehört eine traurige Geschichte. Die Kleinen sind nicht so spannend. Sie handeln oft von schlechten Noten oder von einem unfreundlichen Wort ihres Lieblingslehrers. Interessant sind die Großen. Die kommen davon, wenn Marlis sieht wie eine Katze überfahren wird oder wenn Oma stirbt oder wenn Leuten im Fernsehen etwas passiert. Damals, als Prinzessin Di starb, musste Marlis ins Krankenhaus. Als im Fernsehen Kinder auf Tellerminen traten auch, und als „Titanic“ lief auch. Sie musste schon oft ins Krankenhaus, zum Nähen. Am meisten interessiert mich die Geschichte der großen Narbe, die mit den vierzehn Stichen. Doch Marlis will sie nicht erzählen.
„Vierzehn Stiche ohne Betäubung“, sagt sie nur. Sie dachten, wenn sie mich ohne Betäubung nähen, höre ich auf damit. Aber da haben sie sich geschnitten.“
Sie lacht über ihren Witz.
Ich schwebe einige Meter über Marlis. Sie steht, in einem weißen Hochzeitskleid, inmitten eines leeren, gekachelten Schwimmbeckens und weint. Ja, sie weint. Doch statt Tränen laufen ihr Blutstropfen die Wangen hinab. Die hinterlassen hässliche Spuren auf ihrem Gesicht. Am Beckenrand applaudieren Mama und Papa. Das Blut tränkt das schöne Kleid bis nichts mehr von dem strahlenden Weiß zu sehen ist. Blutige Rinnsäle fließen auf den Boden. Aus den Rinnsälen werden Bäche. Langsam füllt sich das Becken. Mama und Papa tanzen einen Freudentanz und sehen zu, wie der Pegel steigt. Erst reicht er bis zu Marlis’ Knien, dann bis zum Bauch. Schließlich schwappt das Blut an das Kinn, über den Mund und die Nase. Dann verschwindet Marlis im eigenen Blut. In der Ferne ist die Sirene eines Rettungswagens zu hören. Zu weit weg. Ich muss sie retten. Ich kann sie retten indem ich die Luft anhalte bis sie wieder auftaucht. Ich atme tief ein und warte. Doch nichts geschieht. Ich schwebe über dem mit Blut gefüllten Becken und weiß, wenn ich einatme stürze ich hinein. Hilflos schaue ich zu Mama und Papa, doch da hocken jetzt zwei hässliche, halbnackte Vögel mit krummen Schnäbeln. Sie reißen sich gegenseitig die letzten Federn heraus. Mein Körper will atmen. Ich lasse es nicht zu. Die Sirene nähert sich. Schwindel. Mir wird schwarz vor Augen. Ich brauche Luft. Luft. Luft. Ich wehre mich, aber es geht nicht mehr. Mit einem keuchenden Laut atme ich ein und während sich meine Lungen füllen, stürze ich in das dickflüssige Blut. Eine beklemmende, lauwarme, feuchte Dunkelheit umgibt mich.
Ich wache auf. Das Blut pocht von innen an meine Schläfen. Ich habe ins Bett gemacht. Die Dunkelheit in meinem Zimmer wird von blinkendem Blaulicht zerrissen.
Mama hat das Bad gewischt und die Lappen weggeworfen. Ich durfte erst hinein, als es wieder glänzte. Heute macht Papa beim Abendessen keine Witze. Mama tupft sich eine Träne weg. Ich will wissen, wann Marlis wieder nach Hause kommt. Da springt Mama so heftig auf, dass ihr Stuhl umkippt und ich einen Schreck bekomme. Sie kümmert sich nicht darum und verlässt die Küche. Dann hören wir sie schluchzen. Papa stellt den Stuhl wieder hin und streicht mir über das Haar. Er sagt nichts. Muss er auch nicht. Ich werde die Geschichte der großem Narbe nie erfahren.
Plötzlich ist da diese Angst, die Angst, dass keine Tränen mehr kommen ...