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Trockenzeit

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01.07.2004
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Trockenzeit

Mama weint. Das tut sie oft. Papa weint auch. Aber nur, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Im Auto oder in der Garage. Ich hab’s gesehen. Aber das weiß er nicht. Abends beim Essen ist Papa lustig – wie immer. Er macht Witze und bringt Marlis und mich zum Lachen. Wenn Marlis lacht, lächelt Mama traurig und tupft sich heimlich eine Träne weg.
Marlis ist schon siebzehn. Sie ist hübsch, und die Jungs pfeifen ihr nach. Dann läuft sie weg. Sie schämt sich wegen der Narben. Ihre Unter- und Oberarme sind voll davon. Deshalb trägt sie immer Langärmeliges, auch bei der schlimmsten Hitze. Die Narben sind weiß. Sie fühlen sich hart und runzlig an. Marlis’ Arme sehen aus, als gehörten sie nicht zu ihr. Als hätte man ihre eigenen abgeschraubt und falsche anmontiert.
Ich habe Mama gefragt, warum sich Marlis schneidet. Mama schaute mich lange an, dann schüttelte sie den Kopf, wischte eine Träne weg und sagt nur: „Ach Kind.“ Also fragte ich Papa. Der zuckte mit den Schultern. Er glaubt, wenn er Marlis nur oft genug zum Lachen bringt, wird schon alles gut.
Ich fragte Marlis: „Warum schneidest du dich?“
Sie sagte: „Weil keine Tränen kommen. Wenn keine Tränen kommen, kann die Traurigkeit nicht raus. Deshalb schneide ich mich. Dann blutet die Traurigkeit heraus und fließt in den Abfluss. Verstehst du?“
Ich nickte und sagte: „Aber das tut doch weh“.
Sie sagte: „Traurigkeit tut immer weh.“
Wenn ich sie bitte, mir eine Geschichte zu erzählen, zeigt sie mir ihre Narben und sagt: „Such dir eine aus.“ Zu jeder Narbe gehört eine traurige Geschichte. Die Kleinen sind nicht so spannend. Sie handeln oft von schlechten Noten oder von einem unfreundlichen Wort ihres Lieblingslehrers. Interessant sind die Großen. Die kommen davon, wenn Marlis sieht wie eine Katze überfahren wird oder wenn Oma stirbt oder wenn Leuten im Fernsehen etwas passiert. Damals, als Prinzessin Di starb, musste Marlis ins Krankenhaus. Als im Fernsehen Kinder auf Tellerminen traten auch, und als „Titanic“ lief auch. Sie musste schon oft ins Krankenhaus, zum Nähen. Am meisten interessiert mich die Geschichte der großen Narbe, die mit den vierzehn Stichen. Doch Marlis will sie nicht erzählen.
„Vierzehn Stiche ohne Betäubung“, sagt sie nur. Sie dachten, wenn sie mich ohne Betäubung nähen, höre ich auf damit. Aber da haben sie sich geschnitten.“
Sie lacht über ihren Witz.

Ich schwebe einige Meter über Marlis. Sie steht, in einem weißen Hochzeitskleid, inmitten eines leeren, gekachelten Schwimmbeckens und weint. Ja, sie weint. Doch statt Tränen laufen ihr Blutstropfen die Wangen hinab. Die hinterlassen hässliche Spuren auf ihrem Gesicht. Am Beckenrand applaudieren Mama und Papa. Das Blut tränkt das schöne Kleid bis nichts mehr von dem strahlenden Weiß zu sehen ist. Blutige Rinnsäle fließen auf den Boden. Aus den Rinnsälen werden Bäche. Langsam füllt sich das Becken. Mama und Papa tanzen einen Freudentanz und sehen zu, wie der Pegel steigt. Erst reicht er bis zu Marlis’ Knien, dann bis zum Bauch. Schließlich schwappt das Blut an das Kinn, über den Mund und die Nase. Dann verschwindet Marlis im eigenen Blut. In der Ferne ist die Sirene eines Rettungswagens zu hören. Zu weit weg. Ich muss sie retten. Ich kann sie retten indem ich die Luft anhalte bis sie wieder auftaucht. Ich atme tief ein und warte. Doch nichts geschieht. Ich schwebe über dem mit Blut gefüllten Becken und weiß, wenn ich einatme stürze ich hinein. Hilflos schaue ich zu Mama und Papa, doch da hocken jetzt zwei hässliche, halbnackte Vögel mit krummen Schnäbeln. Sie reißen sich gegenseitig die letzten Federn heraus. Mein Körper will atmen. Ich lasse es nicht zu. Die Sirene nähert sich. Schwindel. Mir wird schwarz vor Augen. Ich brauche Luft. Luft. Luft. Ich wehre mich, aber es geht nicht mehr. Mit einem keuchenden Laut atme ich ein und während sich meine Lungen füllen, stürze ich in das dickflüssige Blut. Eine beklemmende, lauwarme, feuchte Dunkelheit umgibt mich.
Ich wache auf. Das Blut pocht von innen an meine Schläfen. Ich habe ins Bett gemacht. Die Dunkelheit in meinem Zimmer wird von blinkendem Blaulicht zerrissen.

Mama hat das Bad gewischt und die Lappen weggeworfen. Ich durfte erst hinein, als es wieder glänzte. Heute macht Papa beim Abendessen keine Witze. Mama tupft sich eine Träne weg. Ich will wissen, wann Marlis wieder nach Hause kommt. Da springt Mama so heftig auf, dass ihr Stuhl umkippt und ich einen Schreck bekomme. Sie kümmert sich nicht darum und verlässt die Küche. Dann hören wir sie schluchzen. Papa stellt den Stuhl wieder hin und streicht mir über das Haar. Er sagt nichts. Muss er auch nicht. Ich werde die Geschichte der großem Narbe nie erfahren.
Plötzlich ist da diese Angst, die Angst, dass keine Tränen mehr kommen ...

 

Hi Falky!

Deine erste Geschichte hier, oder täusche ich mich?
Nun, ich hoffe inständig, dass es nicht deine letzte ist.

Sie hat mir hervoragend gefallen, ich bin hellauf begeistert.
Ich will jetzt gar nicht zu viel zitieren, weil ich sonst die gesamte Geschichte hier aufführen müsste.

:thumbsup: :thumbsup: :thumbsup:

Echt prima, weiter so, mehr, mehr mehr.

In diesem Sinne
c

 

Danke für die Blumen.
Ja, es ist die erste Geschichte hier.

 

Hallo falky,

ich kann mir dem Lob nur anschließen - gut gemacht :thumbsup: Die Geschichte ist atmosphärisch sehr dicht und in ihrer Heftigkeit sehr mitreissend beschrieben. Ich hoffe, das liegt nicht daran, dass du eigene Erfahrungen mit dem Thema hast.

Nichts mehr fühlen können - das muss wirklich schlimm sein, so schlimm, dass man sich sogar Schmerzen zufügt. Die Unfähigkeit der Eltern, mit der Situation umzugehen, hast du gut rübergebracht, jeder trauert für sich und niemand ist in der Lage, das Geschwisterkind zu unterstützen. Die Perspektive war somit sehr passend, die hast du auch durch die ganze Geschichte beibehalten. Der Traum vermischt sich übrigens gut mit der Realität.

Ein einziges Mal bin ich gestolpert - Marlis ist 17 und hat sich in die Arme geschnitten, als Lady Di gestorben ist? Wenn ich davon ausgehe, dass die Geschichte heute spielt, war Marlis damals 10 :hmm: Das würde heißen, dass die Familie und die Ärzte das Problem mindestens 7 Jahre lang nicht in dne Griff gekriegt hätten.

Dann hoff ich mal auf weitere Geschichten hier von dir :D
Liebe Grüße
Juschi

 

Servus,

willkommen, falky! :)
Dir ist ein sehr beeindruckender Start gelungen! Deine Geschichte hat Atmosphäre, packende Spannung, ein harmonisches Erzähltempo, eine durchdachte Strukutur und einen ergreifenden Plott. Du benutzt tolle Metaphern sowohl für physisches (die abmontierten Arme) als auch psychisches (der ganze Traum, der wirklich glaubwürdig als Traum rüberkommt). Und du schaffst es auch, der Perspektive des Erzählerstreu zu bleiben.
Mein Kompliment! Besonders dazu, dass es dir gelungen ist, überhaupt eine Geschichte über dieses Thema zu schreiben. Das "Selbstverletzende Verhalten von Mädchen und jungen Frauen" lässt sich nämlich wie ich finde im Gegensatz zu vielen anderen psychischen Störungen nur sehr schwer dramatisieren. Deine Lösung, das ganze aus dem Blickwinkel von Marlies kleinem Bruder zu schildern, ist genial. Du schaffst es, Marlies konkretes Problem und die Hilflosigkeit ihres Umfeldes und die Belastung, die diese bedeutet, ohne großartige Wertung und Interpretation darzustellen. Die von einem Kind erzählte Geschichte ist damit ein Tatsachenbericht über Erlebtes und Gefühltes gleichermaßen.

Beeindruckt,
Artnuwo :)

Ein P.S. @ Juschi: Manchmal lassen sich solche Probleme sehr lange nicht in den Griff kriegen. Andererseits: die Geschichte muss nicht zwingend heute spielen. Vielleicht ist sie ja auch ein paar Jahre her ;)

 

Danke fürs Lesen, Eure Mühe und natürlich fürs "gut finden".
Nein, Joschi, ich habe keinerlei persönliche Erfahrung mit dieser Thematik.
Lukas, Du hast natürlich recht. Das Nähen ohne Narkose ist unrealistisch, aber möglich. In dem Punkt habe ich mich schlicht "für die Geschichte" entschieden, in der Hoffnung, dass es für den Leser glaubhaft rüber kommt.

Nochmals vielen Dank und ein schönes Wochenede

 
Zuletzt bearbeitet:

Begeistert mit kleinen Einschränkungen

Hallo,

zuerst einmal muß ich dich beglückwünschen für deine Geschichte sie gefällt mir außenordenlich gut. Die Erzählperspektive ist sehr gut gewählt, weil sie ein gewissen Abstand wahrt, aber doch nicht nicht zu fern ist. Er erste Teil so wie das Ende haben mich zudem außerordenlich beeindruckt, inbesondere das du mit dem letzten Satz: "Plötzlich ist da diese Angst, die Angst, dass keine Tränen mehr kommen ..." den Kreis in deiner Geschichte sehr geschickt schließt. Es sind jedenfalls viele Kleinigkeiten die mich bei dir begeistern: Jede Narbe bei ihr hat seine Geschichte. Die Beispiele sind hier schön gewählt oder aber auch der Satz: "Marlis’ Arme sehen aus, als gehörten sie nicht zu ihr. Als hätte man ihre eigenen abgeschraubt und falsche anmontiert.", hat sich bei mir sehr eingeprägt.
Was mir nun persönlich aber nicht gefällt ist die Traumsequenz. Sie wirkt ein wenig altbacken und zu oft schon gelesen. Sie hat mich sehr an deiner Geschichte gestört, doch wie schon oben geschrieben, hat mich der Rest sehr begeistert. Ich hoffe mehr von dir zu lesen.

MfG, Erich

 

Danke novelly, jo undErich,
es freut mich sehr, dass die Geschichte hier so gut ankommt.

Es scheint, als ob der Bruder hellseherische Qualitäten offenbart,
da er in seinem Traum den Selbstmord seiner Schwester vorher sah,
die wohl an offenen Pulsaderschnitten in der Wanne verstarb, richtig?
Eine interessante Interpretation jo, aber daran hatte ich gar nicht gedacht.

Was mir nun persönlich aber nicht gefällt ist die Traumsequenz. Sie wirkt ein wenig altbacken und zu oft schon gelesen.
Altbacken? Na ja!
Eigentlich bin ich auch kein Freund von Träumen in Geschichten. Aber sie passieren mir immer wieder. Geschmackssache, denke ich.

Mit besten Grüßen

 

falky schrieb:
Altbacken? Na ja!
Eigentlich bin ich auch kein Freund von Träumen in Geschichten. Aber sie passieren mir immer wieder. Geschmackssache, denke ich.

Da haste du wohl recht, aber es nicht die Traumsequenz an sich, sondern vielmehr das in ihr der Bruder den Tod seiner Schwester vorher sieht. Ich glaube das ist in der Literatur wirklich totgetreten. Aber wie du schon gesagt hast, ist wohl reine Geschmakssache.

MfG, Erich

 

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