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Treppen

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05.06.2004
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Treppen

Er ging langsam, schleppte sich fast. Er wusste nicht, woher er kam oder wohin er ging. In seinem Kopf hämmerten Gedanken, doch er konnte keinen von ihnen fassen. Er schlurfte den unendlich langen Flur entlang. Zu seinen Seiten waren traurig aussehende, graue Wände und über ihm eine trostlos farblose Decke. Sie schien zu seiner Stimmung zu passen.

Er blieb einen Moment stehen und schaute aus einem der schmutzigen Fenster, die in die rechte Wand eingelassen waren. Draußen war es dunkel. Es regnete. Das übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Er ging weiter, mit aufrechtem Blick aus seinen dunkelblauen Augen. Er sah am Ende des Flurs eine Tür. Sie war nicht allzu weit entfernt. Sie kam immer näher. Schließlich stand er vor ihr. Sie war dunkelgrün, mit einer schwarzen Klinke. Zögernd legte er seine Hand darauf und drückte sie nieder.

Auf der anderen Seite, hinter der Tür, lag ein vollkommen dunkler Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er ließ sich an der Wand entlang auf den Boden gleiten. Er hörte sein Herz schlagen. Seinen Atem keuchen. Seine Zähne klappern. Und er fühlte, wie seine Hände zitterten. Was hatte er getan? Was hatte er vor? Er tastete seine Kleidung ab. Er trug ein zerrissenes Hemd, das früher wohl einmal weiß gewesen war. Darüber eine braune Weste. Und eine ausgefranste Jeans. Seine Schuhe musste er verloren haben, als er weggelaufen war. Er hatte es nicht gemerkt.

Auf einmal stockte ihm der Atem. Er hörte Geräusche. Er sprang auf. Vorsichtig streckte er die Arme aus und ging blindlings geradeaus, in dem dunklen Raum. Er tat drei oder vier Schritte, als ihm ein seltsamer Instinkt davon abriet, weiterzugehen. Er senkte seinen linken Arm ab, bis er etwas in der Hand hielt, ein Geländer. Er hob den rechten Fuß und setzte ihn ganz langsam wieder auf, eine Stufe höher. Dann zog er den linken Fuß nach, auf die nächste Stufe. So machte er weiter, während er die Stufen zählte. Nach genau zwanzig stand er wieder auf einem ebenen Stück. Vor ihm lagen weitere zwanzig Stufen, die zu einer zweiten Ebene weiter oben führten, diesmal in einen schwachen Lichtschein gehüllt. In Zeitlupe, fast schüchtern stieg er auch diese hinauf, halb ängstlich, halb neugierig auf das, was ihn dort oben erwartete. Auf der letzten Stufe genehmigte er sich einen Blick nach links und rechts. An beiden Seiten war jeweils eine dunkelgrüne Tür mit schwarzer Klinke. Vor ihm eine Wand.

Er überlegte kurz, wählte dann die linke Tür. Als er sie öffnete, hatte er ein seltsames Gefühl. Sie schwang auf und gab ihm den Blick auf einen großen, weißgestrichenen Raum frei. Er trat ein. Der Raum führte um eine Ecke. Oben, nahe der Decke, waren überall kleine Fenster eingelassen, die das trübe Licht der späten Nacht hereinließen. Er fing an zu laufen. Und doch war es nicht dasselbe. Es würde nie wieder dasselbe sein. Seine Schritte führten ihn um die Ecke. Er stand vor einer Glastür. Sie führte auf ein mit Kieselsteinen bestreutes Dach, das hoch über dem Boden lag. Und dort, am anderen Ende, saß ein junges Mädchen.

Er erkannte schon beim Näherkommen, dass sie rotbraune Haare hatte. Sie gingen ihr bis zu den Schultern. Er blieb hinter ihr stehen. Langsam und anscheinend überhaupt nicht überrascht drehte sie sich um. Er blickte in ihre hellgrünen Augen, schaute in ihr offenes, freundliches Gesicht, das mit vereinzelten Sommersprossen übersät war. Verlegen blickte er zu Boden.
„Hallo“, sagte sie mit einer klaren Stimme. „Ich bin Maya.“ Er lächelte leicht. „Schöner Name.“ Dann blickte er auf. „Ich bin Nio.“ Sie lächelte zurück, doch ihre Augen blieben schwermütig. Sie wand sich wieder der Aussicht über den See zu. Sie stellte keine weiteren Fragen. Sie wusste, dass er auf der Flucht war, genauso wie sie auch. Und er wusste, was sie vorhatte.
Er drehte sich um und rannte zurück. Über die Kieselsteine, durch die Glastür, durch den weißen Raum, durch die noch offenstehende Tür. Er rannte weiter, zu der anderen Tür. Er riss sie auf und stürmte das dahinter liegende, erleuchtete Treppenhaus hinunter. Er spürte jede einzelne Stufe unter seinen Füßen. Und jede einzelne schien ihm etwas zu sagen. Er rannte weiter, er spürte, dass ihm der Atem ausging, doch er rannte weiter. Die Treppenstufen schienen niemals aufhören zu wollen.

Doch dann stand er unten. Ganz unten. Er stieß vollkommen erschöpft die Tür auf und stand draußen. Auf dem Boden. Er tauchte in die ersten Sonnenstrahlen des Tages ein. Er stand am Ufer des Sees.

Er blickte am Turm entlang hoch und sah einen kleinen Punkt, ganz oben. Er sah etwas kleines rotes von dort oben herunter fallen, bis es schließlich vor ihm landete. Es war ein seidenes Halstuch. Und darin war eine Halskette mit einem blauen Stein eingewickelt, der genau die Farbe seiner Augen hatte. Er wand seinen Blick ab und begann, sich langsam zu entfernen. Mit jedem Schritt, der ihn von dem See und dem Turm wegführte, wurde ihm etwas klarer. Schließlich stand er im Wald.

Er hatte sie gekannt.
Er hatte Maya gekannt.

 

Hi Liuri,
ziemlich bedrückende Stimmung, die Du da rüberbringst. Der Spannungsaufbau ist Dir gelungen. Stilistisch gefällt sie mir auch sehr gut.
Kleinkram:

schaute in ihr offenes, freundliches Gesicht, das mit vereinzelten Sommersprossen übersät war
:confused:
meiner Meinung nach hat sie entweder vereinzelt Sommersprossen im Gesicht, oder es ist übersät davon. Beides gleichzeitig will mir nicht einleuchten.
schaute in ihr offenes, freundliches Gesicht, ...-.... ihre Augen blieben schwermütig
:hmm:
Wiederspricht sich irgendwie.
Ansonsten habe ich mich gut unterhalten. :thumbsup:
Liebe Grüße, Susie

 

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