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Treffen mit Simon
Birke kommt hinter seiner Kamera hervor und zückt ein Taschenmesser mit schwarzem Griff. Als er die Spitze an meine Brust setzt, ziehe ich den Bauch ein.
„Hast du Angst?“, fragt er. Ich schüttele den Kopf, schließe die Augen und warte auf den Schmerz. Er kommt nicht. Ich öffne die Augen und blicke mich in meinem Zimmer um. Keine Kamera und auch kein toter Photograph, der mir Wunden verpasst. Ich bin auf mich allein gestellt.
In der Bibliothek blättere ich durch Birkes Vermächtnis. Hunderte von Körpern auf sechshundert Seiten hochwertigen Papiers. Drei Kilo Essenz von Randgruppenästhetik, die Birke filtriert hat.
„Dir ist klar, dass du einen Auftrag hast?“
Von einem Selbstportrait sieht Birke mich mahnend an, den Kopf ins Halbprofil gedreht, die Haare zurückgestrichen, dunkle Schatten auf seinen hohlen Wangen.
Ich nicke und schiebe den Band zurück an seinen Platz. „Bald hole ich dich.“, flüstere ich und fahre mit den Fingerspitzen über den rauen Leinenbezug.
Hinter mir fällt ein Buch auf den Boden. Ich drehe mich um und sehe einen Jungen, der sich an den Regalen zu schaffen macht. Auf seinem rechten Arm balanciert er drei schwere Bände, den freien streckt er nach oben, um ein Buch an seinen Platz zu stellen. Das Gefallene liegt neben seinen Schuhen. Als er die linke Hand frei hat, legt er den Rest ab und trägt die Bücher eins nach dem andren irgendwohin, stellt sie ab und rückt im Vorbeigehen die Buchrücken alle auf eine Linie.
Ich drehe mich um und ziehe den Birkeband aus der Kunstabteilung und stelle ihn in die Literatursektion. Dann gehe ich.
Am nächsten Tag steht Birke zwischen Arcimboldo und Caravaggio. Ich muss grinsen, doch es vergeht mir bei dem Gedanken, dass es anscheinend jemanden gibt, dem ein Fehlen des Bandes auffiele.
Mit einem Wörterbuch setze ich mich zu ihm an den großen Tisch. Er an einem Ende, ich am andren. Kurz blickt er auf, ein skeptischer Blick, aber nicht in die Augen. Es ist Nachmittag und niemand außer uns noch hier. Ich werfe einen Blick auf das Buch, das vor ihm liegt. Ein Bildband über den Mars.
„Aha …“, mache ich, „Da sind wir also auch schon? Auf der Suche nach Leben? Wir akzeptieren ja nicht mal alle Individuen unserer eigenen Spezies.“ Einen Moment schweige ich, um auf seine Reaktion zu warten, doch da kommt nichts. „Auf der anderen Seite … die Kunst macht auch nichts anderes, als sich neue Räume zu erschließen. Nur sind es eben geistige. Es ist immerhin auch eine Aussage über den Menschen, dass er so was tut. Trotzdem bleibt es paradox, in Anbetracht der Probleme, die wir hier haben.“ Ich gebe auf, als der Junge sein Buch zuschlägt und vor sich hinstarrt. Bis auf seinen hörbaren Atem ist es still. Tiefes Ein- und Ausatmen.
Wahllos schlage ich eine Seite im Wörterbuch auf, blättere, als suche ich nach einem Wort. Dann packe ich Stift und Heft aus, beginne Vokabeln zu notieren. Als ich das tue, steht der Junge genervt stöhnend auf. Wahrscheinlich hat er gehofft, ich würde gehen.
Sorgsam schiebt er den Band, in dem er geblättert hat, zwischen die anderen und beginnt seine Ordnungsrunde. Wenige Momente später nutze ich die Gelegenheit.
„Wer hat dich dazu verdonnert, den Bibliothekar zu spielen?“
Er zögert mit einer Antwort, fährt im Vorbeigehen mit den Fingern über die Buchrücken. „Mich hat keiner verdonnert.“
„Und warum machst du das?“
„Weil Systeme ihren Zweck nicht mehr erfüllen, wenn sie durcheinander geraten. Du sollst Bände mit der Kennzeichnung Ku nicht hinstellen, wo nur welche mit Lit hinkommen.“
„Und was machst du, wenn ein Buch ausgeliehen ist?“
„Dann schaffe ich Platz und sorge dafür, dass er noch frei ist, wenn das Buch nach den geregelten drei Wochen, mit Verlängerung maximal fünf Wochen, zurückkommt.“
Ein paar Minuten bleibe ich sitzen und überlege. Eigentlich kann mir ein verschrobener Fünftklässler egal sein. Stift und Papier verschwinden in der Tasche, dann gehe ich rüber zur Kunstabteilung und packe den Birkeband ein.
Als ich die Bibliothek verlassen will, ruft mir der Junge hinterher.
„Das darfst du nicht. Stell ihn zurück!“
Ich winke, ohne mich umzudrehen und greife gerade nach der Türklinke, als das Kind an der Tasche zieht, mir den Trageriemen von der Schulter reißt und mit meinem ganzen Gepäck in die Kunstabteilung rennt. Bis ich da bin, hat er den Bildband rausgenommen und an sich gedrückt.
„Jetzt hör aber mit deiner scheiß Ordnung auf“, blaffe ich ihn an. Als meine Hand ihm nahe kommt, um die Tasche zu greifen, kneift er die Augen zu und fängt zu kreischen an.
Schnell hebe ich die Hände und entferne mich ein Stück. Ich komme mir dämlich dabei vor, ein kleines Kind zum Heulen gebracht zu haben.
Schlagartig hört er auf zu schreien, stellt schwer atmend den Band ins Regal, sorgt dafür, dass alle Buchrücken auf einer Linie stehen und geht dann an mir vorbei.
„Simon!“, ruft einer durch die Pausenhalle. Der Junge aus der Bibliothek blickt sich um, geht aber weiter. Der andere rennt los und packt Simon an der Schulter. „Bleib mal stehen, oder raffst du’s nicht?“
„Ich habe keine Zeit, Patrick!“ Simon zieht fahrig die Schulter unter seiner Hand weg und läuft unbeirrt Richtung Ausgang.
„Hey Simon!“, Patrick verzerrt das Gesicht, hebt den Arm und schreit „Marsattacks!“ Im nächsten Moment sitzt er auf Simons Rücken und tut so, als reite er auf einem Rodeo-Bullen.
Andere Kinder stehen drum herum und lachen, rufen: „Simon die heiße Herdplatte – nicht anfassen!“ Ich beschließe zurück in die Bibliothek zu gehen um den Birkeband zu holen. Hinter mir wird Simons Schreien immer höher.
Am Abend wühle ich durch Fotomagazine. „Landschaft, Portrait und Stillleben - wie Sie das perfekte Foto schießen“ Mit rotem Stift schreibe ich über die Fresse eines engelsgleichen Models in weichem Licht: „Gleichgeschaltete Photographie – wie sie alle dasselbe Bild machen“
Aus der Schublade ziehe ich das Taschenmesser mit dem schwarzen Griff, lasse die Klinge springen und steche auf den Stapel Zeitungen ein. Mit Kraft schaffe ich es bis zur Tischplatte, halte mich selbst nicht auf dem Stuhl, stoße ihn um und werfe zerfetztes Papier durchs Zimmer. Sehe die scheinheilige Perfektion so wie sie gehört: Zerstört am Boden und ich brülle sie an, die zerknitterten Papierengel.
Plötzlich halte ich inne. Aus meiner Tasche ragt der Bildband. Ich knie mich davor und ziehe ihn raus, schlage die ersten Seiten auf, kann aber nicht sehen, was sie zeigen.
Das schreiende Gesicht Simons schiebt sich vor die Bilder Birkes.
Nach Schulschluss betrete ich die Bibliothek. An seinem großen Tisch sitzt Simon vor dem Bildband. Als ich in sein Blickfeld trete, schaut er auf und direkt an mir vorbei. Ich könnte das gar nicht. Ich sehe Unbekannte an und ernte irritierte Blicke die fragen: „Kennen wir uns?“ Manchmal ist auch ein Hauch von Unwohlsein in den Augen der Gesehenen.
„Simon?“, frage ich und gehe ein paar Schritte auf den Tisch zu. Der Junge weicht zurück, fast tierhaft, nimmt die Hände vom Buch und schiebt den Stuhl nach hinten.
„Du verpetzt mich doch nicht?“, frage ich, „Weil ich den Band genommen habe.“
Mit beiden Händen stütze ich mich auf die Tischplatte, beschließe, das Thema zu wechseln „Ich habe gesehen, wie sie dich angegriffen haben.“
Er blickt auf, scheint diesmal auf meine Schulter zu starren. Ich sehe ihn an, versuche seinen Blick zu fangen, doch er huscht mir davon.
„Du weißt nicht, warum mir die Bilder in dem Buch so wichtig sind. Birke hat das, was keiner sieht zugänglich gemacht. Er hat den Schmerz verkehrt und aus ihm eine produktive Kraft gemacht.“
„Schmerz ist da, um uns vor Gefahren zu schützen“, sagt Simon, wie auswendig gelernt, steht auf und stellt sein Buch weg.
„Ich weiß, und das wird er tun“, flüstere ich, drehe mich um und gehe. Als ich zurückblicke, nimmt Simon ruckartig den Blick von meinem Rücken und starrt ins Regal.
Auf der Treppe gegenüber der Jungentoilette warte ich. Der Unterricht wird heute geschwänzt. Die siebte Stunde hat begonnen, für die Fünftklässler ist jetzt Schulschluss.
Nach einer Weile kommt Patrick vorbei. „Hey!“, rufe ich. Er bleibt vor der Treppe stehen und sieht zu mir hoch. Langsam erhebe ich mich und steige die sieben Stufen zu ihm runter.
„Willst du mal was machen?“
„Was denn?“, fragt er und verzieht das Gesicht zu einer abwertenden Grimasse.
„Kleiner Gangster, he? Schon mal geraucht?“
„Klar“, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich nehme die Hand aus der Tasche und öffne ein Zigarettenpäckchen, ziehe einen Stängel raus und lasse ihn zwischen den Fingern wandern.
„Komm mit“, sage ich und gehe in die Toilette, strebe die letzte Kabine an.
Patrick folgt mir. „Nach dir“, sage ich und schließe die Tür hinter meinem Rücken. Er sieht mich gespannt an, die Hände in den Taschen seiner zu großen Hose. Erneut hole ich vor seinen Augen das Päckchen aus der Tasche, kippe mir alle Zigaretten auf die Hand, nehme sie zu einem Bündel und zerquetsche sie. Der Tabak rieselt auf die Erde, Patrick starrt mich an. „Bist du dumm, Mann?“
„So reden Fünftklässler?“, frage ich.
„Alter, das sind mehr als fünf Euro. Was machst du?“
Ich starre ihn an, ziehe vor Ekel die Mundwinkel runter, der Unterkiefer schiebt sich vor. „Du Widerling“, flüstere ich.
„Wer hat dir denn ins Hirn geschissen, was bist du denn fürn Freak?“, er lacht auf und will mich zur Seite schieben, fliegt aber gegen die Wand und starrt schielend auf die Messerspitze zwischen seinen Augen. Plötzlich ist er still, atmet nicht mehr, versucht panisch auf die Schüssel zu klettern, rutscht mit dem Fuß ab und landet direkt im Becken. Wasser spritzt hoch, sein Hosenbein saugt sich voll.
Ein weiterer Versuch, er probiert sich an der Trennwand hochzuhieven, ich ziehe am trockenen Hosenbein. Er fällt und steht mit beiden Beinen im Wasser. Tränen oder hochgespitzte Klobrühe rinnen über sein Gesicht.
Ich lehne mich gegen die Tür, hebe mein Hemd und setze einen Schnitt über dem Bauchnabel an.
„Siehst du diese Scheiße?“, sage ich, und fasse in die Wunde, strecke ihm meinen blutverschmierten Zeigefinger entgegen, „Siehst du, was ihr tut? Du und deine Freunde?“
Seine zusammengepressten Beine zittern, seine Augen sehen aus, als wolle er sie ins Klo scheißen.
Der Schmerz ist befriedigend, ich schiebe das Hemd weiter hoch, schneide tief ins Fleisch unter die Rippe, mein Traum ist es, den Knochen einzukerben. Ich stochere mit dem Messer darin rum, in der Wunde, im blutgefluteten Fleisch. Dann nehme ich die Messerspitze von mir und nähere sie langsam Patrick.
„Es fließt wegen dir, der du dich auf die Rücken anderer wirfst und sie knechtest – obwohl du und deines Gleichen die größten Sklaven unter allen seid“, flüstere ich schnell und deutlich, halte ihm das Metall an die Lippen. Meine Finger umschließen die Luft um seinen Hals. Kein Druck, aber er bekommt Atemnot. Ein Stillstand, der nicht meine Schuld ist.
„Placebo-Effekt? Bilde dir nicht ein, ich erwürge dich. Das bist du mir nicht wert.“
Seine kleine, rosa Zungenspitze schiebt sich zwischen den Lippen hervor, ich komme ihm mit dem Metall entgegen, streiche es darüber, bis kein Rot mehr dran ist. Dann hebe ich Patrick an der Hüfte aus dem Klo und öffne die Tür.
Beim Laufen spüre ich das Blut aus den Wunden sickern. Mein schwarzes Hemd durchnässt, klebt an meiner Haut. An der Türklinke zur Bibliothek hinterlasse ich eine rote Spur.
„Bist du hier, Simon?“, rufe ich, ohne eine Antwort zu erhalten. Auf dem großen Tisch liegt der Marsbildband, aufgeschlagenen, daneben Simons Rucksack. In der Ecke liegt ein Schuh. Ich hebe ihn auf und nehme ihn mit. „Simon?“ Ich gehe durch alle Reihen, in der letzten kauert er an der Wand und weint, den rechten Fuß nur von einer Socke bekleidet. „Was ist los?“, frage ich, „Hey, den hast du verloren. Fang!“, ich werfe ihm den Schuh zu, Simon hebt die Arme, verfehlt das Objekt aber.
Neben ihm gleite ich mit dem Rücken die Wand runter. Als ich sitze und die Arme auf die angewinkelten Knie lege, rückt er weg.
„Ist es wegen der Kerle vorgestern? Ich hätte dir helfen sollen, aber …“
Simon schüttelt den Kopf.
„Weil ich komisch geredet habe? Weil ich das Buch weggenommen habe? Ich … war dumm. Wenn es dich so fertig macht, stelle ich es zurück. Simon …“ „Sei still!“
Unter meinem Hemd pulst das Blut in den Stoff, mit dem Fingernagel drücke ich hinein. Ich schließe die Augen und drücke den Hinterkopf gegen die Wand. Ich müsste jetzt nach Hause und fotografieren.
Neben mir steht er auf, ich blicke hoch und rufe: „Simon! Warte.“
Ohne mich anzusehen bleibt er stehen.
„Wärest du gerne Astronaut? Künstler sind welche.“
Ich greife in meine Tasche, wische das Blut an der Jeans ab.
„Du kannst nicht fangen, oder?“, frage ich, „Aber tu mir den Gefallen.“ Mit Schwung werfe ich ihm die Kamera entgegen, panisch blickt er für den Bruchteil einer Sekunde in meine Augen, das erste Mal überhaupt, dann fällt das Buch aus seinen Armen und die Kamera in seine Hände.
„Zeig mir deinen Planeten, Simon“, sage ich, stehe auf, schultere meine Tasche und hebe im Vorbeigehen das Buch zu seinen Füßen auf.
„Fragen und Antworten für Eltern autistischer Kinder“, lese ich den Titel vor, „Habe ich mir fast schon gedacht“, sage ich, „Soll ich es dir ausleihen?“
Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, nickt leicht und flüstert ein „Danke“
Mit dem Buch gehe ich an den Computer, gebe meinen Schülercode ein und trage die Nummer vom Buchrücken ein. Aus der Mitte ziehe ich ein Bild heraus. Eine Strichmännchen-Familie von der einer sich die Ohren zuhält und statt Punkte, Striche als Augen hat.
„Was soll ich mit der Kamera?“
„Hast du dich darin wiedererkannt?“ Ich halte das Strichmännchen-Bild hoch. Simon sieht zögerlich an mir vorbei, dann nickt er. „Mit der Kamera“, sage ich, „Findest du solche Bilder. Richte sie auf das, was du siehst. Dinge, von denen du denkst, sie sagen was über dich aus, oder Sachen, die andere übersehen.“
Ich gebe ihm das Buch und streife seine Finger, durch die dabei ein leichtes Zucken geht.
Von den Toilettenkabinen vor die Kamera. Immer weniger muss ich schneiden um zu schockieren, weil allein der Anblick meines Oberkörpers der Horror für feige Fieslinge ist. Große Augen, nasse Hosen und erdrückte Schreie. Kleine Menschen in denen das Böse keimt, mit Blut ertränkt. Der Zweite und der Dritte an einem Tag, dem Morgen nach der Premiere. Eine Show, für die ich ausgebucht bin. Sie ist der Hammer, ein Erfolg. Vormittags der Grundstein für die Arbeit am Abend gelegt. Alles in allem den Lohn der Zukunft im Blick.
Mit schwarzer Tinte auf einer glühenden Nadel notiere ich, wem die zukünftigen Narben zuzuschreiben sind. Patrick, Alex, Nils. Für die Bilder reiße ich Altes neu auf, füge hinzu, ziehe Rahmen um die kleinen Werke, die zum Größeren Kunstwerk beitragen.
Laufe durch die Schule und rieche Eisen, spüre Wärme und heftiges Pulsieren. Ich bin der Augenöffner, der Missionserfüller. Im Namen Birkes. Gebe Verstümmelungen einen Sinn. Kritischer Körpereinsatz.
„Schluss! Mit! Verletzungen!“ Ich lasse die Hose runter und beginne auf dem rechten Oberschenkel, presse mich gegen die Tür und beiße auf die linke Hand. Das Messer fällt zu Boden, ich drücke die Hand auf das Loch in meinem Fleische. Ernte den Wein der Erkenntnis und überreiche ihn dem, der zu läutern ist. Diesmal zwinge ich ihn, sein Werk selbst zu unterschreiben. Zitternd stößt er mir die heiße Nadel ins Bein.
„Warum humpelst du?“ Simon sieht von seinem Buch auf und schaut mir in die Augen. Ich lächle.
„Zeig mir deine Bilder“, sage ich, und nehme ihm gegenüber Platz. Er holt die Kamera aus seiner Tasche und schiebt sie mir rüber.
„Da ist ein Blutfleck auf deiner Hose“, sagt er, „Er kommt von innen und wird größer. Du blutest.“
Ich winke ab und öffne die Bildansicht auf dem kleinen Monitor der Kamera.
„Tun sie dir noch Gewalt an?“, frage ich wie beiläufig und gehe durch Simons Fotos.
„Du bist verletzt. Damit muss man zum Arzt.“
Nahaufnahmen von Alltagsgegenständen in außergewöhnlichen Bildausschnitten, Kombinationen von Gegenständen. Das Bild eines Knopfes, ein paar Bilder später der Ausschnitt einer Knopfleiste, auf der ein Knopf fehlt. Auf einem Foto erkennt man einen Kühlschrank, von dem jedoch ein Ausschnitt verdeckt ist, was ein Finger auf der Linse der Kamera sein muss.
„Was ist das?“
„Das ist Lauch, der da nicht hingehört.“
Ich drücke die Hand auf die Wunde. „Das sind gute Fotos. Macht es dir denn Spaß?“
Simon klappt das Marsbuch zu und legt die Hände darauf.
„Ja, es macht Spaß. Aber du blutest. Und eine Wunde muss gereinigt, desinfiziert und verbunden werden.“
„Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns morgen“, ich stehe auf, nehme meine Tasche vom Boden und gehe die wenigen Schritte zu Simon. Neben sein Buch lege ich die Kamera. In einer ungeschickten Bewegung zieht Simon die Hände weg und schmeißt sein Buch runter. Ich bücke mich, um es aufzuheben und lege es vor ihm auf den Tisch.
Einen Moment starren wir beide auf den Handabdruck, der jetzt den roten Planeten ziert.
Aus Simons Händen werden Fäuste, kurz, dann lösen sie sich und greifen nach der Kamera, die an mir vorbei, ins Regal hinter mir fliegt.
„Simon! Es tut mir leid!“, schnell versuche ich mit dem Ärmel drüber zu wischen, aber wieder sind Simons Hände schneller und das Buch landet in der Ecke. Mit geschlossenen Augen sieht er mich an, und dieser Nicht-Blick ist das Vorwurfsvollste, das ich je gesehen habe. Dann kommt Simons Schrei.
Irgendwann ist sein Anfall vorbei. Hilflos stehe ich daneben, er zittert, hebt seine Tasche auf, nimmt den Bildband aus der Ecke und schiebt ihn ins Regal, als sei er nicht blutverklebt. Dann höre ich die Büchereitür zufallen. Das letzte Geräusch vor der Stille, in der das Echo von Simons Schrei nicht verklingt.
Meine Tasche gleitet lautlos auf den Boden, meine Schritte höre ich nur gedämpft. Ich gehe zum Regal und nehme die Kamera raus. Sie ist noch intakt. Von draußen höre ich Stimmen. Lehrer kommen. Der Selbstauslöser blinkt, mit jedem Mal öffne ich einen Knopf meines Hemdes.
Es gleitet von den Armen, als ich die Schulleiterin mit einer weiteren Kollegin durch die Glastür kommen sehe. Zur Begrüßung strecke ich ihnen meinen nackten Körper entgegen, der im Blitz hell aufleuchtet.
„Das wurde mir angetan“, sage ich und lasse die ausgestreckten Arme langsam sinken, „Und jetzt, nehmt mich fest.“