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- 18.11.2011
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Träumer
Und wir tauchen ab in eine andere Welt. Mein Wahrnehmungsfilter schneidet die unnützen Menschen links und rechts von deinem Gesicht aus, deine Pupillen sind geweitet, blaue Augen mit kleinen grauen Mustern darin.
Niemandem sonst wäre das aufgefallen!
In unserer kleinen Welt herrscht für eine unbestimmte Weile eine eigene Dynamik. Außerhalb unserer Welt, ja, da sind alle betrunken und grölen und schreien und gackern, den verzweifelten Kampf um Aufmerksamkeit kämpfend. Doch in unserer Welt müssen wir darum nicht kämpfen. Wir machen sie uns zum Geschenk.
Ineinander versinken.
Wie Schatzgräber tiefgreifende Gemeinsamkeiten suchen und finden.
Geheimnisse austauschen, so als ob man sich schon ewig kennen würde (dabei kennt man sich doch erst seit ein paar Stunden) und im Auge des Sturms einen Paartanz tanzen, obwohl doch die Massen um uns herum nur den durchgeknallten sozial-Pogo beherrschen. Immer gegeneinander, statt miteinander.
Du erzählst mir von deinem Traum.
Von diesem Traum, der dich schon so lange gefangen hält, so real und doch in nebelhafter Ferne verschwindend. Von diesem Traum, der dich nicht los lässt, obwohl du ihn noch nie einem anderen Menschen offenbart hast. Von diesem Traum, den keiner deiner Lieben verstehen würde.
Von diesem Traum erzählst du mir.
Du erzählst mir von einem eigenen Atelier in einem kleinen Haus am Mittelmeer, direkt am Strand. Du hast diese Stadt, dieses Land hinter dir gelassen, deine Liebe zur Kunst und zum Meer endlich verwirklicht.
Du kannst endlich die Bilder malen, die so dringend aus dir heraus wollen und wenn du nicht gerade malst, dann reitest du auf deinem herrschaftlichen Schimmel den Strand entlang.
Du trägst dabei ein weißes Kleid.
Und du bist glücklich, sagst du, endlich glücklich, während du doch im schwarzen Kleid und mit von der Nacht verschmierter Schminke vor mir sitzt, im Halbdunkel der taumelnden Stadtlichter.
Und doch, vor meinem geistigen Auge reitest du auf einem wunderschönen Pferd einen weißen Sandstrand entlang und ich bin mir sicher, dass du sehr hübsch dabei aussiehst.
Ich könnte mir gut vorstellen, eine Dachstube in deinem kleinen Haus am Meer zu besitzen, sage ich, mit einem großen Fenster, sodass ich die Sonne in glitzernden Farborgasmen in der endlosen See verschwinden sehen kann. Jeden Abend. Ich könnte Meisterwerke schreiben, ganz dort oben in dieser Dachstube und mit dir, meiner Muse, voller Frieden den Strand entlang wandern.
Ich sage dies halb im Scherz und doch halb ernst, und du siehst mich lange an. Es schwingt etwas liebevolles in deinem Blick mit und dann, ja dann küsst du mich.
Während der Rest der Menschheit zu stampfenden Beats durch die Nebelschwaden zuckt und versucht im Moment der Betäubung so etwas wie Glück zu erhaschen, sitzen wir ganz still und küssen uns.
Doch nur kurz, dann brichst du unsere Verbindung ab, schlägst deine Augen nieder (deine blauen Augen mit den grauen Mustern) und siehst mich wieder an. Ich bin mir nicht sicher, doch ich glaube dich weinen zu sehen, nicht dieses offensichtliche Weinen sondern dieses intime Weinen, das nicht mehr als ein Glänzen der Augen ist, mit vielleicht ein bis zwei winzigen Tränen.
Du erzählst mir von deinem Freund.
Natürlich.
Diesem bodenständigen netten Angestellten einer großen Firma, der es bestimmt einmal weit bringen werde. Du erzählst mir von deiner Ausbildung als Versicherungskauffrau und das du natürlich gerne etwas Kreatives machen würdest, schließlich malst du so gerne und auch gar nicht schlecht, aber mit so etwas würde man ja kein Geld verdienen.
Es liefe in der Beziehung gerade nicht so gut, man müsse dir diesen kleinen Ausrutscher also verzeihen, doch du wüsstest eigentlich, dass er der Mann für´s Leben sei.
„Warum?“ frage ich.
Er gebe dir Halt und Sicherheit, sagst du, er hätte viel Geld für die Zukunft gespart, ihr würdet bald zusammenziehen und du willst ja auch vielleicht irgendwann mal Kinder haben und die müssen ja auch ernährt werden.
Warum du ihm dann nichts von deinem Traum erzählt hast, frage ich.
Du zögerst. Siehst mich an, siehst zu Boden und nimmst einen Schluck aus deiner Flasche.
Wieder eine Träne. Ich wage nicht, dir zu sagen, wie schön du dabei aussiehst.
Er würde solche Träumereien nicht verstehen, sagst du.
Und er hätte damit eigentlich auch Recht, sagst du, schließlich ist es ja auch nur eine Träumerei.
Du hättest nie gedacht, dass du einmal jemanden kennenlernen würdest, mit dem du diesen Traum zusammen träumen könntest, doch jetzt sei es bereits zu spät.
Du brauchst deine Sicherheit.
Du liebst deinen Traum, aber eben nicht den Träumer.
Wir verabschieden uns. Du siehst unendlich traurig dabei aus, wir küssen uns ein letztes Mal und ich danke dir für diesen ganz besonderen Abend.
Dann gehst du und die Stadt mit den tausend Lichtern verschluckt dich, die Musik und all die Eindrücke kehren in die Wirklichkeit zurück.
Ich denke nicht, dass wir uns jemals wiedersehen. So etwas passiert nur in Filmen.
Nicht einmal ich könnte so ein Träumer sein.