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Tierflüsterer
„Soll ich die Tür abschließen und das Schild umdrehen?“, fragt mich Greta, als sie die Schürze losbindet und sie über die Theke legt.
Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr. „Gut. Mittagspause. Der Schlüssel hängt am Brett“, sage ich und poliere weiter das Glas. „Brauchst du Hilfe bei den Hausaufgaben? Du kannst dich gerne hier hinsetzen.“
Greta murmelt irgendetwas und schlendert zur Eingangstür, während meine Kopfschmerzen heftiger werden. Obwohl das Pochen Gretas Worte übertönt, meine ich zu wissen, was sie wirklich sagen wollte. Eine Art Ahnung, die ich schon lange nicht mehr verspürt habe. Ich darf das jetzt nicht überbewerten, mir nichts einbilden. Es war eine harte Woche.
Greta kommt zurück. „Papa? Geht’s dir gut?“
„Äh … ja. Was hast du eben gesagt?“
„Ich komm klar.“
Aus dem Augenwinkel beobachte ich meine Tochter, wie sie sich einen Barhocker näher heranzieht und darauf Platz nimmt.
„Normale Milchshakes hast du ja nicht.“ Lächelnd zeigt sie auf die Orangenpresse. „Kann ich einen O-Saft zum Mitnehmen haben? Mein Bus kommt gleich, Mama wartet auf mich.“
Gedankenversunken stelle ich einen Becher unter den Hahn und drücke den Schalter. „Du kannst gerne wiederkommen und aushelfen. Mama wird bestimmt nichts dagegen haben. Freitagabends ist hier die Hölle los, ein DJ legt auf.“ Einige Orangenschalen fallen in die Seitenfächer; ich nehme den Becher heraus. „Du kannst auch deinen Freund mitbringen.“
„Ich habe keinen Freund.“ Greta errötet. „Heute Abend kann ich nicht, komme ein andermal.“
Das Hämmern im Kopf lässt nicht nach. Meine Hände werden schweißnass und beginnen zu zittern. Der Becher stürzt auf die Fliesen.
Einen Augenblick schaue ich auf den Boden, dann auf meine Hände. Schließlich werfe ich das Gefäß in den Müll und putze mit einem Lappen alles sauber. Ich hatte gehofft, es überstanden zu haben. Ein für alle Mal.
Während ich einen neuen O-Saft abfülle, fragt mich Greta: „Mama hat erzählt, das hier gehörte früher Opa?“
„Ja.“ Ich stülpe einen Deckel auf den Becher, stecke einen Strohhalm hinein und schiebe das Getränk hinüber. „Hier, lass es dir schmecken.“ Ich öffne den oberen Knopf meines Hemdes und deute ohne hinzuschauen nach hinten. „Lager und Büro kennst du ja. Dort hat mein Vater früher die Tiere … getötet. Geschlachtet.“ Dann klopfe ich auf das Holz. „Hier stand die Fleischtheke. Wo heute die Clubsessel sind, haben die Leute an Stehtischen heiße Fleischgerichte runtergeschlungen. Und da, wo das DJ-Pult ist, stand der alte Räucherofen.“
„Und du hast es nun Tierflüsterer genannt. Das ist irre. Schade nur, dass ich Oma und Opa nie kennengelernt habe. Hätte denen auch mal gerne im Laden ausgeholfen. Warst du als Kind oft hier?“
Ich schlucke ein paarmal und antworte: „Ich bin nie in der Metzgerei gewesen.“
„Komisch. Verstehe ich nicht. Warum?“
„Das ist eine lange Geschichte, Schatz. Die werde ich dir irgendwann mal erzählen.“ Ich schnappe mir einen Lappen und wische einige Wassertropfen im Spülbecken weg. „Wann kommt dein Bus?“
Greta schaut auf die Uhr. „Erzählst du sie mir jetzt? Vielleicht kannst du mir auch erklären, warum du nur Pappkartons und Papiertüten hast. Woanders nehmen sie Aluschälchen oder wickeln das Essen in Alufolie ein. Das schützt doch viel besser.“
Hitze steigt mir die Wangen hoch. „Ja, schützt besser …“, hauche ich.
Von hinten ruft meine Köchin, dass sie Avocados und Linsen besorgen müsse. Die schwere Metalltür fällt ächzend ins Schloss.
„Gut, Kleine. Irgendwann muss …“ Ich überlege kurz und blicke dabei Greta an, die weiter am Strohhalm schlürft und den Kopf schief legt. „Mit Alufolie hab ich verdammt schlechte Erfahrungen gemacht.“ Ich kratze mich an der Stirn. „Halt mich jetzt nicht für verrückt, Süße. Ich vergesse nie, was er mir angetan hat. Ich konnte mich nicht wehren, bekam das verdammte Ding nicht ab. Meine Hände waren zu schwach. Er hat dieses Knisterzeug mit Gummiringen oder Tesafilm festgemacht.“
„Wovon sprichst du?“
„Mein Vater … Er hat meinen Kopf mit Alufolie umwickelt.“ Der Satz schwebt noch einen Augenblick in der Luft, während ich mir ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank hole. „Alles der Reihe nach. Meine Mutter werkelte in der Küche, im Hintergrund lief der Fernseher. Eine Reportage. Bauernhof, Zucht, Mast, Schlachterei. Ich konnte die Angst der Schweine auf dem Gang zum Schlachter spüren, den Aufschrei der Hennen hören, als man ihnen ihre Eier wegnahm …“
„Ich verstehe nicht“, unterbricht Greta und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Mir taten die Tiere so leid, Greta. Ich fühlte mich schuldig für ihre Qualen, für ihren Tod. Ich musste ständig weinen, wenn ich oder andere auch nur an Fleisch dachten. Mir wurde klar: Ich will keine tierischen Produkte essen.“
„Wenn andere an Fleisch dachten? So ein Quatsch!“
Ich nehme die Schürze, falte sie zusammen und verstaue sie unter die Theke.
Greta trinkt weiter, während ich ein paar imaginäre Staubfusseln vom Holz wische und aus dem Fenster schaue. Ein heftiger Platzregen trommelt auf die Straße. Ein Auto rollt vorbei und spritzt eine Pfütze auf. Ein junges Pärchen sucht Schutz unter der Markise. Nervös kramt die Frau in ihrer Handtasche; der Mann schnippt genervt eine Kippe in den Rinnstein. Ein leises Fluchen liegt auf seinen Lippen.
Ich schüttle blinzelnd den Kopf, um die Worte zu vertreiben, die so deutlich klingen, dass ich glaube, er hätte sie ausgesprochen.
„Er wollte mir heimlich Fleisch einflößen, es ins Essen beimischen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe es ausgespuckt. Dann hatte mein Vater die fiese Idee mit der Alufolie. Er muss das wohl im Fernsehen gesehen haben. Er versuchte, mich auszutricksen.“
Ich beiße auf die Lippe und schaue hinaus. Der Regen hat nachgelassen, die Autos fahren schneller. Die Frau hakt sich beim Mann ein, der einen Regenschirm aufgespannt hat. „Wie soll ich es sagen? Die Folie sollte die Gedankenströme unterbrechen.“
„Wie in dem alten Louis-de-Funès-Film mit den Außerirdischen? Abgefahren. Aber hätten dann nicht deine Eltern einen Aluhut aufsetzen müssen, damit du nicht ihre Gedanken kontrollieren kannst?“ Greta zieht die Augenbrauen hoch. „Na ja. Und dann?“
„Ich wollte gar nichts mehr essen oder trinken. Die Alufolie kam wieder weg.“
„Das ist verrückt.“ Greta bleibt das Lachen im Hals stecken. „Warum haben deine Eltern denn versucht, die Gedanken zu unterbrechen? Dachten sie etwa, du konntest ihre Gedanken lesen? Oder konnten sie es?“ Ihr Ton klingt spöttisch. „Mensch, was frage ich da überhaupt!“
„Wir haben nie darüber gesprochen.“ Ich atme schwer aus und nippe an der Flasche. „Ich habe später nur einem Menschen von meiner Fähigkeit erzählt. Einem Menschen, dem ich sehr vertraut habe.“
Greta springt auf und macht eine abwinkende Geste. „Dein Vegan-Club ist ja echt cool …” Sie gabelt ihre Schultasche vom Garderobenständer. „Aber du hast mir ganz schön einen Bären aufgebunden! Ich muss jetzt. Mein Bus.“ Sie lächelt mich an.
Ich kenne dieses ungläubige, von tiefen Grübchen begleitete Lächeln. Damals gab es nichts, womit ich alles untermauern konnte. Das Lächeln hatte sich schließlich in Verachtung gewandelt.
Als meine Eltern starben, blieb ich alleine zurück. Alleine mit dem Hämmern im Kopf, wenn es begann. Alleine mit den Stimmen im Kopf. Dann verschwand plötzlich alles, von heute auf morgen. Ich fühlte mich befreit. Übrig blieb nichts anderes als ein leichtes Pochen im Kopf und ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Dieses Gespür warnt mich davor, dass ich auch meine Tochter verlieren könnte. „Nichts da, setz dich wieder hin.“
Ich klatsche in die Hände und drücke sie so feste zusammen, dass ich die Adern als blaue Stränge durch die Haut schimmern sehe. Nur noch einmal, sagt mein Inneres. Ein letztes Mal, dann ist es vorbei. „Wieso fragst du mich nicht wegen der beiden Bioaufgaben?“ Meine Hände lockern sich.
Greta wirft zuerst einen Blick auf ihre Tasche und mustert mich dann. „Papa, woher …?“
Das Pochen in meinem Kopf ist verschwunden. „Der Mensch kann von Anfang an vegan leben. Auch du hättest es gekonnt.“
„Was willst du mir denn jetzt sagen? Was hat das mit mir zu tun?“
„Von Geburt an, verstehst du? Ich war etwa fünf Monate alt, als das alles passiert ist. Meine Mutter hat mich dann nach dem Abstillen notgedrungen mit Obstgläschen, weichgekochtem Gemüse und Haferbrei weitergefüttert. Und sieh mich an. Mir geht es blendend. Das ist keine Spinnerei und auch keine Kindesmisshandlung, ich bin das beste Beispiel.“
Greta mustert mich erneut. „Du hast also noch nie Fleisch gegessen? Und Kuhmilch, Eier …“
„Deine Mama … Sie hat es nicht verstanden. Nie verstehen wollen. Sie hat ganz andere Ansichten, was Ernährung angeht. Ich wünschte, ich hätte sie nach deiner Geburt überzeugen können …“