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15.10.2015
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Trinidad

Es gab keinen Knall. Sie seufzte nur kurz, und als ich zu ihr hinüberschaute, sah ich in ihren Augen Verwunderung und Trauer, aber keinen Schmerz. Dann brach ihr Blick, noch bevor das Blut aus ihrer Nase das Kinn erreichte.

*​

Ich lernte Mina in der Wäscherei kennen. Das ist die Wäscherei der St. Trinity Women's High Security Correctional Facility for Southern Maine at Portland, von den Insassen ironisch Trinidad genannt. Ich hatte meinen Mann umgebracht. Na und? Das Schwein hatte es nicht anders verdient.

Wieder und wieder hatte Maury mir Gewalt angetan, immer wenn er besoffen nach Hause kam. Wies ich ihn ab, nahm er mich trotzdem. Wehrte ich mich, schlug er zu. Natürlich wusste ich eigentlich, dass man solche Männer gleich nach dem ersten Mal verlassen muss. Dass man nichts darauf geben kann, wenn sie hinterher flennen und es ihnen leidtut und sie sich bessern wollen und versprechen, es werde nie wieder vorkommen. Dass es trotzdem immer wieder passiert und sich nichts und niemand jemals bessert. Aber ich war eben eine blöde Kuh, da hatte er sogar recht. Und irgendwann kam es mir so normal vor, dass ich aufhörte, mich zu wehren. Dann kam der Abend, an dem er wieder lange in der Kneipe blieb und mir die Weinflasche herunterfiel, mit deren Inhalt ich mich für das Unvermeidliche gewappnet hatte. Ich sammelte gerade die Scherben auf, als Maury zur Tür hereinkam. Er stand über mir und hatte diesen grauenhaften Blick in den Augen. Ich hockte vor ihm und hatte den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand. Da machte es Klick. Der Anwalt sagte, ich könnte mit dreißig Jahren davonkommen, wenn ich Reue zeigte. So wurde es eben lebenslänglich.

Mina hingegen war eine Politische. Sie war idealistisch, intelligent und so jung, dass sie fast meine Tochter hätte sein können. Zumindest, wenn ich mich mit fünfzehn in der Highschool von Tommy hätte schwängern lassen. Auch so ein versoffenes Arschloch und dabei gerade mal acht Jahre älter als ich. Wenigstens war ich bei der Verhütung klüger gewesen als bei der Wahl meiner Männer.

Dabei hätte ich eine wie Mina gerne als Tochter gehabt. Ein wahrer Engel, nicht nur vom Aussehen her. Sie war stark und selbstbewusst, aber dennoch freundlich und mitfühlend. Dank Trinidad besaß sie gleichzeitig ein Maß an Lebenserfahrung, das man einer Einundzwanzigjährigen nicht wünscht. Aber wäre sie meine Tochter gewesen, hätten wir natürlich keine Affäre begonnen. "Du siehst traurig aus", war das Erste, was sie zu mir sagte. Hinten im Wäschelager weckte sie Gefühle in mir, die mich keiner meiner Männer jemals erahnen ließ.

Rose war ebenfalls eine Politische. Sie war bei derselben Demo verhaftet worden wie Mina. Für Bürgerrechte hatten sie demonstriert, gerade mal fünfzig Hanseln, als irgendein Idiot anfing, Steine zu werfen. Daraufhin wurde die ganze Gruppe kurzerhand einkassiert und als gefährliche Linksradikale abgeurteilt. Mit den Bürgerrechten war es nicht mehr weit her, seit 2019 der Präsident einem islamistischen Attentat zum Opfer gefallen war. Danach verfiel der Kongress in Panik, winkte die Notstandsgesetze in Rekordzeit durch und verschaffte dem neuen Präsidenten eine nie gekannte Machtfülle, die dieser in seiner Paranoia weidlich ausnutzte.

Rose hätte ich nicht als Tochter gewollt. Die Erfahrung, als Schwarze sich und der ganzen weißen Welt ständig ihre Ebenbürtigkeit beweisen zu müssen, hatte sie zynisch und kratzbürstig gemacht. Hochnäsig und besserwisserisch war sie vielleicht vorher schon gewesen. Sie und Mina waren wie Hund und Katze, aber der Polizeistaat hatte sie zu Schicksalsgenossinnen gemacht.

Komplett wurde unser Damenkränzchen durch Heather. Sie war die älteste von uns und schon am längsten hier; außerdem war sie eindeutig verrückt. Vielleicht wurde man das automatisch mit dem Namen. Sie war nicht so verrückt wie Ich-bin-Queen-Victoria-und-die-kleinen-weißen-Mäuse-tanzen-für-mich, sondern eher so wie Ich-ramme-dir-den-Suppenlöffel-ins-Auge-weil-du-versucht-hast-dich-bei-der-Essensausgabe-vorzudrängeln. Sie hat uns nie verraten, wofür sie einsaß, aber ich vermutete, dass sie ihre Eltern für ihre Namenswahl erschlagen hatte. Mina, Rose und ich hielten uns an Heather, weil sie uns beschützte. Was Heather an uns fand, ist mir bis heute nicht klar.

*​

Heather war es auch, die die Codes unserer Implantate herausfand. In Trinidad hatte jede Gefangene eines. Je zwei dieser Dinger hatten den gleichen Code, so dass die zwei Besitzerinnen ein Paar bildeten, aber man wusste nicht, wer zu wem gehörte. Und wenn die beiden Hübschen sich zu weit voneinander entfernten, etwa weil eine von ihnen geflohen war, dann explodierten die Implantate, sobald sie den Funkkontakt zueinander verloren. Auf diese Weise konnten die Kosten für herkömmliche Sicherungsmaßnahmen auf ein Minimum gesenkt werden.

Ich musste laut lachen, als mir das der Gefängnisarzt nach der Überstellung erläuterte. Sie hatten sich das offenbar direkt aus den verschissenen alten Achtzigerjahre-Actionfilmen abgeguckt, die Maury immer mittags gesehen hatte, nachdem er verkatert aus dem Bett gefallen war. Damals war das die Horrorvision eines totalitären Zukunftsstaates, den es hoffentlich nie geben würde. Und jetzt hatten sie es einfach gemacht! Das Lachen verging mir, als der Arzt mir mein Exemplar durch die Nase in die Stirnhöhle trieb und dort mit Widerhaken verankerte. Das tat drei Tage lang irrsinnig weh. Aber ich bin ja gut darin, mir einzureden, dass Schmerzen normal sind.

Es gab immer mal Neuankömmlinge, die die Implantate für Attrappen hielten, sowas wie Placebos zur Abschreckung. Wenn so eine ganz Schlaue dann türmte, erfuhren wir nie, was genau aus ihr wurde. Doch wir konnten meist live miterleben, wie es ihrer ahnungslosen Partnerin erging. Der flog dann nicht mitten am Frühstückstisch der Kopf auseinander, das war Hollywood. Aber sie bekam das stärkste und letzte Nasenbluten ihres Lebens. Abschreckung, oh ja.

Jedenfalls war Heather zwar verrückt, aber nicht blöd. Im Gegenteil, sie folgte einem Plan. Über mehrere Wochen hinweg markierte sie immer wieder Magenschmerzen und Verstopfung. Die Pülverchen, die man ihr auf der Sanitätsstation als einzige Hilfe in die Hand drückte, sammelte sie. Bei der nächstbesten Gelegenheit schlug sie mal wieder eine Mitgefangene zusammen, die sie beim Hofgang falsch angeguckt hatte. Als der Direktor sie wie erwartet vorlud, um ihr eine Woche Dunkelhaft zu verordnen, schaffte sie es irgendwie, die Überdosis Abführmittel in seinen Kaffee zu befördern, und während er plötzlich ganz dringend kacken gehen musste, entlockte Heather seinem Computer die Codes. Sie konnte sowas.

Das alles verriet sie uns erst, als sie nach Ablauf der Woche zurückgekehrt war und uns in den hintersten Winkel des Geräteschuppens geschleift hatte, wo niemand zuhören konnte. Dabei trug sie das irrste Grinsen im Gesicht, das ich je an ihr gesehen hatte. "Ladies", verkündete sie, "wir vier kommen hier raus." Auf unsere fragenden Mienen hin erklärte sie: "Die Chance lag bei eins zu hundert Fantastilliarden, aber wir haben die zueinander passenden Codes."
"Wie?" sagte ich. "Vier gleiche?"
"Natürlich nicht!" schnaubte Rose. "Zwei Pärchen. Nicht wahr, Heather?"
Diese nickte, immer noch grinsend.
"Und wer von uns gehört zusammen?" fragte Mina.

Heathers Grinsen erstarb. "Das sage ich euch nicht." Wir schauten sie verständnislos an. "Wenn ihr es wisst, hauen zwei von euch ab und lassen mich mit der anderen allein zurück. Ich weiß, dass ihr mich für durchgeknallt haltet und Angst vor mir habt. Ich will nicht, dass ihr einfach so geht." Dabei blieb sie und ließ sich nicht umstimmen. Ich sage ja, sie war nicht blöd. Mina, Rose und ich entschieden, diese Frage später zu klären, wenn wir aus Trinidad entkommen waren.

Auch der eigentliche Fluchtplan konnte nur von Heather kommen. Dabei war er ganz einfach, nachdem sie ihn erklärt hatte. Wir würden uns die Bauarbeiten auf dem Außenparkplatz sowie den Besuchstag zunutze machen. Und natürlich die laschen Sicherheitsmaßnahmen, da sich die Gefängnisverwaltung ja auf die Implantate verließ.

Am Besuchstag kamen die meisten Wärterinnen und Wachmänner mit dem Bus zur Arbeit. Sie hatten es satt, dass die Angehörigen der Gefangenen ihnen regelmäßig die Reifen zerstachen oder "Fuck U" in den Lack ritzten. Als wir beim Abendhofgang unauffällig am Zaun entlang schlenderten, sahen wir nur drei Autos der Spätschichtwachen auf dem Parkplatz außerhalb des großen Tores. Sie waren am tornahen Ende nebeneinander abgestellt; am entfernten Ende stand der Radlader, der tagsüber noch Unmengen Schotter bewegt hatte, um den schlaglochübersäten Platz wieder zu ebnen. "Und du bist sicher, dass du das Ding fahren kannst?" fragte ich Heather. "Kann ja nicht so schwer sein", brummte sie. "Das findet sich dann schon, wenn ich drin sitze."

In der äußersten Ecke des Hofs stand der Geräteschuppen. Rose hatte am Ende der Nachmittagsarbeit dafür gesorgt, dass er nicht abgeschlossen wurde. Als die Hofaufsicht gerade in die andere Richtung schaute, schlüpften wir in den Schuppen. Mina und ich hatten etwas Kleidung aus der Wäscherei mitgehen lassen und hier deponiert. Es waren die zivilen Klamotten einiger Wärterinnen, die sie dort gerne kostenlos waschen ließen, obwohl das gegen die Vorschriften verstieß. Die Sachen würden erst morgen früh vermisst werden, wenn wir schon über alle Berge waren. Wir tauschten unsere Gefangenenoveralls gegen die Zivilkleider und warteten. Zum Ende des Hofgangs riefen die Aufsichten alle Frauen in die Zellen zurück, um sie für die Nacht einzuschließen. Nachdem sich der Hof geleert hatte, blieben uns noch etwa zehn Minuten Zeit, bis unser Fehlen auffiel. Jetzt musste alles schnell gehen.

Der Direktor war der einzige, der sein Auto im Innern des Geländes parken durfte. Wir wussten, dass er heute lange bleiben würde, weil er eine Affäre mit einer drallen Wärterin aus der Spätschicht hatte. Nur ein besserer Maschendrahtzaun trennte uns von dem Fahrzeug, den wir mit den Zangen aus dem Geräteschuppen bald durchtrennt hatten. Während Mina, Rose und ich die Haupttür mit den Mülltonnen zustellten, brauchte Heather weniger als zwanzig Sekunden, um den Cadillac kurzzuschließen. Erneut fragte ich mich, welche Lebensgeschichte sie wohl vor uns verbarg. Heather überließ mir das Steuer und sprang mit Mina auf den Rücksitz, Rose rutschte bereits auf den Beifahrerplatz. Ich wendete den Wagen, gab Gas und hielt auf das Tor zu. Als dieses beim Aufprall mit einem lauten Krachen aus den Angeln sprang, konnten wir sicher sein, dass man uns bemerkt hatte.

Wir überquerten den Außenparkplatz, vorbei an den drei Wagen aus der Spätschicht bis zum Radlader, der kurz vor der Ausfahrt stand. Hier brachte ich den Cadillac zum Stehen, Heather sprang hinaus und kletterte in das Führerhaus des Baufahrzeugs. Dann geschah lange nichts. Zu lange. Heather war unter der Fensterkante des Ungetüms verschwunden, als sie versuchte, auch dieses kurzzuschließen. Anscheinend war das schwieriger als gedacht. Es mochte eine halbe Minute dauern oder eine ganze, mir kam die Zeit endlos vor. Ich stieg aus, um nach Heather zu sehen, obwohl ich wusste, dass ich ihr keine Hilfe sein konnte. Rose und Mina taten es mir nach. Längst drangen Rufe und lautes Poltern aus dem Gebäude zu uns. Die Müllbarrikade würde nicht ewig halten.

Endlich erwachte der Diesel des Radladers zum Leben. Die Schaufel hob sich, und der Koloss setzte sich ruckend in Bewegung. Auf halbem Weg Richtung Tor steuerte Heather den Lader ungebremst in einen Zaunpfosten, dessen Verlängerung als Mobilfunkmast fungierte. Krachend stürzte die Konstruktion ein. Da man es nie für lohnend befunden hatte, die Strafanstalt mit einem Festnetzanschluss auszustatten, konnte vorerst keiner mehr um Hilfe telefonieren. Heather setzte ungelenk zurück und peilte als nächstes die drei geparkten Autos an. Mit gesenkter Schaufel rammte sie seitlich den ersten Wagen, schob ihn in die beiden nebenstehenden und drückte alles zusammen mit Wucht gegen die kurze Mauer, die das vom Cadillac zerstörte Tor umrahmte. Mit diesen Wracks würde uns niemand verfolgen können.

Ab jetzt ging alles schief. Laut Plan musste Heather nur noch aus dem Radlader springen, zu unserem Fluchtwagen zurücksprinten und mit uns abhauen. Doch sie hatte zu viel Zeit mit dem Starten des Laders und ihrer Amokfahrt verloren. Die Wachmänner hatten inzwischen unsere Müllbarriere durchbrochen und waren mit Schrotflinten in der Hand vom Gebäude bis zum Tor gestürmt. Als Heather aus dem Führerhaus zu Boden sprang, waren bereits drei Waffen aus weniger als fünfzig Fuß Entfernung auf sie gerichtet. Wie ein in die Enge getriebenes Tier blickte sie hektisch nach links und rechts; dann ließ sie resigniert die Schultern sacken, und ihr Körper entspannte sich.

Noch einmal sah Heather zu uns herüber. Obwohl sie zu weit entfernt war, glaubte ich in ihren Augen Tränen zu erkennen. "Zwei von drei!" rief sie, ihre Stimme überschlug sich dabei. "Ist doch gar nicht so schlecht!" Dann wandte sie sich um und stürzte mit ausgebreiteten Armen und einem lauten, wahnhaften Lachen auf die Wachmänner zu. Wir konnten nur zusehen, wie drei Schrotladungen ihren Leib zerfetzten.

Fassungslos sahen wir einander an, ich blickte von Mina zu Rose und zurück. Uns allen wurde im selben Moment klar, was Heather mit ihren letzten Worten gemeint hatte: Eine von uns war ihre Partnerin und konnte nicht weiter fliehen, ohne dabei zu sterben. Aber wir wussten nicht, wer von uns zurückbleiben musste. Sollten wir uns alle drei ergeben, um unsere Leben zu retten? Unsere Leben in Trinidad? Ein paar endlos scheinende Sekunden verrannen, dann waren wir uns wortlos einig. Wir sprangen wieder in den Cadillac, und ich trat das Gaspedal durch. Die Wachen schossen wild hinter uns her, doch wir waren schon zu weit entfernt. Ein paar Schrotkugeln prallten wirkungslos vom Blech ab.

Immer schneller rasten wir auf die unsichtbare Grenze zu, die der Reichweite von Heathers Implantat entsprach. Minas Finger krallten sich vom Rücksitz aus in meine Schultern, doch ich merkte nicht, ob es wehtat. Rose neben mir starrte geradeaus, ihre Lippen formten unhörbare Worte, als ob sie stumm betete. Gut eine halbe Meile jenseits des Zauns erwischte es sie.

Es gab keinen Knall. Sie seufzte nur kurz, und als ich zu ihr hinüberschaute, sah ich in ihren Augen Verwunderung und Trauer, aber keinen Schmerz. Dann brach ihr Blick, noch bevor das Blut aus ihrer Nase das Kinn erreichte.

Wie ein Automat fuhr ich weiter, den Blick geradeaus gerichtet. Nach einiger Zeit lösten sich Minas Fingernägel aus meinen Schultern. Umständlich breitete sie eine Decke über Rose aus, die sie auf dem Rücksitz gefunden hatte. Dabei weinte sie um unsere Gefährtin, mit der sie sich nie verstanden hatte. Ich weinte vor Erleichterung, dass es nicht Mina getroffen hatte.

*​

Der Rest unserer Flucht ist schnell erzählt. Den auffälligen Cadillac fuhren wir nur bis zur nächsten Siedlung, deren Namen wir nicht kannten. Im Schutz der anbrechenden Dunkelheit versteckten wir die Karre in einem Gebüsch. Auch Rose blieb dort zurück. Zwei Straßen weiter fanden wir einen kleinen Honda, dessen Fahrer dankenswerterweise die Schlüssel am traditionellen Platz auf der Sonnenblende hinterlegt hatte. Ebenso dankbar waren wir für das eingebaute Navi, das uns einen Schleichweg in die Vororte von Portland wies, und für das wenige Bargeld, von dem wir ein paar Busfahrkarten in die Innenstadt bezahlten. Mit mehrmaligem Umsteigen und mehr Glück als Verstand kamen wir den erst spät eingerichteten Straßensperren zuvor und erreichten den alten Hafen.

Mina kannte dort einen bärtigen Umweltschutzfreak, der zwar entsetzt war, zwei gesuchte Schwerverbrecherinnen in seiner Wohnung stehen zu haben, uns aber mit einer Gruppe von Untergrundaktivisten in Kontakt brachte, die er ebenfalls am liebsten nie gesehen hätte. Die versteckten uns eine Zeitlang, gaben uns von ihrem Essen ab und vermittelten uns weiter an einen pickligen Jüngling, der neue Ausweise samt digitalen Identitäten für Mina und mich anfertigen sollte.

Da wir kein Geld zum Bezahlen hatten, ging ich jeden Tag einmal mit dem Knaben in sein Hinterzimmer, um ihm etwas Entspannung für seine harte Arbeit zu verschaffen. Erst hatte ich befürchtet, er würde Mina wollen, aber der Jüngling meinte, eine Latina-MILF wie ich sei eher sein Ding. Er war gar nicht so schlimm, ich war anderes gewohnt. Nur Mina heulte sich jedesmal die Augen aus, während sie im Vorraum wartete. Dabei hätte sie trotz Implantat raus auf die Straße gehen können, statt sich alles anzuhören.

Aber das war das letzte Mal, dass ich mich von einem Mann anfassen lassen musste. Nach einer Woche waren die Papiere fertig, und zwei der Aktivisten brachten uns über die kanadische Grenze, weil wir als Hetero-Pärchen weniger auffielen als zwei allein reisende Frauen, wie sie auf der Fahndungsliste standen.

Inzwischen leben Mina und ich in Vancouver. Dort genießen wir das kleine bisschen Glück, das wir gemeinsam haben. Wir arbeiten beide in einer Wäscherei - gelernt ist gelernt - und lassen uns immer zur selben Schicht einteilen. Einmal im Jahr zünden wir in der Kirche zwei Kerzen an, eine für Heather und eine für Rose.

Wir haben noch niemanden gefunden, der uns die Implantate rausholen kann, ohne dass wir dabei eine Lobotomie riskieren, aber das ist uns mittlerweile egal. Wir bleiben einfach zusammen. Bis dass der Tod uns scheidet.

 

Ich würd gern mal kurz in eure Diskussion einsteigen.

GoMusic schreibt:
Hier würde ich gerne wissen, wer von ihnen überhaupt Besuch empfängt und wer da kommt.
IncredibleHolg schreibt:
Dass ich im Mittelteil mehr Details bringen kann, wurde ja schon angemerkt. Ich habe aber auch berufsbedingt eine Neigung, Dinge zu ausführlich und detailliert zu erklären, und habe hier absichtlich versucht, mich zurückzuhalten und weniger wichtige Dinge einfach der Fantasie des Lesers zu überlassen. (Wir hatten in dem Thread zu meiner ersten Geschichte eine kleine Diskussion dazu.)
Gomusic schreibt:
Du willst hier der „Fantasie des Lesers“ seinen freien Lauf lassen. Gut, nur dass du mich hier aber fragend zurück gelassen hast. Ich sehe es als störend an, wenn man auf eine Lücke stößt.
Ein kleiner Satz, dass die Frauen keinen Besuch bekommen oder so fände ich besser.
Eine Frage an dich, GoMusic, warum legst du denn so einen großen Wert auf diese Info? Die Besucher der Frauen spielen doch in der Geschichte gar keine Rolle. Oder hab ich was übersehen? Du wirsts mir hoffentlich sagen, denn so genau hab ich die Geschichte auch nicht mehr in allen Einzelheiten im Kopf.
Jedenfalls: Im Moment scheint mir das eher eine übergenaue Beschreibung zu sein. Ich frage mich ja auch nicht, was sie zum Mittagessen hatten, übertrieben gesagt. Ausschlaggebend dafür, welche Informationen ich in eine Geschichte hineinpacke, sind - ohne das jetzt zum Prinzip zu erheben - doch nicht die realen Gegebenheiten und Möglichkeiten sämtlicher angegebener Orte und Personen, sondern allein die Stringenz und Funktionalität dieser Elemente für die Geschichte selbst und ihre innere Logik.

Beim armen Holg wurde in dem anderen Faden übrigens genau das angemarkert, was du jetzt wieder von ihm forderst: Übergenauigkeit - und nicht zu viele Lücken. :D
Im Moment befindet sich der arme Holg zwischen Scylla Achillus, gemixt mit ein bisschen Novak und Charybdis GoMusic. Nehmts mir nicht übel, wenn ich da grad ein bisschen drauf rumhacke. Ich will euch echt nicht ärgern, nur ein bisschen necken. ich fand den ganzen Zusammenhang grad witzig. Siehste Holg, so schnell wird man beratungsresistent. Kannst machen, was de willst, einer von uns schimpft immer. Musste selbst entscheiden.

Auch bei dem Parkplatz sehe ich das ein bisschen anders. Ich glaube, ich empfinde solche Stellen nicht als Lücke. Entweder lesen wir sehr unterschiedlich, GoMusic, das könnte des Rätsels Lösung sein, oder wir haben ein unterschiedliches Verständnis von der Kohärenz einer Geschichte.
Jedenfalls interessante Sache.


Und noch was wollte ich sagen als kleinen Beitrag zur Diskussion:
Ich würd aufpassen mit Synonymen. Klar, Wiederholungen, wenn sie nicht Stilmittel und perfekt eingesetzt sind, sind immer etwas anrüchig. Aber: Manchmal ist die Vermeidung von Wiederholungen verkrampft, wenn das dann in Wortungetümen mündet. Ich würd da auch deutlich unterscheiden zwischen Nomen und den restlichen Wortarten. Bei den letzteren sollte man sich stets um Abwechslung bemühgen. Aber für viele Nomen gibt es nun mal keine Austauschwörter, sondern schlicht und einfach nun mal kein anderes Wort für diesen einen Sachverhalt. Zum Beispiel das Wort Tisch, warum nicht mit dem Personlapronomen abwechseln oder andere Lösung durch zum Beispiel das Weglassen des Wortes finden? Aber eben nicht ein gestresstes Austauschwort bemühen, ein Tisch ist nun eben mal ein Tisch und nicht ein Essensviereck.
Ich hätte jedenfalls generell nicht so viel Angst, manchmal ein Nomen zu wiederholen.
In dem von Gomusic zitierten Beispiel, das ja wirklich ein bisschen sehr voller Implantate ist, würd ich mit dem Weglassen arbeiten bzw., wo es halt geht, mit dem Personalpronomen.
Woher ich meine Weisheit habe? Na ja, aus meiner Abneigung gegen "die achtzehnjährige Blondine", "die alleinerziehende Mutter" und ähnliche Konstrukte und natürlich aus Wolf Schneiders Deutsch für Profis. Was Stilistikfragen betrifft aus meiner Sicht nach wie vor ein sehr gelungenes Werk. Hatte mir in meiner Anfangszeit hier mal der Quinn empfohlen. Und ich finde es immer noch gut.

Viele Grüße von Novak

 

Hallo The Incredible Holg,

ich habe den entspr. Kommentar in dem von dir verlinkten Thread gelesen.
Ja, ich weiß jetzt, was du meinst. Dort heißt es, es sei zu detailliert, hier sage ich genau das Gegenteil.
Fest steht zumindest, dass sich deine Schreibweise dementsprechend geändert hat. Das richtige Mittel zu finden ist nicht leicht. Und wenn man denkt, es gefunden zu haben, gibt es immer wieder Leser, die die Waage in diese oder jene Position verstellt haben möchten. Ich spiele hierbei bzw. in dieser Geschichte die Rolle des „Übergenauen“.

Im Beruf muss ich auch (über)genau schreiben und ich habe es nicht geschafft, es hier abzulegen :(

Um auch auf die Frage von Novak einzugehen, warum ich so einen großen Wert auf die Besucher lege:
Meine Gedanken haben sich beim Lesen damit (schon weiter) beschäftigt, dass einer von den Frauen nun Besuch bekommt (egal wer und egal, wer da überhaupt kommt) und sich da eine ganze Szene mit beschäftigt. Das war einfach nur meine Erwartungshaltung in der Story und ich war gespannt, ob sich durch den Besuch irgendwas in Richtung Ausbruch/Flucht entwickelt. Nichts weiter. Als die Besucher später nicht mehr weiter erwähnt wurden, war mir schon klar, dass sie keine Rolle spielen.

Auch das mit dem Parkplatz: Ich habe einfach nur überlegt, bzw. es mir vorgestellt, wie das vonstatten geht, wie die die Autos unterscheiden. Wie du sagst, Novak, lesen wir wohl einfach unterschiedlich – und das ist gut so. Und über Geschmack soll man ja sowieso nicht streiten ...

Ich denke für den Autor sind Meinungen, Vorschläge, Kommentare aus den unterschiedlichen Richtungen wichtig. Das macht es ja gerade auch interessant, daraus das Richtige für sich zu ziehen und an seiner Geschichte weiter zu arbeiten bzw. für die nächsten Arbeiten zu nutzen.

Viele Grüße an euch beiden,
GoMusic

 

Hallo Novak und GoMusic,

eine höchst spannende und lehrreiche Diskussion. Scylla und Charybdis, fürwahr!

Siehste Holg, so schnell wird man beratungsresistent. Kannst machen, was de willst, einer von uns schimpft immer. Musste selbst entscheiden.

Hier musste ich echt lachen - danke, Novak!

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass man es so oder so machen kann, dass man sich aber auf jeden Fall eine Menge Gedanken machen und eine bewusste Entscheidung fällen muss. Immer alle Geschmäcker treffen kann man nicht. Diese Erkenntnis fällt gerade mir gar nicht leicht, weil ich so ein Softie bin, der es am liebsten allen recht machen möchte. Sehen wir es als eine Übung im Kritikaushalten.

Und noch was wollte ich sagen als kleinen Beitrag zur Diskussion:
Ich würd aufpassen mit Synonymen. (...) Manchmal ist die Vermeidung von Wiederholungen verkrampft, wenn das dann in Wortungetümen mündet. (...) In dem von Gomusic zitierten Beispiel, das ja wirklich ein bisschen sehr voller Implantate ist, würd ich mit dem Weglassen arbeiten bzw., wo es halt geht, mit dem Personalpronomen.

Genau so habe ich auch gedacht, als ich den Hinweis von GoMusic umgesetzt habe. Meine Ersatzwörter waren am Ende "eines", "Dinger" und "Exemplar", also unspezifisch anstelle eines Synonyms i.e.S.

Grüße vom Holg...

 

Hallo Kinaski,

ich gebe mal ganz unbefangen zu, dass ich "Prosodie" nachschlagen musste; ich gehe nicht ganz so wissenschaftlich an meine Sprache ran. Komisch, dass gerade das ein Problem sein soll, weil ich auch selbst zwar nicht laut lese, aber doch meistens mit der inneren Stimme im Kopf. (Wenn Du weißt, was ich meine, dafür gibt es bestimmt auch ein griechisches Wort.) Mich wundert deshalb, dass mir da nicht selbst etwas aufgefallen ist. Ich werd's mal mit echtem Lautlesen probieren und sehen, welche Erkenntnis mir das bringt.

Was, wenn ein Code-Zwilling wegen eines Notfalls in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss? Stirbt dann der andere, wenn man ihm sein Implantat nicht rasch genug herausoperiert? Jedenfalls muss immer ein Zwilling operiert oder umprogrammiert werden wenn sein Partner vor ihm entlassen wird. Die Idee mit den Zwillingschips scheint mir doch etwas unausgegoren...

Ein weiterer von diesen Hab-ich-zwar-nicht-ausgeführt-aber-durchaus-drüber-nachgedacht-Punkten. So einen Chip von außen kontaktlos umzuprogrammieren wäre schon mit heutiger Technik überhaupt kein Problem (Stichwort NFC u.dgl.): Rübe vors Lesegerät, und nach zwei Sekunden hast Du einen neuen Partner. Oder gar keinen. Oder erstmalig einen. (Man muss ja auch irgendwie mit einer ungeraden Zahl von Gefangenen klarkommen.) Ist auch gar nicht schlimm, wenn mal jemand eine Zeitlang unverpartnert ist, solange er es nicht weiß.

Wenn ich solch eine Technik tatsächlich zur Gefangenenkontrolle einsetzen sollte, würde ich allerdings zwei entscheidende Dinge besser machen: (i) die Codes bzw. Partnerschaften regelmäßig ändern, (ii) eine Tracking-Funktion realisieren. Mit beidem hätte allerdings die Flucht deutlich anders ablaufen müssen. :)

Grüße vom Holg...

 

Hallo Holg,

ich schätze es besonders, wenn es jemand mit Worten fertig bringt, dass in meinem Kopfkino plastische Bilder entstehen, und Mitgefühl für die Protagonisten/innen entsteht. Das hast du auf jeden Fall geschafft; in einer knappen, unprätentiösen Sprache schilderst du die Vorgeschichte der Heldin,

Ich hatte meinen Mann umgebracht. Na und? Das Schwein hatte es nicht anders verdient.

Wieder und wieder hatte Maury mir Gewalt angetan, immer wenn er besoffen nach Hause kam. Wies ich ihn ab, nahm er mich trotzdem. Wehrte ich mich, schlug er zu. Natürlich wusste ich eigentlich, dass man solche Männer gleich nach dem ersten Mal verlassen muss. Dass man nichts darauf geben kann, wenn sie hinterher flennen und es ihnen leidtut und sie sich bessern wollen und versprechen, es werde nie wieder vorkommen. Dass es trotzdem immer wieder passiert und sich nichts und niemand jemals bessert. Aber ich war eben eine blöde Kuh, da hatte er sogar recht. Und irgendwann kam es mir so normal vor, dass ich aufhörte, mich zu wehren. Dann kam der Abend, an dem er wieder lange in der Kneipe blieb und mir die Weinflasche herunterfiel, mit deren Inhalt ich mich für das Unvermeidliche gewappnet hatte. Ich sammelte gerade die Scherben auf, als Maury zur Tür hereinkam. Er stand über mir und hatte diesen grauenhaften Blick in den Augen. Ich hockte vor ihm und hatte den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand. Da machte es Klick. Der Anwalt sagte, ich könnte mit dreißig Jahren davonkommen, wenn ich Reue zeigte. So wurde es eben lebenslänglich.


charakterisierst ihre Mithäftlinge (da fällt mir grad nicht die weibliche Form ein),
Dabei hätte ich eine wie Mina gerne als Tochter gehabt. Ein wahrer Engel, nicht nur vom Aussehen her. Sie war stark und selbstbewusst, aber dennoch freundlich und mitfühlend. Dank Trinidad besaß sie gleichzeitig ein Maß an Lebenserfahrung, das man einer Einundzwanzigjährigen nicht wünscht. Aber wäre sie meine Tochter gewesen, hätten wir natürlich keine Affäre begonnen. "Du siehst traurig aus", war das Erste, was sie zu mir sagte. Hinten im Wäschelager weckte sie Gefühle in mir, die mich keiner meiner Männer jemals erahnen ließ.
Rose hätte ich nicht als Tochter gewollt. Die Erfahrung, als Schwarze sich und der ganzen weißen Welt ständig ihre Ebenbürtigkeit beweisen zu müssen, hatte sie zynisch und kratzbürstig gemacht. Hochnäsig und besserwisserisch war sie vielleicht vorher schon gewesen. Sie und Mina waren wie Hund und Katze, aber der Polizeistaat hatte sie zu Schicksalsgenossinnen gemacht.
Komplett wurde unser Damenkränzchen durch Heather. Sie war die älteste von uns und schon am längsten hier; außerdem war sie eindeutig verrückt. Vielleicht wurde man das automatisch mit dem Namen. Sie war nicht so verrückt wie Ich-bin-Queen-Victoria-und-die-kleinen-weißen-Mäuse-tanzen-für-mich, sondern eher so wie Ich-ramme-dir-den-Suppenlöffel-ins-Auge-weil-du-versucht-hast-dich-bei-der-Essensausgabe-vorzudrängeln. Sie hat uns nie verraten, wofür sie einsaß, aber ich vermutete, dass sie ihre Eltern für ihre Namenswahl erschlagen hatte. Mina, Rose und ich hielten uns an Heather, weil sie uns beschützte. Was Heather an uns fand, ist mir bis heute nicht klar.

und beschreibst den Ausbruch der Damen sehr anschaulich. Da geht dann richtig was ab.
Endlich erwachte der Diesel des Radladers zum Leben. Die Schaufel hob sich, und der Koloss setzte sich ruckend in Bewegung. Auf halbem Weg Richtung Tor steuerte Heather den Lader ungebremst in einen Zaunpfosten, dessen Verlängerung als Mobilfunkmast fungierte. Krachend stürzte die Konstruktion ein. Da man es nie für lohnend befunden hatte, die Strafanstalt mit einem Festnetzanschluss auszustatten, konnte vorerst keiner mehr um Hilfe telefonieren. Heather setzte ungelenk zurück und peilte als nächstes die drei geparkten Autos an. Mit gesenkter Schaufel rammte sie seitlich den ersten Wagen, schob ihn in die beiden nebenstehenden und drückte alles zusammen mit Wucht gegen die kurze Mauer, die das vom Cadillac zerstörte Tor umrahmte. Mit diesen Wracks würde uns niemand verfolgen können.

Der Science- Fiction Anteil ist zwar gering und ich hätte mir auch mehr Dialoge gewünscht, aber alles in allem: guter Stoff!
Mich stört’s kein bisschen, dass sich alles in den Staaten abspielt, ich stelle mir gerade Baden-Württemberg oder Hessen vor – no way! Implantierte Chips oder Halsbänder, die mehr oder weniger heftig explodieren, so was gibt’s im home of the brave, in god’s own country.
Der erste, kursiv gesetzte Satz
Es gab keinen Knall. Sie seufzte nur kurz, und als ich zu ihr hinüberschaute, sah ich in ihren Augen Verwunderung und Trauer, aber keinen Schmerz. Dann brach ihr Blick, noch bevor das Blut aus ihrer Nase das Kinn erreichte.
ist übrigens Klasse und saugt einen in die Story rein. Das Ende würde ich unbedingt so lassen. Gefällt mir einfach: happy end …
Well done.

Herzliche Grüße
Harry

 

Alternatives Ende

Seit zwei Jahren leben Mina und ich nun in Vancouver. Dort genießen wir das kleine bisschen Glück, das wir gemeinsam haben. Wir arbeiten beide in einer Großwäscherei, wo wir uns immer zur selben Schicht einteilen lassen - gelernt ist gelernt, und man stellt dort keine großen Fragen. Einmal im Jahr zünden wir in der Kirche zwei Kerzen an, eine für Heather und eine für Rose. Wir haben noch niemanden gefunden, der uns die Implantate rausholen kann, ohne dass wir dabei eine Lobotomie riskieren, aber das ist uns mittlerweile egal. Wir bleiben einfach zusammen - bis dass der Tod uns scheidet.

In letzter Zeit mache ich mir Sorgen um Mina. Sie klagt seit Tagen über Schwindel, Übelkeit und Sehstörungen. Heute sehe ich schon beim Aufstehen, dass es ihr noch schlechter geht als gestern.
"Hey, guten Morgen. Wie fühlst du dich?"
"Bestens", flüstert Mina und versucht ein Lächeln. Dann übergibt sie sich in den Eimer, den ich gestern Abend neben ihr Bett gestellt habe. Als nichts mehr kommt, lässt sie sich auf ihr Kissen zurücksinken.
"Ich melde uns krank und bringe dich zum Arzt. So geht das nicht weiter mit dir."
"Ist bestimmt nur eine Grippe", murmelt sie und versucht aufzustehen. Als nach zwei Schritten ihre Beine nachgeben, kann ich sie gerade noch abfangen.
"Grippe am Arsch", sage ich. Mina hasst diese Ausdrucksweise, aber wenn ich Angst habe, kann ich nicht auch noch meine Sprache kontrollieren.

Der Schichtleiter in der Wäscherei putzt mich am Telefon runter, weil gleich zwei seiner Arbeiterinnen ausfallen, aber ich habe dringendere Sorgen als anderer Leute schmutzige Klamotten. Ich muss Mina fast schon tragen, als ich sie mit dem Bus zum UBC Hospital in die Sprechstunde bringe. Wenigstens lässt uns die Schwester nicht zu lange warten, nachdem sie Minas Zustand gesehen hat. Während ich ihr so gut ich kann die Entwicklung der letzten Tage schildere, verfrachtet sie Mina in einen Rollstuhl und bringt uns in ein Behandlungszimmer.

Der junge Arzt, der Mina untersucht, stellt sich als Dr. Blake vor. Nachdem wir die Standardfragen zu Drogen, Unfällen und Vorerkrankungen hinter uns gebracht haben, lässt er Mina zum Röntgen bringen. Anschließend warte ich mit ihr im Flur auf die Ergebnisse und sehe zu, wie sie immer blasser wird.
"Wir sollten nicht hier sein", sagt Mina mit schwacher Stimme. "Was, wenn wir noch immer auf den Fahndungslisten stehen?"
"Das glaube ich nicht. Und wenn, ist es mir egal. Du brauchst Hilfe, verdammt!"
"Du fluchst schon wieder", flüstert sie. Und nach einer Pause: "Lass mich nicht allein."
"Na, wie sollte ich wohl." Ich spüre, dass mein Grinsen eine schiefe Grimasse wird.
Dann ruft uns die Schwester wieder ins Sprechzimmer. "Der Doktor hat jetzt den Röntgenbefund für Sie."

Dr. Blake hängt gerade die Bilder an einer Leuchtwand auf. "Die Sache sieht leider recht ernst aus", eröffnet er uns. "Diese Schatten hier im vorderen Schädelbereich" - ich kann nicht erkennen, wovon er spricht - "sind höchstwahrscheinlich Blutungen. Da Sie keinen Unfall oder irgendetwas Ähnliches berichtet haben, wissen wir noch nicht, was die Ursache dafür ist. Aber eine Blutung würde auf jeden Fall Ihre Symptome erklären. Sie bewirkt eine Schwellung und erhöht den Druck im Gehirn, denn der Schädel gibt nun mal nicht nach. Und durch den Druck kommt es zu gewissen Ausfällen in der Hirnfunktion. Übelkeit und Schwindel sind fast immer der Anfang."

Während er spricht, wandert mein Blick weiter über die Röntgenbilder von Minas Kopf. Ich finde nur wenig Bekanntes darauf. Augen, Nase, Zähne - und dann ist da noch etwas...

"Normalerweise würden wir diesen Befund noch einmal überprüfen, bevor wir eingreifen", fährt der Doktor fort. "Insbesondere würden wir eine MRT-Untersuchung machen. Allerdings haben wir hier einen Fremdkörper in der Stirnhöhle gefunden. Können Sie mir dazu etwas sagen?"

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich kann nur den Kopf schütteln, während ich weiter auf die Bildwand starre. Minas Augen sind teilnahmslos auf den Boden gerichtet.

"Das ist bedauerlich", sagt Dr. Blake mit einem skeptischen Blick in meine Richtung, "aber nicht ausschlaggebend. Anhand der Lage des Objekts bin ich sehr sicher, dass es nichts mit den Hirnblutungen zu tun hat. Es ist vermutlich auch schon länger dort, denn es ist bereits mit viel Bindegewebe umschlossen. Allerdings deutet die Streuung auf dem Röntgenbild darauf hin, dass es metallische Anteile hat, und mit Metall im Körper können wir kein MRT durchführen."
"Und was können Sie dann tun?" frage ich flehend. "Es muss doch irgendetwas geben..."
"Aber natürlich", versucht mich der Arzt zu beruhigen. "Wir wissen ja bereits ohne MRT, dass wir es mit einer Blutung zu tun haben. Und da sich der Zustand Ihrer Freundin zusehends verschlechtert, wird bereits der OP vorbereitet. Wir werden zunächst eine kleinere Operation vornehmen, um das Gehirn vom Druck zu entlasten. Im Wesentlichen wird dafür ein kleines Loch in die Schädeldecke gebohrt, um Flüssigkeit abzuführen und so den Druck zu senken. Danach können wir weitere Untersuchungen vornehmen, und auch um diesen Fremdkörper kümmern wir uns später in Ruhe."

Den Rest seiner Erklärungen bekomme ich kaum noch mit, auch das weitere Geschehen sehe und höre ich wie durch einen Tunnel. Obwohl die Operation in großer Eile vorbereitet wird, muss vorher noch eine Menge an Papieren unterzeichnet werden. Mina unterschreibt mit zittriger Hand eine Verfügung, die mir das Weitere überlässt; ich zeichne alles ab, was man mir hinlegt. Als Mina dann in den OP-Saal gefahren wird, bleibe ich als heulendes Häufchen Elend im Flur zurück.

Es dauert eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei. Dann geht die große Doppeltür auf, und Mina wird auf einem Bett herausgeschoben. Man lässt mich nicht nah an sie heran, aber beim Anblick des Gewirrs von Schläuchen, Kabeln und Binden kommen mir wieder die Tränen. Erst nachdem Mina auf der Intensivstation untergebracht und an einen Haufen blinkender und piepsender Apparate angeschlossen ist, lässt man mich in Kittel und Überschuhe gekleidet an ihr Bett.

Mina ist noch in Narkose. Ihr Gesicht sieht entspannt und friedlich aus, obwohl es verquollen und an einigen Stellen blutunterlaufen ist. Aus ihrem Kopfverband ragen Schläuche, aus ihrer Nase auch; sie hat eine Kanüle im Arm und Kabel am ganzen Oberkörper. Ich sitze dicht am Bett und halte ihre eine freie Hand. Dr. Blake kommt herein und blättert in der Krankenakte, die er in der Hand hält.

"Die Operation ist sehr gut verlaufen", sagt er als Erstes, und eine Tonnenlast fällt von meinem Herzen. "Der Hirndruck ist reduziert, und wir haben einige Flüssigkeits- und Gewebeproben bekommen, die wir untersuchen können. Weil es so gut voranging, hat der Chirurg kurzfristig entschieden, auch gleich noch diesen Fremdkörper aus der Stirnhöhle zu entfernen, so dass wir schon morgen früh das MRT nachholen können."

Seine Worte treffen mich in die Magengrube wie einst Maurys Faustschläge. Mir ist plötzlich schlecht und der Raum scheint sich zu drehen, als hätte auch ich einen Überdruck im Kopf. "Dieser... Fremdkörper...", frage ich mühsam. "Wo... wo ist der jetzt? Könnte ich ihn sehen?"
"Wir haben ihn zusammen mit den anderen Proben ins Zentrallabor geschickt. Schließlich wollen wir doch wissen, worum es sich handelt, nicht wahr?"
"Und wo ist dieses... Zentrallabor?" bringe ich heraus.
"Im Vancouver General in der City, dort haben sie mehr Möglichkeiten als wir hier", antwortet der Doktor. "Aber machen Sie sich keine Sorgen," fügt er eilig hinzu, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. "Die Ergebnisse bekommen wir trotzdem sehr schnell. Das sind ja nur zehn oder zwölf Meilen, der Laborkurier verkehrt dreimal am Tag und ist immer äußerst pünktlich." Er blickt auf seine Armbanduhr. "Er dürfte in diesem Moment vom Hof fahren."

Ich starre ihn an und kann keinen klaren Gedanken fassen. "Was ist mit Ihnen?" fragt der Arzt besorgt, doch seine Stimme ist plötzlich weit weg. Mir wird kalt. Schweigend wende ich mich von Dr. Blake ab und vergrabe mein Gesicht an Minas Schulter. Ich weine. Und warte.

 

Hallo offshore,

Also ich zeige hiermit auf.
Her mit dem bösen Ende. :D

Hier (d.h. im vorigen Post) ist nun also auf allgemeinen Wunsch eines einzelnen Herrn das alternative Ende. Bin gespannt, was Ihr davon haltet.

Anmerkung vorab: Mir ist bewusst, dass es stilistisch nicht recht an die bisherige Geschichte anschließt. Ich habe versucht, so zu schreiben, wie ich mir die geplante größere Überarbeitung der Story vorstelle: ausführlicher, mit mehr Dialogen, weniger zusammenfassender Berichtston. Bitte versucht es unter diesem Blickwinkel zu bewerten, das hilft mir dann auch noch mal für den Gesamttext.

Und welches Ende ich dann in der finalen Version verwende, weiß ich noch nicht.

Grüße vom Holg...

 

Hallo Harry,

vielen Dank für das ausführliche Lob. Anscheinend haben wir ähnliche Vorstellungen von einer guten Geschichte, wenn Dir mein Text ebenso gefällt wie mir die Deinen.

Der Science- Fiction Anteil ist zwar gering

Ja, die SF steht nicht im Vordergrund. Ich hatte beim Posten der Geschichte versucht, die Tags in einer Reihenfolge anzuheften: Spannung, Krimi, Science Fiction. Aber die Forensoftware scheint das hinterher alphabetisch zu ordnen. Ob man das mal ändern könnte?

Mich stört’s kein bisschen, dass sich alles in den Staaten abspielt, ich stelle mir gerade Baden-Württemberg oder Hessen vor – no way!

Erbarme, die Hesse komme - mit Imblandade! :lol:

Das Ende würde ich unbedingt so lassen. Gefällt mir einfach: happy end …

Na, jetzt habe ich das alternative Ende ja gerade gepostet. Wenn ich es nicht in die Endfassung übernehme, kommt es eben nur zu den Extras auf die DVD. ;)

Grüße vom Holg...

 

Hallo Maria,

ready für eine Maria-Kritik?

Zu allem bereit und zu nichts zu gebrauchen, wie es so schön heißt.

Ich weiß jetzt nicht, ob es eine Länge braucht, damit der Hass zum Ehemann richtig funktioniert. Für mich persönlich war das irgendwie zu wenig.

Die vielfache Vergewaltigung in der Ehe ist Dir zu wenig? Da bist Du aber hart im Nehmen... :eek:

Schon klar, es geht um die Ausführlichkeit der Erklärung. Meine Absicht war, die Charaktere und ihre Vergangenheit kurz einzuführen; die Mehrheitsmeinung hier war, glaube ich, dass das auch ganz gut funktioniert. Der größere Fehler dürfte gewesen sein, dass ich dieses Fundament im Folgenden nicht hinreichend ausgenutzt habe. Das haben schon viele moniert.

Dieses „die mich“ ist ein Hänger im Text, so ein grässlicher, den ich mehrmals lesen musste. Ich würde das anders formulieren.

Kann ich ehrlich gesagt nicht nachfühlen. Der Satz mag gestelzt, kitschig, klischeebeladen klingen. Aber dass das "die mich" eine Klippe ist...? Oder lese ich Dich gerade falsch, und Du meinst den ganzen Halbsatz? Dann kann ich das akzeptieren.

Ooooh, immer diese bösen Islamisten =D

... womit ich hoffentlich niemandem auf den Schlips getreten bin. Ich wollte hier keinen komplexen politischen Hintergrund konstruieren, sondern nur eine kompakte Erklärung für dieses faschistoide Justizsystem liefern, um anschließend mit der eigentlichen Story in Gang zu kommen. Dafür brauchte ich eine Begründung, die auch vor dem kurzen Zeithorizont (nur wenige Jahre in der Zukunft) halbwegs plausibel ist.

Die Geschichte kommt mir so vor, als wäre sie ein Traum. Bruchstückhaft und sehr schnell. Du baust keine Nähe auf, sondern erzählst alles distanziert. Deine Prots sind interessant und doch werden sie mir keinesfalls sympathisch. Du beschreibst sie zwar sehr gut, aber es bleibt nur eine Beschreibung, kein Erlebnis. (...)

Vielleicht hast Du einen meiner späteren Posts gelesen, in welche Richtung ich die Geschichte umbauen will: nach der Einführung mehr Action, mehr Dialog, mehr Komplikationen und mehr Charaktertiefe. Ich hoffe, das löst einige der Probleme, die Du mit dem Text hast.

So … also, sie weiß, wer mit wem verbunden ist und statt den Namen ihrer Partnerin zu rufen, macht sie das spannend, in dem sie zwei von drei ruft. Sorry, aber das nehme ich dir nicht ab. Sie ist zwar verrückt, das hast du gesagt, aber sie opfert sich ja förmlich für die anderen drei und ruft dann diesen Satz? Nein, wenn sie es wie einen Witz rübergebracht hätte, dann hätte ich es vielleicht abgenommen, aber so kommt mir das eher so vor, als würde sie selbst für Spannung sorgen. Und so verrückt ist sie nicht. Das passt nicht. Das nehme ich nicht ab.

Also, meine Vorstellung war folgende: Heather steckt in der Falle und weiß, dass sie nicht entkommen kann. Theoretisch könnte sie sich zusammen mit den anderen (oder nur mit ihrer Partnerin, die sie ja kennt) wieder einfangen lassen; aber lieber lässt sie sich erschießen, als in diese Knasthölle zurückzukehren. Deshalb opfert sie sich, um den anderen ein paar zusätzliche Sekunden zu verschaffen. Also feuert sie die anderen an zu fliehen, indem sie auf ihre etwas skurrile Art darauf hinweist, dass zwei von drei (zu erwartende Überlebende) doch nicht schlecht seien.

Was wäre passiert, wenn sie den Namen ihrer Partnerin gerufen hätte? Dann wäre die mit Sicherheit stehengeblieben - für sich und für Heather - und die übrigen beiden hätten in der Zwickmühle gesteckt: abhauen und zwei Freundinnen zurücklassen oder sich mit einfangen lassen. Bis sie das entschieden hätten, hätten die Wachmänner sie gehabt.

Zugegeben, das steht so ausführlich nicht im Text...

Und das ist auch so ein fast erzwungenes Happy-End. Nach der Flucht hätte es enden sollen, das hättest du der Fantasie deiner Leser überlassen sollen. Ich mein, alles, was du danach beschreibst, hätte auch in meiner rosaroten Vorstellung stattgefunden.

Ich wünsche mir immer, dass die Kurzgeschichten hier im Forum länger sind und bei deinem hätte mir eine längere KG durchaus besser gefallen. Wäre sie länger, hättest du eine Atmosphäre aufbauen können, eine Nähe zu deinen Lesern und irgendwie hätte es mir dann, und da bin ich mir sicher, besser gefallen. Ich gehöre nicht zu denen, die sich vor der Länge abschrecken =D


Ist gekauft.

Außerdem gab es da einige Hänger im Text, bei denen ich den Satz mehrmals lesen musste, ehe ich es verstand, weil es eben so umständlich formuliert war. Also bei meinen Geschichten, und ich bin da ein Profi, passiert mir das andauernd und ich weiß nicht, wie ich dir da eine Hilfe sein soll, außer dass ich deshalb meckern kann :D

Ebenfalls akzeptiert. Bei der Großen Überarbeitung[SUP]TM[/SUP] werde ich mir jede Formulierung noch mal genau anschauen.

Und das hier ist eine Geschichte, bei der ich nicht genau sagen kann, ob sie mir gefallen hat, oder nicht. Na ja, die Idee ist gut, bei der Umsetzung habe ich wohl genug gemeckert. Auf alle Fälle: Du bist auf dem richtigen Weg und du schreibst Sci-Fi, das ich interessant finde. Also Kopf hoch.

Ist noch oben. Nach Deinem drohenden Einleitungssatz hatte ich eine schlimmere Abreibung befürchtet... ;)

Alter, bist deppat, wieso musste ich das alternative Ende erst jetzt lesen? Hättest du es nicht in die Geschichte einbauen können?

Ich war halt beim ursprünglichen Schreiben in einer ungewohnt positiven Stimmung... :D

Wurscht: Sie ist wieder interessant und doch so kurzgehackt wie die anderen Teile der Geschichte. Also, du baust schon eine Spannung auf, aber sie funktioniert einfach nicht, obwohl ich das mit der OP und dem Fremdkörper total cool finde und dann die Prot genau weiß, dass sie jeden Augenblick sterben wird. Das war cool. Aber an der Umsetzung happert es weiterhin :(

Oha, das ist schade. Wie ich im Post nach dem alternativen Ende angemerkt habe, hatte ich versucht, da schon eine etwas andere Richtung einzuschlagen. Ärgerlich, wenn das so gar nicht gelungen ist... :( Wenn Du da etwas spezifischer werden könntest, wäre das eine enorme Hilfe.

Grüße vom Holg...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Holg,

das ist ein netter Plot. Aus der Grundidee, mit den zwei zusammenhängenden Implantaten entwickelst Du die Flucht und schließlich das neue Leben der Erzählerin und Mina. Gefällt mir.

Vom Sprachlichen her finde ich es auch gelungen. Man kommt flüssig durch den Text, mir sind keine schrägen Formulierungen aufgefallen. Liest sich gut.

Aber: Mich stört die Perspektive. Deine Erzählerin erzählt zwar wunderbar anschaulich, und man hat das Gefühl, dass sie (eine Dose Bier in der Hand und eine Kippe zwischen den Lippen) direkt vor einem steht. Aber trotzdem oder gerade deshalb wirkt das Ganze wie ein Film im Film: Ich sehe nicht die Flucht, sondern ich sehe die Erzählerin, die von der Flucht berichtet.

Ich glaube, Du könntest das Ganze wesentlich dichter an den Leser bringen, wenn Du weniger zusammenfassend schreiben würdest und dafür mehr in die konkreten Szenen einsteigst. (Habe ich Dir das auch zu Deiner anderen Geschichte geschrieben? Muss ich gleich mal nachschauen.)

Der Trick besteht dann darin, die Metaebene der Geschichte durch Dialoge oder kurze Einschübe weiterzuführen. Also wenn Du beispielsweise so eine Löffel-ins-Auge-Aktion zeigst, muss der Leser einordnen können, warum Heather das tut.

Ein wichtiger Punkt beim Erzählen aus der Ich-Perspektive scheint mir zu sein, dass der Leser vergessen muss, dass die Geschichte für den Erzähler deshalb halbwegs glimpflich ausgehen wird, weil er ja schließlich in der Lage ist, die Geschichte zu erzählen. Gute Ich-Erzähler schaffen es, den Leser so mitzureißen und zu erschüttern, dass er beinahe damit rechnet, dass der Erzähler bei der Sache drauf geht, obwohl das natürlich unmöglich ist. Das gelingt nur, wenn die Wucht der Ereignisse aus größter Nähe erfahren wird. Also möglichst dicht ran an den Leser. Lass ihn Staub fressen und verbrannten Gummi riechen.

Vom Sprachlichen gefällt es mir gut – wie gesagt – und (vielleicht ist das der Grund) erinnert mich ein bisschen an meinen eigenen Schreibstil, wobei ich nicht so locker bin. Ich denke aber, dass der Schwerpunkt Deines Schreibtrainings jetzt eher in Richtung Perspektive, Dialog und szenische Darstellung gehen sollte, als in den Bereich des sprachlichen Ausdrucks. (Obwohl man sich da natürlich auch immer weiter verbessern kann.)

Hat mir gut gefallen. Ich freu mich auf Deine nächste Geschichte.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

ich freue mich, das Dir meine Geschichte gefällt. Deine Hinweise sind sehr präzise und hilfreich.

Mich stört die Perspektive. Deine Erzählerin erzählt zwar wunderbar anschaulich, und man hat das Gefühl, dass sie (eine Dose Bier in der Hand und eine Kippe zwischen den Lippen) direkt vor einem steht. Aber trotzdem oder gerade deshalb wirkt das Ganze wie ein Film im Film: Ich sehe nicht die Flucht, sondern ich sehe die Erzählerin, die von der Flucht berichtet.

Sehr gut umschrieben. Ich weiß genau, was Du meinst, und kenne den Effekt auch aus andere Geschichten, die ich gelesen habe.

Ich glaube, Du könntest das Ganze wesentlich dichter an den Leser bringen, wenn Du weniger zusammenfassend schreiben würdest und dafür mehr in die konkreten Szenen einsteigst. (Habe ich Dir das auch zu Deiner anderen Geschichte geschrieben? Muss ich gleich mal nachschauen.)

Hast Du nicht, glaube ich; da war das Problem wohl auch weniger ausgeprägt. (Dafür gab es andere.)

Mit dem Hinweis gehst Du in die gleiche Richtung wie einige andere Komms und hast völlig Recht. Ich arbeite an mir.

Ein wichtiger Punkt beim Erzählen aus der Ich-Perspektive scheint mir zu sein, dass der Leser vergessen muss, dass die Geschichte für den Erzähler deshalb halbwegs glimpflich ausgehen wird, weil er ja schließlich in der Lage ist, die Geschichte zu erzählen. Gute Ich-Erzähler schaffen es, den Leser so mitzureißen und zu erschüttern, dass er beinahe damit rechnet, dass der Erzähler bei der Sache drauf geht, obwohl das natürlich unmöglich ist.

Hast Du mein alternatives Ende gelesen? Ich habe es weiter unten im Thread gepostet, um die Originalgeschichte intakt zu lassen. Da habe ich versucht, diese Unmöglichkeit möglich zu machen. Was hältst Du davon?

Vom Sprachlichen gefällt es mir gut – wie gesagt – und (vielleicht ist das der Grund) erinnert mich ein bisschen an meinen eigenen Schreibstil, wobei ich nicht so locker bin.

Ja, das ist mir auch schon aufgefallen, dass unsere Stile nicht ganz unähnlich sind. Die Lockerheit hier ist auch nicht so sehr meine, sondern die, die ich der Protagonistin/Erzählerin unterzuschieben versuche.

Ich denke aber, dass der Schwerpunkt Deines Schreibtrainings jetzt eher in Richtung Perspektive, Dialog und szenische Darstellung gehen sollte, als in den Bereich des sprachlichen Ausdrucks. (Obwohl man sich da natürlich auch immer weiter verbessern kann.)

Kein Widerspruch. Ich habe ja auch im Laufe der Diskussion schon erwähnt, dass ich mich an einer XL-Version dieser Story versuche, die diese Kritikpunkte anpackt. Ist aber zeitlich recht schwierig.

Vielen Dank für Deine Anregungen!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Holg,

jo, gelesen, das Alternativ-Ende. Ich hatte vorher die Kommentare nicht gelesen, um unvoreingenommen an den Text zu gehen. Jetzt sehe ich, dass ich vieles nur wiedergekäut habe, was die anderen geschrieben haben. Hm.

Okay. Das Alternativ-Ende. Ich finde, Du machst da einiges besser, als im Haupttext. Du gehst ins Szenische und Du führst den Plot durch Dialoge weiter. Das ist gut.

Aber die Reaktion des Arztes auf einen Fremdkörper in der Stirnhöhle, na, das muss der Leser erst mal schlucken. Ich kenne Röntgenbilder von meiner Berufsausbildung her. So ein Implantat müsste dramatisch auffallen. Dass der Arzt da so drüber hinweggeht, nach dem Motto "Das spielt jetzt erst mal keine Rolle", das befremdet ein bisschen.

Der Twist selbst ist natürlich ein Hammer: Nach all der Mühe, kommt am Ende das Scheitern. Das ist ziemlich finster.

Gern gelesen.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus!

Okay. Das Alternativ-Ende. Ich finde, Du machst da einiges besser, als im Haupttext. Du gehst ins Szenische und Du führst den Plot durch Dialoge weiter. Das ist gut.

Freut mich, dass das besser funktioniert. Ich hatte ja die Absicht, damit stilistisch schon in Richtung der Überarbeitung für den Gesamttext zu gehen.

Aber die Reaktion des Arztes auf einen Fremdkörper in der Stirnhöhle, na, das muss der Leser erst mal schlucken. Ich kenne Röntgenbilder von meiner Berufsausbildung her. So ein Implantat müsste dramatisch auffallen. Dass der Arzt da so drüber hinweggeht, nach dem Motto "Das spielt jetzt erst mal keine Rolle", das befremdet ein bisschen.

Hmmm ... die Idee war nicht, dass er das achselzuckend abtut, sondern dass er sich zuerst um das unmittelbar lebensbedrohliche Problem kümmert. Prio 1a und 1b sozusagen. Kann ich sicher klarer ausdrücken.

Der Twist selbst ist natürlich ein Hammer: Nach all der Mühe, kommt am Ende das Scheitern. Das ist ziemlich finster.

Ja, finster fand ich's auch. Deshalb ist es auch nur das alternative Ende. Obwohl ich noch nicht weiß, wie ich die überarbeitete Fassung enden lassen werde. Manchmal (naja, oft) mag ich's auch düster. :)

Spaß gemacht hat es auch, die Annahme des Lesers zu widerlegen, dass die Ich-Erzählerin sowieso überlebt, weil sie ja sonst nicht erzählen könnte. Den Ansatz habe ich natürlich nicht neu erfunden, aber m.E. ist er noch nicht so abgegriffen, dass man ihn nicht immer noch effektvoll verwenden könnte. :D

Gern gelesen.

Das freut mich sehr!

Grüße vom Holg ...

 

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