Was ist neu

Serie Timor Parvo - Zombies auf Milchschnitte

Seniors
Beitritt
15.04.2002
Beiträge
4.195
Zuletzt bearbeitet:

Timor Parvo - Zombies auf Milchschnitte

Toren had stepped on a lot of bugs during his life,
so he couldn't help feeling embarrassed when a bug stepped on him.

Text auf der Magic-Karte »Riesenschabe«​

Gerüchteweise spielen nur picklige Pubertierende in den Hinterzimmern muffiger Fantasy-Shops jenes Kartenspiel. Fast jeder Leser hat sie schon einmal gesehen, diese Karten mit den bunten Bildchen von fauligen Zombies, langnasigen Goblins, eher harmlosen Elfen und – natürlich – furchtbar mächtigen Drachen und Zauberern. Als ich – angelockt durch ein Sonderangebot »dienstags nur 9 Euro« – gestern mal wieder jenes Hinterzimmer betrat, war ich wie so oft der einzige Erwachsene.
»Ich fang mal an«, sagte der picklige Pubertierende mit der verdrehten Schirmmütze und hatte seine Karten gemischt, bevor ich mich auch nur hingesetzt hatte. Ich versuchte, flach zu atmen, denn es waren Ferien: Der den ganzen Tag unbelüftete Raum voller Jungs, die Rauchen erwachsener finden als die Benutzung von Deo, hatte bei sommerlicher Wärme die Konsistenz sublimierter Bravo-Hefte angenommen.
Ich will den geneigten Leser nicht mit technischen Details der folgenden Spielrunden belästigen, und sie sind mir auch nur noch vage in Erinnerung. Es sei nur soviel gesagt: Selbst die Zaungäste gaben es irgendwann auf, mir Tipps geben zu wollen, wie meine tapferen Soldaten gegen die untote Ungeziefer-Armee meines Gegenübers namens Fabi bestehen könnte. Zwischen zwei verlorenen Spielen tauchte ein gewisser Micha im ansonsten nunmehr einsamen Spielzimmer auf. Er fragte, ob wir gleich mit auf die Kirmes gehen, er sei vorhin schon da gewesen: »Geile Mädels ey«. Fabi betrachtete konzentriert seine Zombie-Armee auf dem Tisch, mit der er sich wesentlich besser auskannte als mit Mädels. Ich schüttelte den Kopf: »Ich muss noch mindestens einmal gewinnen heute.«
Micha grinste, rülpste gasförmige Begleiterscheinungen von auf Kirmesständen zubereiteten Nahrungsmitteln hervor und verschwand mit einem »Das kann ja noch länger dauern, ich hol mir ein Bier«.
Vielleicht war es der Rülpser, der die fehlende Zutat für die magische Suppe in dieser Krypta der Spielsüchtigen bildete, vielleicht beschloss aber auch der nach übermäßigem Kartenspiel zwangsläufige Alptraum, heute schon vor dem Einschlafen anzufangen, und zwar real. Auf jeden Fall nahm das Verhängnis seinen Lauf, als eine Karte – ein von einem gegnerischen Zombie entleibter Ritter – von meinem Ablagestapel zu Boden fiel. Ich bückte mich, um die Karte aufzuheben, aber als ich zugreifen wollte, wuchsen ihr Beine. Sie entwischte mir und versteckte sich hinter dem Tischbein.
»Hm. Iswas?«, kam Fabis Stimme von oben. Der Ritter guckte um die Ecke und zeigte mir den Mittelfinger.
Ich richtete mich auf, zwinkerte und murmelte: »Ich dachte, eine Karte sei runtergefallen.«
»Hm«, machte Fabi und streichelte geistesabwesend seine gerade ausgespielte Karte mit dem schönen Namen »Blinder Kriecher«.
»Aber da unten liegen nur leere Hüllen von Milchschnitten und leere Colaflaschen. Keine Ritter. Ich meine: Keine Karten.«
»Hm«, machte Fabi erneut und schielte nach seiner eigenen Milchschnitte, die halb gegessen am Rand des Tisches lag.
Ich wollte gerade weiterspielen, als Fabis »Riesenschabe«-Karte sechs Beinchen ausfuhr, etwas von »mir ist langweilig, hab Hunger« murmelte, sich aufrappelte und Richtung Milchschnitte krabbelte. Fabi kriegte große Augen, griff nach der vielbeinigen Schabenkarte, überlegte es sich aber im letzten Moment anders und starrte ihr nur mit offenem Mund hinterher.
»Sieht echt gesund aus«, sagte mein Elfenheiler, fuhr seinerseits Beine aus und marschierte ebenfalls Richtung Milchschnitte.
Als auch Fabis Blinder Kriecher anfing, sich zu bewegen, und dabei schmatzende Geräusche machte, rückten wir ein Stück vom Tisch weg.
»Meine Milchschnitte«, entfuhr es Fabi. Der Junge zitterte am ganzen Leib, während wir zusahen, wie sein Blinder Kriecher ständig mit anderen Karten zusammenstieß und sich dafür schließlich eine Tracht Prügel von einem Wütenden Goblin einfing, der dabei wild gackerte. Der Elfenheiler hatte mittlerweile die Riesenschabe auf den Rücken gedreht und schmatzte zufrieden an der Milchschnitte. Die Beinchen der Schabe strampelten hilflos in der Luft. Ein paar Zombies schlichen sich von hinten an, aber ich kam nicht dazu, meinen Heiler zu warnen. Sein weiteres Schicksal entging mir, denn Fabi kreischte plötzlich: »Iiiieh!« Er fummelte angeekelt unter dem Tisch herum.
»Was ist?«
»Dein Fahrender Ritter reibt sich an meinem Bein!«
Ich warf einen Blick unter den Tisch. Das Tun der Ritter-Karte erinnerte mich stark an den Chow Chow meiner Nachbarin, zu dem ich immer möglichst großen Abstand hielt. Ich streckte den Arm aus, um dem Ritter Einhalt zu gebieten, aber er entwischte mir. »Was ist hier bloß los«, murmelte ich.
»Aaaah!«, kreischte Fabi. Ich fuhr hoch, stieß mir den Tisch am Kopf, äh, den Kopf am Tisch – Entschuldigung, es wird gerade turbulent – und sah erschüttert, wie der Junge versuchte, den Blinden Kriecher abzuschütteln, der in seinen Ärmel gekrochen war. Die Zombies traten dem Elfenheiler in den Hintern und machten sich über die Milchschnitte her.
Etwas kaltes tippte an meine linke Hand, und ich fuhr zurück. Es war das Schwert eines meiner Ritter. Hinter ihm hatten sich weitere meiner Kämpfer versammelt. Der Anführer richtete sich zu seiner vollen Größe von zwölf Zentimetern – inklusive Beinchen – auf und tönte: »Wir weigern uns, fürderhin in diese aussichtslose Schlacht zu ziehen.«
»Äh ...«, machte ich.
»Der Parlamentär ist schon unterwegs«, sagte der Ritter und zeigte triumphierend auf einen Kameraden, der mit weißer Fahne unterwegs zu Fabis Seite war. Ich befürchtete übles.
»Außerdem verlangen wir Bier.« Eine andere Karte flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Und ... Frauen«, ergänzte der Ritter daraufhin. Seine Kameraden johlten und schwenkten ihre Schwerter.
»Ich habe hier irgendwo eine Singende Hexe!«, rief Fabi, der die Lage offenbar völlig verkannte und sein Sammelalbum aufschlug – das mit den besonders wertvollen und mächtigen Karten. Zu spät – reihenweise sprangen Karten mit Beinen, Flügeln und sonstigen Gliedmaßen aus dem Album. Auch die Hexe war darunter – sie flatterte wie eine Motte Richtung Deckenlampe und gab dabei einen ziemlich schiefen Gesang zum Besten.
Meine Ritter feuerten sie auch noch an.
»Aaaah! Aaaah! Aaaarg!«, schrie der Parlamentär, den zwei Zombies offenbar schmackhafter fanden als die Milchschnitte. Mir fiel auf, dass eine ganze Reihe Karten brav und unbeweglich auf dem Tisch lag – nur die Kreaturenkarten rannten in der Gegend herum, die Hexerei-Karten nicht. Eine Idee begann sich zu formen, aber sie zerstob, als mich etwas heißes am Handrücken traf. Ein Zauberer, den ich nicht gleich erkannte, war aus Fabis Album entwischt und schoss mit Feuerbällen um sich. Fabi sprang quiekend unter den Tisch. Es roch verbrannt.
Ich beschloss, dieses Spiel zu beenden. Da die herumlaufenden Karten ständig die Regeln brachen, musste ich mich um die auch nicht mehr scheren. Ärgerlicherweise hatte ich keine Hexerei zur Hand, die dem Treiben Einhalt gebieten konnte. Aber ich wusste: es gibt sie. Kurz entschlossen grabschte ich zwischen zwei Feuerbällen nach Fabis Sammelalbum und schlug es auf. Sofort schwebten ein paar Geister hervor, die ich mit der freien Hand verscheuchte. Der Zauberer nahm die Herausforderung an, auf bewegliche Ziele zu schießen. Feuerbälle versengten mir die Haare. Die Geister heulten. Unter dem Tisch heulte es auch, das war Fabi. Vielleicht hatte der anhängliche Ritter angefangen, sich vor ihm zu entblößen. Hektisch blätterte ich durch das Album. Ein Goblin, der genervt in seiner Hülle festklemmte, biss mir in den Zeigefinger, aber ich ignorierte den Schmerz. Ich blätterte um. Nichts. Nächste Seite, nichts. Aber ich war sicher, dass Fabi den richtigen Zauberspruch besaß – hauptsächlich, um damit anzugeben. Er spielte ihn nie, weil er »nicht seiner schwarzen Seele entsprach«. Da! Da war er! Ich fummelte die Karte aus der Hülle und hob sie hoch. Es war eine Hexerei, deshalb verhielt sie sich, wie es sich für ein Stück Pappe gehörte. »Zorn Gottes!« brüllte ich den Namen der Karte und knallte sie auf den Tisch.
Sofort war es still. Der Zauberspruch hatte gewirkt und alle Kreaturen vernichtet. Unter dem Tisch hörte das Wimmern auf. Ich atmete tief durch und fühlte mich ... nun, göttlich.
Langsam kam ein blasser Fabi wieder zum Vorschein. Sprachlos ließen wir unsere Blicke über die in der Gegend herumliegenden, bewegungslosen und teilweise zerfetzten Karten schweifen.
Die Tür ging auf, Micha kam mit einer Flasche Bier in der Hand herein. Er sah sich die Bescherung an und nickte. »Aha, ihr seid fertig. Also Jungs, auf die Kirmes?«
Ich grinste und bot Fabi meine Hand an: »Unentschieden?«

Ähnlichkeiten mit real existierenden oder verstorbenen Spielkarten sind rein zufällig.

11.8.-14.8.05

zum Serienthread

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom