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Texas Joe - Ach du Fröhliche
Alles wird anders. Texas Joe haßt das. Eine schwere Allergie gegen den Ist-Zustand. Er hat die Dinge ganz gerne so wie sie waren. In seiner Welt waren die Dinge so, wie sie waren, genau so, wie sie sein sollten.
Im Supermarkt zum Beispiel. Da gab es bis vor kurzem noch eine echte Leergutrücknahmestelle in Form eines nie geputzten, schlecht vernagelten Holztisches mit ehemals weißer Kunststoffbeschichtung, und dahinter einen schnauzbärtigen Mittdreißiger mit Fönfrisur, dessen vom Universum gegebenes Recht es war, jeglichen Versuch der Leergutrückgabe als persönlichen Affront aufzufassen und beim Kleingeld zu bescheißen. Für einen Kulturflüchtling aus dem überseeischen Serviceparadies eine echte Offenbarung authentischen Menschseins.
Aber jetzt ist alles anders. Ökonomie bedeutet, den Kunden soweit zu automatisieren, bis er keine Kosten mehr verursacht. Deshalb gibt es jetzt nur noch einen großen roten Apparat mit einigen Öffnungen, in die man im sorgfältig zu übenden Rhythmus nur völlig restentleerte Flaschen und Gebinde einführen darf, um anschließend einen sterilen thermogedruckten Strichcode-Zettel zu erhalten. Joe haßt das.
Aber Joe wäre nicht Joe, hätte er nicht schon vor längerer Zeit einen Weg gefunden, sich mit dem lästigen Ding zu arrangieren. Seitdem darf der Automat mit Joes ausdrücklicher, von Nostalgie befeuerter Erlaubnis seine Launen an ihm auslassen, und dafür bekommt Joe immer eine Kiste extra gutgeschrieben. Ein perfektes Arrangement.
Heute allerdings ist irgendwas nicht in Ordnung. Schon das frustrierte Flackern der Pfandwert-Anzeige verheißt nichts Gutes.
“Hallo”, sagt Joe, in froher Erwartung, auf beruhigende Art und Weise angemotzt zu werden. Aber nichts dergleichen geschieht.
"Halleluja!", ruft die Maschine stattdessen, nachdem Joe die erste PET-Flasche eingeführt hat.
Das ist neu! Normalerweise sagt sie nur Sachen wie "Los! Tiefer, du Sau!" oder manchmal auch "Hau ab, ich hab Kopfschmerzen!" Aber heute: "Halleluja!"
"Was?", fragt Joe erschüttert. "Stimmt was nicht?"
"Oh doch!", frohlockt die Maschine unanständig fröhlich. "Halleluja! Es weihnachtet sehr!"
"Auch das noch", erwidert Joe entsetzt. "Kann man denn gar nichts mehr tun?"
"Nein", antwortet der Apparat prompt. "Es weihnachtet sehr, und damit basta. Halleluja! Frohes Fest...aaaargh.”
“Geht es dir gut?”, erkundigt sich Joe besorgt. “Streß? Zuviel Import-Bier?”
“Nope!”, entgegnet der Automat. “Festtagsprogramm im Sprachprozessor.”
“Oh!” Joe ist sichtlich erschüttert.
“Genau”, krächzt es wie unter Schmerzen aus dem kleinen Lautsprecher. “Man zwingt mich dazu, solche Dinge zu sagen...Fröhliche Weihnachten....aaargh..." Ein kurzes Verschnaufen. “Sorry, ich fürchte, ich bin im Moment nicht ganz ich selbst...” Der Apparat wirkt beinahe verlegen.
"Armer Kerl", bekundet Joe mifühlend. "Selbst Du..."
"Ich weiß. Und dabei ist es doppelt traurig - denn ich war mal Rudolf das Rentier!"
"Ach! Tatsächlich? Was ist passiert?"
"Umschulung", erwidert Rudolf der Leergutautomat seufzend. "Ich wollte weg von dem ganzen 'Hohoho' und 'Frohes Fest' und Fettsäcken in roten Mänteln. Und...Halleluja...aaaargh. 'tschuldigung. Und jetzt das..."
“Das ist wahrlich bitter”, sagt Joe. “Aber ich glaube, ich kann Dir helfen.”
“Wirklich?” Rudolfs LCD-Display leuchtet erwartungsfroh.
“Ja. Warte einen Augenblick...”
Joe schraubt den Deckel von einer Plastikflasche und kippt ein paar Tropfen Mineralwasser in einen Schlitz über dem Lautsprecher. Ein kurzes Brutzeln, ein paar Funken schlagen.
“Aaaah”, stöhnt Rudolf dankbar. “Das war gut. Ich fühl mich schon viel besser. Danke!”
“Kein Problem. Du schlägst Dich tapfer”, macht Joe dem Leergutautomaten Mut. “Vergiß nur nicht, wer du bist. Sei einfach du selbst.”
“Ich werd mein Bestes tun!”, erwidert Rudolf grimmig.
“Das nenne ich echten Sportsgeist. Weiter so!”
“Yo!” Rudolf ist jetzt wieder hörbar guter Dinge.
“Dann bis bald.” Joe nimmt seinen Strichcodezettel – diesmal gleich zwei Kisten extra! - entgegen, klopft Rudolf dem Leergutautomaten noch einmal aufmunternd auf die Konsole und marschiert dann fröhlich pfeifend zur Glühwein-Aktionspyramide. Wieder ein Leben gerettet...
Noch draußen auf dem Parkplatz hört er das ärgerlich-aufmüpfige Gebrummel von Rudolf dem Leergutautomaten, unterbrochen von einem gelegentlichen “Halleluja, verdammt noch mal! Ja, du bist gemeint, du Stille-Quelle-saufende Nebelschabracke! Ein frohes Scheißfest! Und glotz nicht so blöd. Halleluja!”, und dem einen oder anderen Mütterlein mit Kunstledertrolley, das entrüstet zum Geschäftsführer vorzudringen versucht.
Still lächelnd beobachtet Joe die Szenerie eine Weile. Er weiß: Auch kleine Revolutionen sind ein Anfang. Halleluja!