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Translucent
»Am Anfang ist es echt tschüsch, Tata«, sagt Bea.
Hinter meiner Stirn das erste Fragezeichen des Tages. Ich habe zwar gehört, dass man die Knochen danach sehen kann, doch glauben kann ich es erst, als ihre bläulich schimmernde Hand in meiner liegt. Wächsern. Unnatürlich. Obwohl die Temperatur unverändert bleibt, wie sie versichert, fühlt es sich auf meiner Hand an wie nasser Fisch. Die Knochen schimmern wie milchige Wolkenstränge durch die gallertartige, trübe Masse, davor zucken winzige rote Gefäße. Oben auf dem Handrücken der weiße Strecksehnenfächer, in gespenstischer Aktion. Über meinem Rücken hat jemand Stecknadeln ausgeschüttet.
»Schick, ne? Echt fancy ...« Bea ist wie immer brutal direkt, ihre 'Red-Devil'-Linsen starren mich an. Die schmal rasierten Augenbrauen werfen einen Bogen und bringen damit die Piercings und die kleinen, implantierten Silikon-Hörnchen zum Hüpfen.
Kann mich noch an das erste Nasen-Piercing erinnern, und das Knöchel-Tattoo, Bugs Bunny, da war sie noch zuhause - und Martha auch.
»Jo, ist mal was ganz Anderes«, murmele ich lahm. Mir fällt nichts Besseres ein. Die einst blonden Haare, die ich früher so oft mit aller Vorsicht durchkämmt habe, sind seitlich an ihrem Kopf aufgedreht. Zu zwei schwarzen Schnecken, die wirken wie Abschussmechanismen für die stacheligen Stab-Ohrringe darunter. Flankiert von zwei Tunnels.
Wir treffen uns an seinem Geburtstag, wie jedes Jahr. Wenn ich sie länger nicht gesehen habe, wird es auf offener Straße schon mal eng mit dem Wiedererkennen. Die Innenstadt quillt über vor 'NoKoFo's, selbsternannten Nonkonformisten mit Body-Modification-Tick.
»Hab' ich mir im BTL-Shop machen lassen, neulich.« Auf meinen hilflos fragenden Blick schiebt sie lächelnd hinterher: »Body-Translucence«, und leiser: »Du Noob.« Ich nicke, habe sowas gehört, ein Zufallsprodukt der Forschung zu neuen Operationsmethoden.
Dann Marthas Krebs-Diagnose. Kurz danach fing es an, die Tunnels, die ersten grellen Tattoos, die gefärbten Haare, zunächst blau. Die kleinen Hörner kamen erst, nachdem Martha eingeschlafen war.
»Hm, sag mal, bleibt das so?« Ich versuche, die bange Hoffnung auf Verneinung aus meiner Stimme zu verdrängen.
»Nee, nicht doch, ich kann den Arm abwerfen, weißt du, kein Thema, er wächst normal nach …« Cool saugt sie an ihrer E-Kippe. So gesprochen, mit heiligem Ernst, bin ich geneigt, ihr sogar das abzunehmen. Mit ihren hochhackigen Plateau-Boots sind wir auf Augenhöhe.
Ihre Augen waren für mich einmal ein offenes Buch – als es 'Red Devil' noch nicht gab und den Vorhang aus Silberringen auch nicht. Es kommt mir vor, als wäre das hundert Jahre her.
Mein erzwungenes Lächeln gefriert. Bea funkelt mich an und explodiert in ein Lachgewitter: »Mensch, Tata, du Genius …, natürlich für immer.«
Die grellen Tattoos geraten durch ihr Lachen in Bewegung. Ich weiß, sie nimmt einen gigantischen Drachen huckepack. Und der schlägt jetzt am Hals mit dem Schwanz. In seiner ganzen Größe werde ich ihn wohl nie sehen, weil er von der grünen Tank-Weste und dem orangefarbenen Velourrock verdeckt wird.
Dann war sie weg und wenig später auch Marc. Die blutige Wüste, die sie hinterließen, war unbeschreiblich. Danach wusste ich, es gibt Herzamputationen, und Phantomschmerzen, die fast noch schlimmer sind.
»Kannst du denn damit … normal greifen, schreiben und alles?« Ich ringe um Fassung. Sie lacht, zeigt ihre gespaltene Zunge, an die ich mich nie gewöhnen werde. Ich kann es ihr ansehen, sie findet meine Fragen amüsant – und auch bieder. Ihre roten Augen leuchten etwas heller als die riesigen, bunten Displays an den grauen Hochhausfassaden hinter ihr.
»Na sicher, alles genau wie vorher.« Der kalte Fisch kneift mich zum Beweis fest in den Arm. Dennoch schwimme ich weiter, kann mich an ihrem Blick nicht festhalten und spüre es doch: Irgendetwas hält sie zurück.
Als ich sie dann nach langer Zeit wiederfand, begrüßte mich der neue Drache mit Armen und Beinen. Sie hatte ihre Rüstung vervollständigt. Marc hatte der Orkus der Stadt verschluckt.
»Überall … ist es wie vorher.« Überall? Erschrocken bricht die Frage aus mir heraus: »Ja, hast du denn noch mehr …«, der Rest bleibt mir im Hals stecken, als sie die Weste halb aufschlägt. Sie hat nichts darunter. Ihre Brust wie eine mit schlierigem Rauch gefüllte Blase. Darunter wieder weiße Strangwolken, das Rippengatter. Durch die Lücken erkenne ich dahinter fingerdicke Arterien und Venen, an denen das pochende Herz aufgehängt scheint.
Jetzt muss ich doch nach Luft schnappen, stütze mich auf den stinkenden Mülleimer, neben dem wir stehen. Dabei hatte ich mir doch vorgenommen …
Sie klappt die Weste zu, als wäre es das Normalste der Welt. Luftholen. Möglichst leise.
Ich wende den Blick ab, schaue zur Seite und sehe im Schaufenster einen gebückten, alten Mann, dem als Halt nur ein Mülleimer bleibt.
»Wollen wir was futtern?« Ich kann das Kopfkino kaum anhalten, das sie damit anwirft. Stelle mir die glucksende Speiseröhre und den malmenden Magen vor. Erst als die Filmrolle wieder steht, bin ich in der Lage, zu antworten.
»Chinese?« Mehr bringe ich nicht heraus. »Yep, wegen mir ...« Sie zuckt mit den Schultern und stelzt neben mir her. Wegen des knöchelhohen Bodensatzes aus Abfall muss sie ständig nach unten schauen.
Ich dirigiere sie in die übernächste Seitengasse.
Die Laternen sind zu einem fahlen Rosa verblichen, das angestrichene Holz lässt den Schriftzug nur erraten. 'Shanghai Palace', ich muss nicht hinschauen, ich weiß es.
Drinnen ist tote Hose, wir sind zu früh. Das Ambiente ein Misch-Masch aus Asia Dekokitsch und Bahnhofsvorhalle. An der Wand hängt ein staubiger Fisch auf einem Holzbrett, der zappelt, als wir daran vorbeigehen und dazu schnell etwas Chinesisches faselt. Fast rechne ich damit, dass die Fische sich unterhalten.
Wir sitzen noch nicht ganz, als Herr Zhao herandackelt und zwei Tablets verteilt, auf deren zerkratzten Displays die Speisen in Endlosschleife vorbeiziehen. Meine faltigen Hände zittern noch leicht, erhalten keine Gelegenheit zur Beruhigung, denn unter 'special of the day' erscheint ein nebulöser, glibbernder Fleischklumpen mit verbrannter Außenschale, darunter der Text: 'suckling pig, translucent'.
Keine Frage, was Bea nach einem spitzen Aufschrei mit schnellem Tippen des Zeigefingers bestellt.
»Boa, wie schrill ist das denn ...« Damit zückt sie ihr Smartphone aus der Weste und schießt ein Foto. Im Anschluss massiert sie ihr Gerät mit abwechselnden Daumenschlägen. Ihre langen Nägel klappern auf dem Glas wie Typenhebel einer Schreibmaschine.
»Das wird er nicht glauben …« Wer denn? Einer ihrer 'NoKoFo's? Ich würge meinen Ekel hinab, sehne mich nach einem sichtbaren Steak mit zerlaufender Kräuterbutter und ordentlichen French Fries ohne Schnickschnack-Topping. Essen könnte ich selbst das jetzt nicht, mein Mund ist trocken, wie vernagelt.
Ich signalisiere mit einer kleinen Geste Herrn Zhao Magenprobleme und bestelle nur grünen Tee.
Unsere satte Sommerwiese, übersät mit blühendem Löwenzahn. Freibadwetter. Heißer Wind bringt Pollen und den Duft von trockenem Gras. Ich sitze auf meinem Campingstuhl im Schatten unserer knorzigen Eiche, Blätter rauschen, in der Hand die Tageszeitung, die mit den Fingern raschelt, auf der Ablage eine Tasse dampfender Kaffee. Die blonde Bea kommt gelaufen, barfuß, in der Hand baumelt eine Kette aus Gänseblümchen. Sie läuft zum Sonnenschirm und drapiert die Kette auf Marthas Haaren. Martha, die den schlafenden Marc auf dem Schoß hält. Und dann rennt Bea noch mal los und macht eine neue für Marc.
»Hej, Tata, ich muss dir was sagen.«
Bitte keine Beichte, denke ich nur.
»Ich möchte dir jemand vorstellen. Hab' ihn gerade angeschrieben, er kommt gleich.« Entwarnung, Halleluja.
»Oh, du hast jemanden kennengelernt?« Ich versuche, meine Erleichterung im Zaum zu halten.
»Sozusagen.« Bea lächelt verschmitzt und schnalzt zischelnd mit ihrer flatternden Zungenspitze.
Ihr Essen kommt, eine Scheibe schwabbeliges Etwas, umkränzt von Ruß. Die Sauce darunter gibt dem blassen Ganzen einen Stich lila. Bea ist in keinster Weise irritiert, piekst ihre Gabel hinein und verschlingt schmatzend das Nebelfleisch.
"Kann man echt essen, Tata."
Ich schaue suchend an die Wand, wo die Kalligraphie-Banner hängen und wünschte, ich könnte die Schriftzeichen entziffern. Bin dankbar für jede Atempause. Das eine sieht aus wie ein Drache, Schwarz auf Weiß statt Neon. Vielleicht ein Glücksdrache?
Die Doppeltür in den Gastraum schwingt auf und er kommt herein. Ich halte die Luft an. Die Teetasse knallt auf den Unterteller, als ich versuche, sie ohne Unfall abzusetzen. Er ist nackt, bis auf seine bläulichen Shorts. Und komplett transluzent, von der Fußsohle bis zu den Haarspitzen. Alles andere hat er abgelegt. Gemächlich schlendert er zu uns herüber, seine Eingeweide schaukeln gespenstisch im Rhythmus seiner Schritte. Über den Tisch hält er mir seine pulsierende Hand hin. Gelassen und ruhig. Da ist was in den milchigen Augen, das mir vertraut vorkommt.
»Ich bin Ghost.« Ich kenne die tiefe Stimme. Er ist es und gleichzeitig ist er es auch nicht. Natürlich, sein Datum! Ich kann die Tränen nicht zurückhalten und weiß doch, niemand kann die Zeit zurückdrehen. Es ist zu spät, nur ich sehe noch die Blumenkette in seinem Haar.
Die Transformation ist abgeschlossen.