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Tod im Gebüsch
Die massive Wolkenwand schob sich über die Bergspitzen, die Kaltfront sollte die drückende Sommerhitze unten im Tal vertreiben. Hier oben, am Piz Claire in über 2000 Meter Höhe war es angenehm frisch gewesen. Unzählige Motorradfahrer hatten die letzten warmen Stunden für einen Ausflug auf die Passhöhe genutzt. Frederic Mehlis setzte seinen Helm auf, die ersten dicken Tropfen prallten gegen seinen roten Helm, zerplatzten in viele kleinere Wasserperlen. Die anderen Biker auf der Passhöhe suchten Unterschlupf in der Gastwirtschaft. Für Frederic waren sie Weicheier. Er zurrte den Kinnriemen fest. Das Wetter war ihm egal, nur über sich selbst war er etwas verärgert.
Wäre ich doch nur früher los …
Etwas langsamer als sonst nahm Frederic die engen Kurven, er galt als forscher Fahrer. Im Alltag gab der Bankangestellte den seriösen Berater, auf seiner Maschine gab er Vollgas. Immer wieder wischte er sich den Regen vom Visier. Er war allein auf der Passstraße. Vor wenigen Stunden noch, als die Sonne geschienen hatte, waren die Motorräder wie an einer Perlschnur aneinander gereiht am Berg unterwegs gewesen.
Frederic Mehlis schlängelte die engen Kehren hinab. Er fuhr durch einen grob aus dem Fels geschlagenen Tunnel, gleich danach folgte eine Brücke und dahinter der nächste Tunnel. So sollte es eine Weile weitergehen. An der Tunnelausfahrt sah er kurz nach oben. Zwischen den Regenwolken hatte sich der Himmel ein Stück weit aufgetan und die Sonne freigegeben. Ihr gleißendes Licht spiegelte sich auf der nassen Straße. Frederic schloss reflexartig die Augen und bremste stark ab. Seine Maschine rutschte zur Seite. Er spürte einen harten Schlag gegen sein rechtes Bein, die Leitplanke hatte ihn ausgehebelt. Ruckartig wurde er in die Luft gerissen. Freier Fall. Sekunden später landete er rücklings mit einem Krachen in dichtem Gebüsch. Zur Seite gedrückte Äste schlugen vor ihm wieder zusammen, kurz darauf war ein blechernes Poltern von unten zu hören. Das Motorrad war in den Abgrund gestürzt.
Frederic bewegte sich nicht. Zweige drückten gegen sein Visier. Er befand sich in Rückenlage. Seine Beine hingen über Ästen wie an einer Wäscheleine. Er schob sein Visier nach oben und drehte vorsichtig den Kopf. Langsam wurde ihm bewusst, was geschehen war. Er hing in einem Gebüsch, das an einem Felsvorsprung gewachsen war, mitten an einer senkrecht abfallenden Felswand. Frederic fluchte und schob einen dicken Zweig zur Seite. Rund zehn Meter über ihm war die Fahrbahn. Irgendwie musste er zurück zur Straße, steil nach oben. Er wollte seine Gliedmaßen sortieren und spürte einen stechenden Schmerz. Sein rechtes Bein war gebrochen, es zu bewegen war nicht möglich.
Verdammte Scheiße!
Sein keuchender Atem beruhigte sich nur langsam. Immerhin schmerzte das Bein nicht so stark, wenn er es auf dem Ast liegen ließ.
Er kramte sein Handy aus der Brusttasche. Kein Empfang. Der Platzregen war vorüber, jetzt kamen all diejenigen den Berg herab, die vor dem Unwetter Schutz gesucht hatten. Doch Frederic hörte nur die Reifen auf der nassen Straße hoch über ihm. Er sah die Unterseite von der alten Brücke und die Leitplanke am Fahrbahnrand. Unter dem steinernen Rundbogen schoss der Bach hindurch. Er kam aus einer engen Schlucht, die sich allmählich verbreiterte. Der kräftige Regen hatte den Bach anschwellen lassen. Bald gingen die Geräusche vorbeifahrender Fahrzeuge im Tosen des Wassers unter. Frederic wurde langsam klar, dass ihn von oben niemand hören würde. Und sehen schon gar nicht. Auf der kurzen, engen Verbindung zwischen zwei Tunnels hielt niemand an. Dennoch versuchte er, durch Rufen auf sich aufmerksam zu machen.
Die nächste Wolkenwand, die von Westen kam, verdunkelte den Himmel und ließ die Nacht rasch hereinbrechen. Frederic sah in der Dunkelheit eine kleine Chance für seine Rettung. Sobald Scheinwerferlichter über ihm vorbei huschten, schwenkte er sein Handy mit dem beleuchteten Display. Wenn nur jemand dicht genug an der Leitplanke vorbeifahren würde, dann könnte man von oben das Handy leuchten sehen. Möglicherweise. Er schrie weiter aus Leibeskräften.
"Hallo! Ich brauche Hilfe!"
Vergeblich. Nach zwei Stunden waren sein Akku leer und seine Stimme am Ende. Niemand würde an dieser Stelle nach ihm suchen. Spontan war er zu dieser Tour auf den Piz Claire aufgebrochen, seine Familie und die Freunde wussten nichts davon. Erst am Montag würden sie bemerken, dass er nicht zur Arbeit erscheinen würde. Frederic war gefangen im Fels.
Sein Lederkombi schützte ihn vor der Nässe, doch die Kälte kroch durch jede Öffnung. Er dachte über mögliche Auswege nach, ein hilfreicher Gedanke war jedoch nicht dabei. Alles erschien ihm unwirklich. Die tiefschwarze Nacht, das beständige Rauschen des Wassers, die Kälte und die Äste, die ihn über dem Abgrund festhielten. Frederic zitterte am ganzen Leib. Als der Morgen dämmerte, fielen seine Augen zu. Sein Körper holte sich etwas Schlaf.
Nachdem er aufgewacht war, versuchte er, sich an den Ästen nach oben zu ziehen. Er musste den Schmerz überwinden. Frederic biss die Zähne zusammen, sein verletztes Bein ließ lediglich zu, sich einen Meter voran zu kämpfen. Er riss kleine Zweige ab, um besser durch das Dickicht hindurch sehen zu können. Doch alles, was er über sich erkennen konnte, war senkrechter Fels.
Die nächste Nacht kam und die übernächste. Und es regnete unaufhörlich. Der rauschende Sturzbach hatte unterhalb der Brücke einen stattlichen Wasserfall ausgebildet. Frederic plagte Hunger, sein Magen krampfte. Er sammelte Regenwasser mit seinem Halstuch und sog es aus dem Stoff heraus. Sein größter Feind, der Regen, war nun der einzige Helfer gegen den Durst. Frederic begann, die Blätter um ihn herum abzuzupfen und zu essen. Sie schmeckten scharf und machten ihn nicht satt. Er wusste nicht, ob sein Bauchschmerz von den Blättern herrührte oder vom Hunger. Einmal mehr musste er an seine Eltern denken. Sie würden ihn vermissen, wahrscheinlich waren sie auch schon bei der Polizei. Aber wo sollten sie nach ihm suchen? Sie hatten nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Sein rechtes Bein war angeschwollen, die Hose seines Lederkombis spannte sich um den Oberschenkel. Die Schwellung wirkte beinahe wie eine Schiene und linderte ein wenig den Schmerz. Er konnte das Bein zumindest nachziehen. Frederic beschloss, sich nach rechts durch das Gebüsch zu kämpfen. Der letzte Weg, den er noch nicht versucht hatte, war von dicken Ästen versperrt. Er zwängte sich hindurch, Zentimeter für Zentimeter. Weil er seit Tagen nichts gegessen hatte, forderte ihm die Kletterei alles ab. Er schob einen Zweig beiseite. Was er sah, ließ ihn vollends verzweifeln und er tat etwas, was er schon viele Jahre nicht mehr getan hatte. Er weinte.
Ein weiterer Tag verging und Frederic spürte, wie die Kräfte ihn verließen. Hier also sollte er sterben. Hatten sie nicht vor einiger Zeit im Kollegenkreis die Frage erörtert, welcher Tod der angenehmste wäre? Dass es schnell gehen müsste, darüber waren sich alle einig gewesen. Jetzt hatte Frederic die Wahl: Verhungern im Gebüsch, zerschmettert werden am Fuß der Felswand oder ertrinken im reißenden Bach. Er dachte daran, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Nur ein letzter kräftiger Ruck nach vorne, ein paar Sekunden freier Fall und er wäre seine Qualen los. Aber er lebte noch. Es musste einen Sinn dafür geben, dass ihn das Gebüsch aufgefangen hatte. Doch nicht deshalb, um ihm einen langsamen, quälenden Tod zu bescheren?
Der alte Ford ächzte die steile Passstraße nach oben. Die Nadel der Temperaturanzeige war längst im roten Bereich, als der Motor streikte. Rasch verlangsamte sich das Tempo, schließlich blieb der Wagen stehen, unter der Motorhaube dampfte weißer Rauch hervor. Die Frau schimpfte.
„Ich habe dir doch gleich gesagt, mit der alten Kiste schaffen wir das nicht da hoch.“
Der Mann atmete tief durch.
„Beruhige dich. Wir stellen ihn kurz ab. Wenn er abgekühlt ist, geht’s weiter.“
Das ältere Ehepaar beeilte sich, ein Warndreieck aufzustellen. Der Mann öffnete die Motorhaube und war in weißen Rauch gehüllt. Seine Frau wandte sich ab, ging zur Leitplanke und bestaunte den Wasserfall unter der Brücke. Da fiel ihr Blick auf etwas, das aussah wie eine große blaue Kugel, die in einem Gebüsch an der Felswand steckte. Sie rief ihren Mann herbei.
„Schau mal, da unten. Was ist das?“
„Keine Ahnung. Sieht aus wie…“
Er holte seinen Feldstecher aus dem Auto.
„Das ist ein Helm! Ich glaube, da ist noch mehr … ein dunkler Anzug, vielleicht auch Stiefel. Schlecht zu erkennen, da sind Äste davor.“
Die Frau fuhr zusammen.
„Ist da einer mit seinem Motorrad runtergefallen?“
Der Mann rief nach unten, doch es kam keine Antwort. Wieder benutzte er sein Fernglas.
„Meine Güte!“
„Was ist?“
„Der ist tot. Glaub’ ich.“
„Kannst du das von hier oben erkennen?“
„Wenn das keine Äste sind, dann sind es Knochen. Wir holen besser Hilfe. Hast du Handyempfang?“
Hatte sie nicht. Das Paar hielt einen Autofahrer an und bat ihn, die Polizei zu verständigen.
Noch schneller als die Polizei waren Helfer der Bergwacht zur Stelle. Einer der Männer befestigte ein Kletterseil am Brückengeländer und ließ sich an der senkrechten Felswand zu dem Gebüsch hinunter. Er bekam den Helm zu fassen. Er drehte ihn zu sich und blickte in die hohlen Augen eines skelettierten Schädels.
„Ein toter Motorradfahrer“, krächzte er seinen Kameraden über das Funkgerät zu. „Der muss schon ziemlich lange hier unten sein. Ich komme rauf.“
Der Helfer krallte sich an kleinen Felsvorsprüngen fest und zog sich nach oben. Da hörte er es. Er hielt inne und lauschte. Da war es wieder.
Seine Kameraden begannen gerade mit den Vorbereitungen für die Leichenbergung, als sie aus dem Funkgerät die Stimme des abgeseilten Kollegen hörten.
„Hier unten ist noch einer. Der lebt noch.“
Nach zwei Stunden war Frederic geborgen und auf dem Weg ins Krankenhaus. Den Motorradfahrer einen Meter neben ihm hatte ein ähnliches Schicksal ereilt. Ein Jahr zuvor.