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Trinkertrikolore
Der Bauch voller Alkohol, der Kopf voller Gedanken über mich und mein Leben. Nur selten löste sich mein Geist von ihnen, ließ mich den Innenraum der Holzhütte bemerken. Dort standen Absinthflaschen sorgfältig aufgereiht in einer Holzkiste wie Patronen in einem Magazin. Natürlich war in ihnen nicht das regulierte Zeug. Der Versuch eines wohlwollenden Staates, mich vor mir selbst zu schützen, war an mir selbst gescheitert. So trank ich den Absinth mit unbekannter Menge Thujon für unvorhersehbare Wirkung. Ich füllte das geleerte Wasserglas bis zum Rand, verfolgte einen Gedanken, der jedoch spurlos verschwand. An was hatte ich eben gedacht? Draußen im Wald dämmerte es bereits, es würde bald Nacht werden. Die Bäume standen vor dem grauen Himmel, nahmen mir die Sicht auf die Sterne. Noch einmal dachte ich an meinen großen Tag zurück, daran, wie mein Vorgesetzter zu meinem Schreibtisch stolziert war.
„Ich konnte den Vorstand von Ihnen überzeugen. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind jetzt COO“, hatte er gesagt, dabei das „Ich“ betont.
Im nächsten Moment schlenderte er in sein Büro und beantwortete seine Mails. Ich hätte mich freuen sollen, aber konnte es nicht. Der Erfolg wurde beliebig im Moment der Erreichung, geradezu lächerlich. Seit der Erkenntnis war mein Schlaf ein quälendes hin und her Wälzen, das mich jeden Morgen ausgezehrter aufwachen ließ. Warum? Ich brauchte Lösungen. Ein Astronaut in einer Raketenkapsel, bereit in der Atmosphäre zu verglühen auf dem Weg ins Innere. Ich schlug das leere Glas auf den Holztisch. Was stimmte nicht mit mir? Was hatte ich falsch gemacht? Wie konnte ich es wieder richtigstellen? Doch es rumorte nur in mir. In einer einzigen Bewegung bemerkte ich meine Übelkeit, stieß auf, übergab mich auf die Tischplatte. Mein Inneres stellte sich als braun heraus und stank nach Kotze.
Der Kater am nächsten Morgen war grausam, doch ich ertränkte seine sieben Leben in Absinth. Dann war mein Schädel wieder frei von den Schmerzen. Ich versuchte an den Gedankengängen vom Vortag anzuschließen, doch sie entfalteten keine Wirkung mehr. Worte, jeglicher Bedeutung beraubt, trieben wie Wasserleichen durch mein Hirn. Auch ein weiteres Glas machte sie nicht lebendiger. Ich floh vor ihnen, lief in der Holzhütte auf und ab. Bisher hatte ich mich nicht genauer umgesehen, hatte doch meine Aufmerksamkeit nur mir selbst gegolten. Jedenfalls fand ich unter dem Holztisch eine Truhe. Das Vorhängeschloss war alt und hielt ein paar Schlägen mit einem schweren Ast nicht stand. Drinnen fand ich einen Haufen Bücher. Das meiste war Schund, irgendwelche Gedichtbände von irgendwelchen Traumtänzern. Ich warf sie beiseite. Erst bei einem Buch von Hemingway hielt ich inne, eine Jagdgeschichte in Afrika. Warum nicht? Ich wusste ja nicht, wohin mit mir.
Zu sagen, ich hätte das Buch gelesen, wäre eine Übertreibung. Ich überflog einige Stellen, blätterte weiter, trank Absinth. Nur selten brachte ich genug Konzentration auf, um tatsächlich mitzubekommen, was ich las. Bilder von Antilopen tauchten vor mir auf, von der heißen Savanne, dann nahm ich einen Schluck und alles verschwamm zu brauner Melasse. Ich torkelte hinüber zur Truhe. Es musste doch in tausenden Jahren Menschheitsgeschichte irgendwer irgendwas geschrieben haben, das mich mir selbst erklärte. Oder nicht? Unter einer weiteren Schicht von wertlosen Büchern kam eine Metallkiste zum Vorschein, darin eine Flinte samt Munition. Ihr Schaft war kühl und so grau wie der Himmel draußen. Ich fing an zu lachen und schlief ein.
Irgendwann in der Nacht besuchte mich Hemingway. Er sprach vom Absinthrausch und von toten Tieren. Keine Ahnung, was genau. Als ich nur mit einem Stöhnen auf seine Erzählung antworten konnte, spuckte er mir ins Gesicht. Dann verließ er mich, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Am dritten Tag erwachte ich aus irgendwas zwischen Schlaf und Tod, pisste Weinrot. Ich war wie Jesus, nur besoffener. Sofort griff ich nach dem Absinth, um den unerträglichen Kopfschmerz zu vertreiben. Den ersten Schluck erbrach ich wieder, den zweiten auch, aber der dritte blieb in mir. Ab dann lief das Trinken wie von selbst. Der Preis dafür waren alle meine Gedanken. Sie rannen mir durch die Finger, verschwanden noch im Moment ihrer Entstehung. Der Absinth überschwemmte meinen Kopf und ließ nichts als braunen Matsch zurück. In meinem Inneren war nichts mehr zu holen, also ging ich in den Wald.
Draußen dämmerte es bereits, ich musste ewig geschlafen haben. Ich torkelte durch das Unterholz, die geladene Flinte unter meinem Arm. Was ich damit wollte, wusste ich nicht. Wohin ich lief und wie lange, wusste ich ebenso wenig. Tatsächlich wusste ich gar nichts. Mein Kopf war leer, meine Augen sahen nur den Beinen beim Laufen zu. Sie sahen wie sie ins Schlingern kamen und das Gleichgewicht verloren. Ein Versuch, nach einem Ast zu greifen, mich festzuhalten. Vergebens. Ich fiel auf den Boden. Dann lag ich auf dem Rücken, sah in den Himmel über mir. Wie er dort oben festhing. Zeitlos. Für immer an Ort und Stelle. Er konnte niemals nach rechts oder links, vor oder zurück. Unzählige Wolken zogen an mir vorbei, doch der Himmel dahinter blieb derselbe. Erst leises Rascheln ließ mich die Umgebung bemerken und den Kopf sachte in Richtung des Geräuschs drehen. Ein Reh trat aus dem Dickicht. Ein brauner Punkt im schwachen Licht des schwindenden Tages. Ich hielt den Atem an, sah zu, wie es vorsichtig durch den Wald schritt. Es streckte seinen Kopf in die Höhe, schnupperte nach Düften, die ich nicht roch, niemals riechen würde. Seine großen Augen glänzten. Sie waren schön. Ich wollte leise sein, es auf keinen Fall in die Flucht treiben, doch mein Körper entzog sich meiner Kontrolle, wie es schon mein Inneres getan hatte. Ein metallisches Klicken kam von meinen Händen. Das Reh schreckte auf, spitzte die Ohren, sah in meine Richtung. Die feinen Linien seines Gesichts schienen zu einem sorgenvollen Ausdruck verzogen zu sein. Für einen kurzen Moment war es ruhig, eine Stille, so zähflüssig wie Sirup. Dann wollte das Reh fliehen, ich sah, wie sich die Muskeln seiner Hinterläufe anspannten. Es sollte nicht wegrennen. Es sollte dort bleiben. Es sollte schnuppern. Ein Knall zerriss die eben noch undurchdringliche Ruhe. Die Beine des Rehs knickten ein, sein Körper klatschte auf den Untergrund. Damals, auf seiner Reise durch Afrika, erschoss Hemingway eine Hyäne. Beim Sterben fraß das Tier seine eigenen Gedärme. Das Reh hingegen blickte mich nur traurig an. Das Blut breitete sich gemächlich aus, dampfte, als es auf den kühlen Waldboden traf. Rot versickerte langsam in der braunen Erde.