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Tim
Blitze zuckten durch die Nacht. Ein lautes Donnergrollen war zu hören. Dann öffnete der Himmel die Schleusen. Linda sah auf das Display ihres Smartphones. Mitternacht. Seit Stunden war sie auf der Suche nach Tim.
„Tim? Wo bist du? Hörst du mich?“, schrie sie, während sie eine Straße entlang rannte, die scheinbar nirgendwo hinführte. Obwohl die Füße brannten und der Atem stoßweise ging, hatte sie das Gefühl, keinen Zentimeter vorwärtszukommen. Vor ihr lag kilometerweit Asphalt. Aus der Ferne vernahm sie den klagenden Ruf eines Käuzchens.
Huh-Huhuhu-Huuuh.
Am Rand der Straße befand sich ein dichter Wald. Vielleicht war Tim vom Weg abgekommen. Der Regen prasselte auf sie nieder. Sie schlug einen Haken und kämpfte sich durch das Dickicht, ohne darauf zu achten, dass die Zweige ihr das Gesicht zerkratzten. Der Boden war glitschig, sodass sie mehrmals ausrutschte stürzte, sich wieder hochrappelte.
„Tim, sag doch etwas! Ich bin hier. Wo bist du?“
Sie konnte kaum etwas erkennen. Dichte Baumkronen verhinderten, dass das Mondlicht hindruchdrang. Die Taschenlampenfunktion des Handys half auch nicht weiter. Ihr Herz schlug so wild, dass es wehtat. Sie keuchte, es fühlte sich an, als würde die Lunge zerbersten. Sie war in Panik. Wenn sie ihn nicht bald fand, war es vielleicht zu spät.
Plötzlich hörte sie eine Stimme, die ihr zuflüsterte: „Du wirst ihn niemals finden, Linda. Dein Mann ist tot."
Sie schaute sich um. Nach links, nach rechts, nach oben – da war niemand. Nur das Käuzchen leistete ihr Gesellschaft.
Huhuhu-Huuuh, rief es immer wieder.
„Das kann nicht sein“, brüllte sie in die Finsternis. „Er ist nicht tot. Ich habe ihn heute Morgen gesehen. Es ging ihm gut.“
„Er ist tot. Tim ist bei uns. An einem besseren Ort.“
„An einem besseren Ort? Der beste Ort für ihn ist an meiner Seite“, kreischte sie in die Dunkelheit hinaus, bevor sie die Stimme ignorierte.
„Tim!“, rief sie ein letztes Mal. „Antworte mir! Bitte!“
Ihre Stimme brach. Ein Weinkrampf erschütterte sie. Die Schultern zuckten, Magensäure stieg in der Speiseröhre hoch, der Kopf dröhnte, als würde jemand mit dem Vorschlaghammer auf ihn einprügeln, die Gliedmaßen hingegen fühlten sich an wie gelähmt. Sie bestanden aus zentnerschwerem Blei, das sie in die Tiefe zog. Erschöpft sackte sie auf die Erde und lehnte den Kopf an einen Baum.
„Bitte! Bitte!“, flehte sie. „Du darfst nicht tot sein. Du musst leben. Ich brauche dich.“
Ihre Worte verhallten im Nirgendwo.
Sie bekam keine Antwort.
Lediglich das Käuzchen gab erneut einen durchdringenden Laut von sich.
Huh-Huhuhu-Huuuh, hallte es durch die Dunkelheit.
Als sie den Kopf wieder hob, sich Zweige und Gestrüpp von der Kleidung abklopfte und nach Atem rang, wurde ihr klar, dass sie weiterlaufen musste. Nur so hatte sie eine Chance, Tim zu finden. Sie rannte los, beschleunigte das Tempo mit jedem Schritt, bis sie von einem dicken, knackenden Ast jäh gestoppt wurde. Holz splitterte und zerbrach. Sie stolperte, taumelte, dann fiel sie.
Der Aufprall war hart. Sie rutschte in die Tiefe. Zweige zerrissen die Jeans, spitze Dornen bohrten sich in ihr Fleisch, sie knallte mit dem Knie gegen einen Stein. Der Fall wurde von einem Baumstumpf gestoppt. Sie schrie. Vor ihr klaffte eine Schlucht, sie hörte das Wasser in der Tiefe rauschen. Gerade noch mal gut gegangen, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie blickte sich um. Der Tannenwald war verschwunden. Das Käuzchen blieb still. Die Finsternis war einem helleren Grau gewichen. Unbeholfen raffte sie sich vom Boden auf, um sich neu zu orientieren. Der Regen hatte nachgelassen.
Sie befand auf einer Lichtung, die von hohen Eichen umrahmt wurde. Grabsteine, Fackeln, die unruhig zuckten, eine schwarze Flagge, die im Wind wehte. Ein Friedhof? Schaudernd zog sie den Kragen des Mantels höher, vergrub die Hände in den Taschen, kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Etwas weiter entfernt stand eine Ansammlung von Menschen, die wie gebannt den Worten eines Redners lauschte. Sie pirschte sich näher heran, erkannte niemanden. Der Redner trug eindeutig ein Priestergewand. Wo zum Henker war sie da reingeraten? Sie verbarg sich hinter dem Stamm einer Eiche.
Ihr Blick fiel auf den Sarg aus Ebenholz.
Auf die Person, die auf weinrotem Samt gebettet war.
Tim!
Seine Haut erinnerte an Pergamentpapier, die Augen waren geschlossen, die Hände vor der Brust verschränkt. Unter den Fingern lag eine langstielige rote Rose.
„Tim! Tim!“, schrie sie wie von Sinnen, während sie auf die Trauergemeinde zustürmte.
Alle Köpfe drehten sich nach ihr um. Blicke durchbohrten sie. Einige fingen an, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln.
„Lasst mich zu ihm! Lasst mich zu ihm!“, kreischte sie und stürmte Richtung Sarg.
Einer der Trauergäste hielt sie zurück, indem er sie grob am Arm packte. Es fühlte sich an, als würde das Gelenk herausspringen. Ein durchdringender Schmerz durchzuckte sie.
„Lass mich los! Nimm deine Griffel von mir!“, herrschte sie ihn an.
„Beruhigen Sie sich“, flüsterte ihr der Mann im schwarzen Anzug zu, dessen schlohweißes Haar wild vom Kopf abstand. „Man stört die Toten nicht in ihrer ewigen Ruhe.“
Sie wollte etwas erwidern, doch das Wort blieb ihr im Halse stecken. Diese Augen! Pupille und Iris so schwarz, dass die Konturen ineinander verliefen. Starr, ohne Mitgefühl. Sie hatten nichts Menschliches an sich. Solchen Augen war sie nie zuvor begegnet. Sie biss sich auf die Zunge. Mit einem Mal fühlte sie sich wie versteinert. Das Blut gefror ihr in den Adern, während sie zusah, wie einer der Ministranten sich anschickte, den Deckel des Sargs zu verschließen.
Sie warf einen letzten Blick auf Tims Gesicht, das sich plötzlich bewegte. Die Augenlider flatterten, als würde er sie jeden Moment öffnen.
Er lebte!
Eindeutig.
Was ging hier vor sich? Sahen die anderen es nicht?
„Stopp! Hört sofort auf! Er ist nicht tot. Ihr dürft ihn nicht begraben!“, brüllte sie.
Der Kerl mit den Geisteraugen hielt sie fest umklammert. Egal, wie sehr sie versuchte, sich aus dem Griff zu winden, sie hatte keine Chance. Er hatte schier übermenschliche Kräfte.
Tims Augenlider zuckten. Nur noch ein paar Millimeter und der Deckel war auf dem Sarg. Wer sollte ihn dann noch retten?
Sie wand sich unter dem Griff des Mannes.
Ihr stockte der Atem.
Dicke weiße Maden krochen unter Tims Augenlidern hervor. Sie musste den Blick abwenden. Sie würgte, presste die Hände auf den Bauch. Er war wirklich tot. Es bestand kein Zweifel mehr. Sie sackte in den Armen des unheimlichen Kerls zusammen. Der Gedanke, dass Maden sich über Tims Körper hermachten, drehte ihr den Magen um. Dennoch wand sie den Kopf in seine Richtung. Sie wollte wissen, was geschah.
Fünf gesichtslose Totengräber ließen den Sarg langsam in die Erde hinab. Stück für Stück. Meter für Meter.
Er verschwand in der Tiefe. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ein gequälter Laut entwich ihrer Brust, die sich zusammenschnürte und ihr die Luft zum Atmen nahm.
Huh-Huhuhu-Huuuh, rief das Käuzchen, das auf einmal über ihren Kopf hinwegflatterte. Der Ruf traf sie mitten ins Herz.
Schweißgebadet schreckte Linda hoch. Ihr Herz raste, das Gesicht war nass von Tränen. Sie tastete nach der rechten Seite des Bettes. Sie war leer. Tim!, schoss es ihr durch den Kopf. Die Benommenheit wich, langsam kam sie zurück in die Realität. Sie zog ein Taschentuch aus der Box auf ihrem Nachttisch, trocknete sich die Tränen. Ein bitteres Lachen stieg in der Kehle auf, sie presste die Lippen zusammen. Fahrig griff sie nach dem Hochzeitsfoto auf dem Nachtschrank, ließ ihre Finger über Tims Gesicht gleiten, hauchte einen Kuss auf seine Lippen. Ach, Tim! Warum musstest du bei dem Sturm mit dem Boot raus? Du fehlst mir. Es bringt mich um, nicht zu wissen, wo du bist. Ob du noch lebst."
Ihre Hände glitten über den Bauch, die sanfte Wölbung. Sie konnte die Tritte spüren. In dem Moment klingelte das Handy. Sie zuckte zusammen, starrte auf das Display. Unterdrückte Nummer. Sie nahm ab.
Eine blecherne Stimme flüsterte: „Spreche ich mit Linda Knoelker?“
Irritiert hielt sie inne, kniff sich in den Schenkel. Die Haut färbte sich rot. Sie war wach, das war kein weiterer Albtraum. „Ja, die bin ich. Mit wem spreche ich?“
Linda hielt das Smartphone vor das Gesicht, fixierte das Display. Ein Knacken in der Leitung, dann fuhr der Anrufer fort. „Bitte entschuldigen Sie den späten Anruf. Mein Name ist Tomas Simao von der Küstenwache Portugal. Ihr Mann wurde vor zwei Stunden gefunden. Die Flut hat ihn an Land gespült.“
Ein Aufschrei. Sie zitterte, klammerte sich am Laken fest. „Was sagen Sie da? Hab ich Sie richtig verstanden? Lebt er?“ Sie wimmerte, hatte Mühe, einen vollständigen Satz zu formulieren. Tim! Endlich! Sie konnte es nicht glauben.
„Es tut mir leid, Frau Knoelker. Er liegt im Koma. Die Ärzte können noch keine Prognose abgeben.“
„Nein!“, schluchzte sie, griff sich an die Brust. Das Herz krampfte sich zusammen. Sie stand auf, tigerte im Raum umher, der Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Tempo. „Wo ist er? Ich will zu ihm. Ich muss bei ihm sein.“
„Er liegt im St. Vincent Krankenhaus in Nazaré. Dort ist er in besten Händen.“
„Ich buche den nächsten Flug“, stammelte sie. Reiß dich zusammen!, sagte sie sich immer wieder. „Sobald ich die Flugdaten habe, melde ich mich. Wie kann ich Sie erreichen?“
Sie schaffte es kaum, denn Füller in der Hand zu halten, notierte Name, Adresse und Telefonnummer des Anrufers. Noch eine Weile nach dem die blecherne Stimme sich verabschiedet hatte, starrte sie das Handy an, bis sie sich schließlich aufs Bett setzte, die Knie heranzog, sie umschlang und sich hin und her wiegte. Tim! Liebster! Du darfst mich nicht verlassen! Nicht noch einmal. Ich brauch dich doch! Wir brauchen dich! Sie schrie ihren Schmerz heraus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, setzte sich an den Laptop. Zehn Minuten später hatte sie den Flug gebucht. In knapp fünfzehn Stunden würde sie in Nazaré ankommen. Er muss überleben! Er wird überleben!, flüsterte sie immer wieder. Sie sah ihn vor sich, im Krankenbett, überall Schläuche. Hastig schüttelte sie das Bild ab. Hoffnung! Da war Hoffnung! Man hatte ihn gefunden, er lebte. Er musste es schaffen! Ein Leben ohne ihn könnte sie nicht ertragen. Er sollte sein Kind aufwachsen sehen.
Ein sanfter Tritt. Es war, als könne der Fötus ihre Gedanken hören. Wir gehen zu deinem Vater“, wisperte sie. Er wird so glücklich sein, von dir zu erfahren. So lange haben wir es versucht. Wir hätten fast aufgegeben.
Sie zog den Trolley unter dem Bett hervor, legte ihn auf die Matratze und füllte ihn mit dem Nötigsten. Dann öffnete sie die Balkontür, trat hinaus, ließ sich die kühle Nachtluft ins Gesicht blasen. Eine Träne löste sich, rann über die Wange. Schon bald würde sie die Liebe ihres Lebens wiedersehen. Alles wird gut, das war ihr Mantra. Ein langer, durchdringender Laut riss sie aus den Gedanken.
Huhuhu-Huuuh, tönte aus der Ferne.
Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper. Ja, Tim, ich komme.