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Tranquillo

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Tranquillo

Tranquillo


Schlendern, langsam an den schmutzigen Schaufenstern des Buchgeschäfts vorbei, in provozierendem Tempo über den Zebrastreifen. Hupende Autofahrer ignorieren. Einen Gang runterschalten. Und noch drei Zentimeter, sachte.
Im Schneckentempo über den Gehsteig, dicke Menschen drängeln von hinten, einen weiteren Gang runterschalten, in Trance über die Fußgängerbrücke.
Nur noch wenige Schritte pro Minute, das Bein heben und senken in Zeitlupe, die Luft durchwaten wie Wasser.
Die Gestalten der anderen Fußgänger, nurmehr Streifen in der Landschaft, zucken vorbei wie Blitze.
Verlangsamen, Geschwindigkeit drosseln, der Himmel flackert, hell-dunkel in rascher Folge.
Den Blick nach vorn gerichtet, einen Schritt nach dem anderen, behutsam, immer geradeaus, durch Häuserschluchten, jedes einzelne Gebäude ein treuer Begleiter für eine lange Zeit, über Straßen, Wege und Felder. Die Bäume werfen ihre Blätter ab und bekommen neue, immer wieder, bei jedem Schritt; Jahreszeiten im raschen Wechsel, schneller und schneller, verschmelzen zu einem Konglomerat aus Form und Farbe; Regen, Sonne, Schnee und Wind; Sichtbare Erosion, die Landschaft verschwimmt, verwischt, als sich Bergmassive erheben und Ozeane entstehen, der Kontinentaldrift huscht vorbei, ein einziger Schemen und die Farben lösen sich auf
Nun kann ich ihn endlich sehen, ganz deutlich voraus:
Meinen eigenen Hinterkopf.

 

Das scheint mir mehrmals durch den Spiegel geblickt: Zum Film hin, einerseits, im Infinitiv und mit sprachlich klar umgesetzten optischen Effekten ("Wahrnehmungsweisen, wie der Film sie technisch ermöglicht - Parallelmontage etwa, oder die Animation unbelebter Gegenstände", nennt Gisbert Amm in seinem Essay zum "Theater des Absurden" als für dieses wesentlich; wir können das ohne weiteres auch auf die Surrealisten anwenden), und wieder aus dem Film heraus in einen prosalastigen Drehbuchstil gesetzt -
In die Zukunft, andererseits, auf eine Weise beschleunigend, die einen sicheren Blick erlaubt, wo von den lachhaften Utopismen eines Esfandiary oder Kurzweil kein Jota mehr zu brauchen ist: gesichert in seiner Weitläufigkeit, vorwärts, oder wie Marzahn sagen würde: Aufwärts, zu Gott. Und -
natürlich hat die Erde rein physisch gesehen nicht genug Masse, um zu einem Neutronenstern (denn das ist es doch) zu kollabieren. Aber die Masse an Erfahrungen, die hier in einem Einzelnen zusammenstürzt, in Einem, der so - tranquillo, vielleicht nicht einmal bewußt - zu einem universellen Nexus wird, kann schon dazu führen. "Oh wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Mir wäre geholfen!" (Leonce)

So geht's uns wohl allen einmal. Hoffentlich.

 

Ich habe auch 'nen Film gesehen. Kennt ihr die Streifen, wo ein Mensch sich langsam durch die Großstadt bewegt, während um ihn herum alles in Zeitraffer abläuft? Sind in Echtzeit gedreht - mit einem echt geduldigen Schauspieler - und dann beschleunigt "abgespielt".

Ja, es geht uns allen manchmal so.

Das Konzept ist wohl affin, doch die Idee zur Pointe weiterentwickelt, die den Kreis schließt. Da, erst da wird der Film zur Metapher. Und richtig gut.

 

Gute Text (aber muss ich das einen Ben Jockisch sagen?). Könnte sie mir gut als surreales Wandbild vorstellen.
Über den Punkt ob es eine Geschichte ist, kann man natürlich streiten, aber der Begriff Surrealismus wurde von dir gut verarbeitet!

Liebe Grüße aus Wien, P.H.

 

Hallo.

Die Idee des Textes gefällt mir, überaus originell. Ein Protagonist, der sich so sehr verlangsamt, dass er sich schließlich selber einholt.

Die Ausarbeitung jedoch ist mE eher ungenügend, der Text wirkt wie ein Gerüst, wie das Holz eines Fachwerkhauses. Das Rahmen ist da, die Füllung nicht.

Ich meine, aus der Idee könnte man noch ne ganze Menge mehr machen, nix für ungut.

San

 

Bereits die Überschrift ist surreal: fremde Sprache und die noch mit einem Fehler -sicherlich gewollt :D (tranquilo)

Ansonsten stimme ich den anderen zu: gute Idee, gut umgesetzt.
Ein paar Stellen klingen mir etwas hoplrig.

Und noch drei Zentimeter, Pause.
Pause steht eigentlich für nichts tun - Stillstand, passt nicht recht rein, es soll ja nur langsamer werden.
dicke Menschen drängeln von hinten
tun es schlanke von vorn oder gar nicht? ;)
Sichtbare Erosion, nun kaum mehr wahrnehmbar,
zuerst sichtbar, dann wieder kaum noch?

Vielleicht hat Rabenschwarz Recht und du könntest es noch etwas vertiefen.
Aber auch so wie sie ist, gefällt die Geschichte, lebt aber hauptsächlich von der Idee.
Gruß vom querkopp

 

Moin!

Vielfältige Reaktionen auf die Geschichte, dafür dank' ich euch.

Mir selbst war die Geschichte auch ein wenig kurz, doch Verlängerungsversuche resultierten nur in Wiederholungen oder in erzählerischem Leerlauf. Von daher stimmt es wohl, dass die Geschichte von der Idee lebt. Aber mir selbst gefällt sie in ihrer jetzigen, reduzierten Form, ohne innere Monologe und solchen Firlefanz. ;)

@querkopp:

Bereits die Überschrift ist surreal: fremde Sprache und die noch mit einem Fehler -sicherlich gewollt (tranquilo)
Aus welcher Sprache auch immer "tranquilo" stammt, das meinte ich nicht und ein Fehler ist auch nicht in der Überschrift. :p

Die "Pause" passt tatsächlich nicht so ganz ins Konzept, das ändere ich möglicherweise noch. Die Erosion ist auch so eine Sache, stimmt...
Aber die drängelnden dicken Menschen sind eine Momentaufnahme, der Rest steht ja auch im Infinitiv.

Gruß

Ben

 

Hi Ben!

Eine witzige Idee, Deine Geschichte, die mir in der Kürze sehr gut gefällt.

Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob hier nicht "surreal" mit "abstrakt" verwechselt wird? Das kann natürlich auch an der schwachen Definition des Begriffes liegen, die jeder für sich wieder anders interpretiert... Meiner Meinung nach ist Surreales aber doch eher die Darstellung der inneren Vorgänge, nicht vordergründig die Beschreibung einer (abstrakten) Außenwelt, wie es hier der Fall ist bzw. ich es so lese.
Bis zu den letzten beiden Zeilen hätte ich mir aber trotzdem noch etwas Surreales vorstellen können, aber so eine Pointe ist meiner Ansicht nach nicht passend. Surrealismus lebt glaub ich doch mehr von der Tiefe des Textes, nicht von Pointen.

Alles liebe
Susi

 

Hmm... Coole Story. Hatte beim ersten mal lesen keinen Plan was los ist. Also abgebrochen, und nochmal von vorne. Dann ist der Groschen gefallen. Das Ende ist dann so richtig der Brainburner: Ist er schneller als er selbst oder langsamer als er selbst, oder hat er die Zeit ganz aufgehoben? So ein bisschen der Effekt wie ein Bild von Escher. Wuerde deshalb als Comic sicher noch besser kommen.

...und dann beschleunigt "abgespielt".

Ne, beim Dreh wird der Film langsamer abgespielt, und der Schauspieler bleibt auf der Stelle stehen, oder bewegt sich ganz langsam. Wenn man den Film dann normal projektiert sieht der Schauspieler normal aus, und alles um ihn herum fuscht vorbei. U.a. zu sehen bei Chungking Express. ;) @Ben

 

Hi l3en!

Cool, dass du wieder da bist. Und danke für die Kritik. Ich weiß nicht, ob mir gerade Chungking Express im Kopf rumging, als ich Tranquillo geschrieben habe. Irgendwie gingen mir zig Sachen beim Schreiben durch den Kopf. ;)

Auch dir danke, Häferl. Ich weiß allerdings nicht, wieso sich Surrealismus und eine "Pointe" widersprechen sollten. Bei vielen Geschichten dieser Challenge kann man sich ja streiten, ob sie wirkliche surreal sind.

So, mal sehen, ob ich es heute schaffe, einige minimale Korrekturen am Text anzubringen.

 

@Ben, nicht die Tatsache der Pointe an sich stört mich, sondern die Art. Weil sie so plötzlich kommt. Bei Surrealem erwarte ich mir halt mehr ein Hinführen zur Pointe oder einfach zum Schluß, ein Mitdenken-lassen. Bei Deiner Geschichte steht man so plötzlich vor dem "Aha!" - ich finde halt, das widerspricht dem Surrealen. Ich kanns irgendwie nicht anders erklären, was ich meine, das sagt mir einfach mein Gefühl... Sorry. Falls mir eine andere Erklärung einfällt, schreib ich Dir nochmal. ;)

 

Hi Ben,
bei dem Schlusssatz war ich aus Dir bekannten Gründen auch sofort bei Büchners Leonce, allerdings hat das "sich auf den Kopf gucken" da einen Hintergrund, der sich bei Deinem Text nicht unbedingt aufdrängt, "wer einmal ein anderer sein könnte".

Zum Surrealen "an sich" kann ich jetzt gar nicht soviel sagen, da kennst Du Dich glaub eh besser aus als ich. :eek1:
Allerdings war das Gefühl, das ich beim Lesen hatte, von wegen "ich bin ganz langsam während alles an mir vorbeirast" ähnlich, wie dieses klebrige Rennen im Traum, wenn ich verzweifelt versuche zu entkommen, sich meine Beine aber nicht vom Fleck bewegen lassen.

So, das war jetzt zwar keine Kritik, aber dafür ist heute ja auch Sonntag. :D

 

Naja, muss ja auch nicht immer Kritik sein. Ich bin auch mit Assoziationen zufrieden, besonders bei einer Story wie dieser. ;)

 

So, nachdem meine vorherige überarbeitung von einem Server Error geschluckt wurde:
Ich habe zwei klitzekleine Änderungen am Text vorgenommen. = Final Version.

 

Du hast vermutlich meine Antwort vor dem Crash nicht mehr gesehen und ich muß sie nochmal schreiben, richtig? Oder konntest Du sie noch lesen? Leider muß ich jetzt weg...

 

Ich habe zwei klitzekleine Änderungen am Text vorgenommen. = Final Version.
Na endlich kann ich mal meine Kritik dazu los werden!! :D Darauf hab ich noch gewartet.

Wurde aber auch Zeit, dass Du mal deine endgültige Fassung freigibst, Mann! Wir Kritiker sind doch kein Experimentierfeld, dem man einfach so unausgegorene Texte vorlegt! Hmpf! :lol: ;)


So, zur Sache: Keine Darsteller, keine nennenswerte Handlung, keine Aussage, aber dafür eine gekonnt umgesetzte, beeindruckende Impression mit einem überraschenden Schluss. Auch eine Geschichte, in der ich recht mühelos deine Handschrift zu erkennen vermag (Originalität, überraschendes Element, Wortwahl, Stil).

Da du, (leider, wie ich gerade eben gesehen hab, bis auf den Schluss) praktisch keinerlei Personen einführst - selbst die "anderen Fußgänger" dienen nur als Fassade, als Teil eines stetig anwachsenden Mosaiks aus Impressionen - bleibt es dem Leser überlassen, sich selbst als der Mittelpunkt dieser Impression zu sehen. Nur zuletzt, wie ich grade anmerkte, führst du ganz unvermittelt einen Ich-Erzähler ein! Ich fände es spannender, jede Distanz zum Leser fallenzulassen, und ihn am Schluss direkt anzusprechen: Nun kannst Du ihn endlich sehen, ganz deutlich voraus: Deinen eigenen Hinterkopf. Was meinst du?

Was der Titel "Tranquillo" bedeutet, musste ich übrigens erst nachschlagen: "langsames Spiel (Musik)". Gut gewählt! Hört sich auch gut an! Erinnert mich auch zugleich an "Tranquilizer", was ja ebenfalls sehr gut passt.

Surrealistisch halte ich den Text übrigens auf alle Fälle! Was denn sonst?

 

Also zweiter Versuch: Nach all dem Surrealen in diesem Challenge, kann ich Deine Geschichte auch surreal lesen - bis auf den Schluß, die Pointe. - Die wirkt, wenn man sich so während des Lesens Gedanken macht, was man herauslesen kann, wie ein "Ätsch, eingefahren!", weil es nix zu Deuten gibt.

Ich hätte beispielsweise keine Probleme damit, in Deiner Geschichte ein ganzes Leben zu sehen - wie der Protagonist die Jahre erlebt. Erst, als Kind vergehen sie langsam, alles scheint ewig weit weg zu sein, und je älter man wird, kommt es einem immer schneller vor, wie sie vergehen, bis sie eben nur mehr dahinfliegen...
Und dann ist plötzlich "Dein" Hinterkopf da und paßt - so originiell die Pointe auch in "Seltsam" wäre - hier zu Surreal einfach nicht dazu.

Aber mit einem anderen Ende wäre da durchaus was rauszuholen... ;)

Alles liebe
Susi

 

@Philoratte:

Danke für deine interessante Kritik.
Hier sprichst du einen Punkt an, über den ich auch nachgedacht habe:

Nur zuletzt, wie ich grade anmerkte, führst du ganz unvermittelt einen Ich-Erzähler ein! Ich fände es spannender, jede Distanz zum Leser fallenzulassen, und ihn am Schluss direkt anzusprechen: Nun kannst Du ihn endlich sehen, ganz deutlich voraus: Deinen eigenen Hinterkopf. Was meinst du?
Ich habe selbst mit den möglichkeiten des letzten Satzes gespielt, da ich im Rest des Textes den Ich-Erzähler tunlichst vermieden habe, unter anderem lautete der Satz mal lediglich "...den eigenen Hinterkopf", aber das wirkte nicht, irgendwie war es verwirrend. Die Variante mit "...meinen eigenen" wirkte zum Schluss am besten, aber ich werde mal die Version mit "deinen" testen und ein paarmal lesen. Ist vielleicht eine gute Idee.

@Häferl:

Wieso meinst du, dass es aufgrund des Endes nichts zu deuten gibt? Das versteh ich nicht ganz.
Oder liegt es an dem Ausdruck "mein" Hinterkopf? Wie gesagt, der letzte Satz... siehe oben.

@Kris:

Genau. :)

 

Die Story und vor allem die Idee gefällt mir, keine Frage. Sehr originell.
Nur fällt sie natürlich etwas aus dem Rahmen wenn ich andere Geschichten lese bei denen in jedem Satz etwas surreales passiert, in dem alles irgenwie surreal ist ... hier wirds erst mit dem letzten Satz surreal.
Soll keine Kritik sein, fällt mir nur auf. Ist mir natürlich auch lieber als wenn man krampfhaft ein surreales Ereignis ans andere reiht.

 

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