Träume vom Nichts
Der Raum, in den sie mich gebracht hatten war dunkel und groß, so riesig, dass ich nicht ausmachen konnte, wo die Wände anfingen und wo sie aufhörten, auch die Decke konnte ich in diesem Dämmerlicht nicht erkennen. Der einzige Lichtschein war eine Art Scheinwerfer, der auf mein Gesicht gerichtet war und mich nicht losließ, egal wie ich es auch anstellte, meine Bemühungen, dieser fesselnden Lichtquelle zu entkommen waren vergeblich. Ich war nicht angebunden oder festgemacht, durfte mich frei bewegen, aber es gelang mir nicht, einen Ausweg zu finden. Es war mir nicht einmal möglich, zu sagen, ob es nun ein Zimmer, ein Saal oder irgendeine andere Art von Raum war, in dem ich mich befand.
„Wer bin ich, wo komm ich her, was mache ich hier?“ All diese Fragen beschäftigten mich während ich wartete, dass etwas passierte. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, war es nun Tag oder Nacht, es war unmöglich zu sagen. Langsam zweifelte ich an mir selbst, ich wollte lieber sterben als noch länger in der Ungewissheit dieser Umgebung weiter zu leben. Die Einsamkeit war nicht von Beginn an mein Begleiter, vielmehr war sie wie ein Virus, der sich von innen her immer weiter nach außen drängte, um mich schließlich vollkommen einzunehmen. Sie frass sich durch meine Därme, durch meine Adern, bald wohl auch durch meinen Verstand!?
Als diese Odyssee begann, wann das war kann ich nicht sagen, ging es mir gut, ich war frohen Mutes, dachte positiv und war der Meinung, mir könnte niemand etwas anhaben. Am Anfang war ich auch nicht allein, es gab andere, die sich um mich kümmerten, sich meiner annahmen und mich immer wieder bei der Stange hielten. Doch langsam, mit der Schnelligkeit des Erwachsenwerdens, verließen mich diese Personen, ich war auf mich alleingestellt. Ich irrte durch diesen Ort des Nichtwissens und der Dunkelheit, doch ich fand niemanden. Nur manchmal war es mir, als würde ich beobachtet, als ob Augen mich aus der Dunkelheit heraus anstarrten, sich in mich hineinfraßen, um zu sehen wer ich bin, um mich dann wieder loszulassen, die Hände wieder von mir zu nehmen. Als mir gegenwärtig wurde, dass niemand auf meiner Seite war, kniete ich nieder und weinte, die Tränenstöße, die mich durchdrangen konnte ich nicht stoppen, sie flossen aus mir heraus wie Blut aus einer offenen Wunde. Bald geronnen sie jedoch und ich schluckte meinen Kummer, meine Gefühle, all meine Träume, Ideen, Visionen und Hoffnungen herunter. Ich verstaute sie in einer Ecke meines Geistes, an den niemand herankommen konnte, außer ich selbst. Ich gab einen Teil von mir auf, einen Teil der immer Bestand in meinem Geist hatte. Ich fragte mich, ob ich je wieder Zugang zu dieser Ebene meiner Persönlichkeit bekommen sollte!? Ich stumpfte ab gegenüber allen Eindrücken, die mich trafen bzw. in meinem Kopf herumspuckten, ich gab mich auf.
Aber es geschah noch etwas anderes mit mir, ich dachte zum ersten Mal richtig nach, machte mir zum ersten Mal in meinem Leben Gedanken über die Situation, in der ich gefangen war. Ich erinnerte mich an Zeiten, in denen ich glücklich war, in denen es sich lohnte zu leben. „Lohnt es sich jetzt nicht mehr zu leben, ist deine Existenz wirklich so sinnlos, wie du dir versuchst einzureden?“ Ich hörte auf zu atmen, verstand nicht, wer da zu mir sprach, denn es gelang mir nicht, jemanden auszumachen, der sein Wort an mich richtete. Ich wartete eine Zeit lang, ich weiss nicht mehr ob es nun ein paar Sekunden, Minuten oder Stunden waren, in denen ich reglos dort saß, in meinem Gefängnis ohne Gitter, ohne feste Grenzen, aber trotzdem so manifest und gegenwärtig. Ich gab es auf und tat diese Stimme ab, sagte mir selbst, dass sie nichts weiter als die Einbildung eines einsamen Spinners war, der sich so nach Aufmerksamkeit sehnte, dass er die Sicht für die Dinge verlor. Die Sicht für die Dinge!? Ich begann mir die Frage zu stellen, ob ich sie jemals mein eigen nennen durfte, ob ich je die Sicht für irgendetwas besessen hatte. Hatte ich in meinem, wie ich mittlerweile feststellen musste, erbärmlichen Leben je etwas gewusst, oder waren das nur Projektionen meines Geistes. Ich fand, auch wenn ich stundenlang darüber nachdachte, einfach keine Antwort auf diese Frage.
Ich verzweifelte mehr und mehr an mir selbst, wollte mich schon umbringen und hatte allen Lebensmut verloren. Doch selbst die Möglichkeit, mir das Leben zu nehmen wurde mir verwährt, es gab einfach keine Möglichkeit dazu. Ich konnte nicht in den Tod springen, denn mein „Gefängnis“ erinnerte an ein Schachbrett nach dem Ende eines Spieles: Flach, Schwarz-Weiß und völlig leer. Ich fühlte mich wie die einzig zurückgelassene Spielfigur.
Das aufschlitzen der Pulsadern war ein Ding der Unmöglichkeit, ich schaffte es nicht, meine Fingernägel zu einer Länge heranwachsen zu lassen, so das sie als Schneidwerkzeug hätten gebraucht werden können. Ich versuchte mehrmals, meinen Kopf auf dem Boden zu zerschlagen, ihn zu einer konturlosen, klumpigen Masse zu formen. Es gelang mir nicht, da ich aufgrund der Schmerzen die dadurch entstanden, sehr schnell bewusstlos wurde. Mehr als eine Gehirnerschütterung sprang nie heraus. Es war ausweglos, ich konnte nicht sterben und wollte nicht mehr leben. Wollte ich das wirklich nicht? Es begann sich der Gedanke in meinem Kopf breit zu machen, dass ich unterbewusst noch immer auf Rettung hoffte. Mit der Zeit wurde es mir aber immer bewusster. So weit unten wie ich auch war, so niedergeschlagen ich auch sein mochte, ich dachte an die früheren, schöneren Zeiten und daraus zog ich meine leise, aber immer vorhandenen Hoffnung, die mich zum weiterleben zwang. Dann kam mir plötzlich die Idee, dass die Stimme, die ich gehört hatte, vielleicht doch keine Einbildung gewesen war, sondern die Realität.
Ich machte mich auf den Weg, wenn man das an einem Ort ohne Struktur sagen kann. Um Erlösung betend und die fremde Stimme anflehend, noch einmal das Wort an mich zu richten, ging ich voran. Wie lang diese von Verlangen geprägte Suche dauerte war mir am Anfang egal, ich glaubte wieder an mich und hatte mich schon damit angefreundet, aus meinem Verlies zu entkommen. Doch nachdem ich, es können Stunden, Tage oder Wochen gewesen sein, noch immer keine Antwort erhielt, verlies mich der Mut und ich sah mich wieder vor die alte Situation gestellt: Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht.
Ich legte mich flach auf den Boden und erwartete das Ende, doch es kam nicht. Das einzige, was mich an dem Ort, in dem ich gefangen war wunderte, war die Tatsache, dass ich nicht Essen und Trinken musste, ich brauchte diese Dinge nicht. Normalerweise stirbt ein Mensch, wenn er nichts trinkt, ohne Essen kann er höchstens ein paar Wochen überleben, bei mir lagen die Dinge etwas anders:
Es schien mir, als ob alle Naturgesetze, die auf mich einwirken sollten, außer Kraft gesetzt waren. War es mein Schicksal, ein Leben lang durch die Einöde dieses Nichts zu stolpern? Sollte ich in alle Ewigkeit hier bleiben, ohne Gesellschaft, außerhalb jeder Gesellschaft, nur von meinen Gedanken erfasst? Es quälte mich diese Vorstellung vom Nichtssein in einem Ort, der Nichts ist, zu einer Zeit, die nicht vergeht. Ich hatte davor Angst, auch zu Nichts zu werden, zu jemandem, der nichts repräsentiert, nichts zu tun hat und nichts ist.
Es kam mir vor, als wäre ich ein Verschollener auf einer einsamen Insel, eine Vorstellung die mir in der Kindheit als herausfordernd erschien. Jetzt brachte mich der Gedanke fast um. Ich versank in Träumen. Ich sah einen Mann auf eben dieser Insel sitzen, nur von steigendem Wasser umgeben. Es stieg nicht schnell, so wie die Flut, sondern eher mit einer Geschwindigkeit, die das Auge nicht sieht, welche die Sinne nicht wahrnehmen, unmerklich und doch präsent und gegenwärtig. Ich sah diese Person auf diesem Eiland sitzen, einen Mann ohne Hoffnung. In diesem Tagtraum erkannte ich das Gesicht, ich sah die Sorgenfalten, die mageren Züge, ein Gesicht hinter dem ein geschundener Geist saß, eine Fratze der Einsam- und Verlassenheit. Der Mann sprang plötzlich auf und sah mir ins Gesicht, er musterte mich und drehte sich dann abrupt um, um sich flach auf den Sand zu legen. Im selben Moment brachen die Wassermassen auch die letzte Barriere der Hoffnung und spülten den Quadratmeter Sand, der noch übrig war, hinfort. Der Mann hingegen stand auf und als er sich umdrehte, erschrak ich. Die Gesichtshaut hing in Lappen von seinem Gesicht, darunter war das Fleisch zu sehen und an einigen Stellen kamen die Knochen zum Vorschein. Er rief mir etwas zu, doch die Wellen krachten mit einer solchen Wucht über ihm zusammen, so dass seine Worte, seine letzten an die Welt, vom Getose um ihn herum verschluckt wurden.
Ich wachte auf. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, mein Herz raste, meine Haare standen zu Berge. Ein Schauder lief mir durch den Körper. Ich konnte nur mit starken Bemühungen wieder anfangen zu Atmen. Ich dachte über das gerade geträumte nach und mit einer unvorhersehbaren Plötzlichkeit wurde mir klar, wer dieser Mann war. Diese Fratze des Todes, diese Entartung des menschlichen Geschlechts, das war ich. Ich hatte mich selbst gesehen, im Angesicht des Todes. Ich bekam es mit der Angst zu tun, eine Angst die ich in dieser Intensität noch nicht kannte. Ich rollte mich auf dem Boden zusammen und zitterte am ganzen Leib, mir lief der Schweiß den Rücken herunter. Aber ich bewegte mich nicht, ich war wie gelähmt, nicht einmal fähig, einen Finger zu rühren. Mir wurde schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.
Ich schreckte hoch, jetzt befand ich mich in einem Wald, allein, nur die Bäume waren meine Begleiter. Aber es war diesmal kein Ort des Schreckens, die Sonne schien durch die Wipfel und es war warm. Ein Ort der Ruhe!? Ich ging spazieren und genoss die ganze Szenerie. Doch nach einer Weile kam es mir vor, als würde ich beobachtet, die Bäume und Pflanzen schienen Augen bekommen zu haben, sie starrten auf mich herab. Auch schien es mir, als ob die Sonne in einen dunklen Schleier gehüllt worden war. Es fing an zu Regnen. Ein Platzregen, der nach menschlicher Zeitrechnung vielleicht eine halbe Stunde anhielt. Kaum nachdem der Regen aufgehört hatte, wusste ich, warum ich Angst hatte. Langsam aber sicher hatten sich Nebelbänke gebildet, sie waren noch nicht zu mir vorgedrungen, aber ich merkte, wie sie sich auf mich zubewegten. So, als ob eine unsichtbare Macht sie anschieben würde, eine dunkle Bedrohung sie auf mich zudrängen würde. Ich fing an zu laufen, weiter hinauf ins Gebirge, an dessen Fuß mich das Gewitter überrascht hatte. Doch der Nebel folgte mir, wie ein Schatten an einem sonnigen Tag. Er umschloss mich mehr und mehr, und plötzlich hielt er an, als ob er überlegte, ob er mich nun verschlingen sollte oder nicht. Die Luft wurde immer kälter, ich sah, wie sich Eiskristalle an meinem Bart bildeten. Dann brach alles über mir zusammen, der Berg bebte und die Spitze brach mit einem Krachen auf mich hinunter. Im selben Moment, umschloss mich die Nebelbank vollständig. Ich schrie, kreischte und weinte bitterlich, dann befand ich mich wieder an dem Ort, wo meine Reise begonnen hatte. In dem Raum ohne Wände, in dem Gefängnis ohne Gitter und Grenzen. Aber es war seltsam, ich war nass von dem Regen, es war kein Angstschweiß, obwohl ich das doch alles nur geträumt hatte, oder etwas nicht?
Ich wusste nicht mehr, was Realität war und was meiner Vorstellungskraft entsprang. Nur eins wurde mir während dieser Reise klar und deutlich: Der Wunsch, zu sterben, der Gedanke, der mich beherrscht hatte, war wie weggewischt. Nach diesem Traum wurde mir klar, das ich leben wollte, ich hatte Angst vor dem Tod, Angst alleine und einsam am verlassensten Ort der Welt zu sterben und somit einfach zu Nichts zu werden. Ich wollte nicht Nichts werden.
Ich wollte hoffen... .
[Beitrag editiert von: Gamdschie69 am 03.04.2002 um 15:54]