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Territorium
Ich fühle mich schuldig, als hätte ich sein Herz vergiftet. Herzinsuffizienz, das ist ein Scherz, oder? In meinen Erinnerungen war er immer unverbesserlich, unantastbar. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich ihn Jahre nicht gesehen habe, weil ich dieses perfekte Bild wahren wollte. Gute Erinnerungen sind wie Alkohol, sie lassen dich den Moment vergessen.
Ausgerechnet sein Bruder hat mich eingeladen. Dass wir seinen Super Nintendo geschrottet haben, hat er uns anscheinend verziehen. Er hat mich auch gefragt, ob ich ihn zum Leichenschmaus begleite, doch ich konnte nicht. Ich kenne die Familie nicht, nur ihn, Ali. Wir waren uns Familie genug, haben unsere eigenen Geschichten.
Und die meisten spielten hier. Ich sitze auf der Bank im Hof zwischen den zwei Eichen und schaue dem tanzenden Laub zu. Die graue Fassade des Wohnblocks hebt sich kaum vom trüben Himmel ab.
Früher war alles blauer. Die Welt stand Kopf. Wir glaubten, einfach springen zu müssen, um einzutauchen in das klare Blau.
Alles war wärmer. In der Wettervorhersage höre ich ständig: der wärmste Juli seit Wetteraufzeichnung; der sonnigste September seit 1981. Die Sommer unserer Jugend haben sie wohl vergessen. Nach der Schule ab ins Freibad – jeden Tag. Es war spannend, den Mädchen im Bikini hinterherzugucken, die wir sonst nur im Pausenhof zu sehen bekamen.
Früher war alles höher. Wir standen mit den anderen Jungs auf dem flachen Dach von Wohnblock 8b, rauchten und redeten über die letzte und nächste Party. Von da aus hatten wir unser Territorium im Blick. Ich frage mich, ob ich mit dem Aufzug hochfahren sollte, um Ali ein Stück näher zu sein. Lasse es jedoch bleiben.
Früher war alles schneller. Wir rannten von der alten Verkäuferin davon, als sie uns beim Zigarettenklauen erwischte, und dem Ball hinterher, wenn wir auf dem Bolzplatz gegen die Dorfkinder spielten.
»Die Dorfkids«, flüstere ich, und die Zunge bleibt mir beinah am Gaumen kleben.
Unzählige Male bin ich besoffen das Treppenhaus zum siebten Stock hochgetorkelt, habe auf den Schlüssel gespuckt, damit er sich leiser im Schloss dreht, die Schuhe schon im Flur ausgezogen und bin vorbei am Schlafzimmer der Eltern in die Ausnüchterungszelle geschlichen. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne, aber stets im routinierten Automatismus, in dem ich mich jetzt befinde.
Sieht aus wie damals, stelle ich fest, als ich über den Platz laufe. Dieser Teerboden hat mehr Knie aufgeschürft als jeder andere, jede Strebe im Metallgitter einen Schuss abgefangen. Doch mein Interesse gilt der Bank aus Betonplatten, die eine Längsseite des Spielfeldes eingrenzt. Und tatsächlich: da steht es, verblichen von Sonnen- und verwaschen von Regentagen: KT! Buchstaben mit Alis Blut gemalt.
KT - King's Town. So nannten wir unser Territorium, weil wir in der Köngisstraße wohnten und weil wir einfach die Kings waren.
Ich setze mich auf die Betonplatte und zünde eine Zigarette an. Selbst der Tabak schmeckte besser. Wenn ich mich recht entsinne, nach Schinken.
Es war der Sommer meiner ersten Freundin. Ich nenne ihn Jule-Sommer. Mit Jule hatte ich mein erstes Mal. Gemessen am darauffolgenden Sexleben recht durchschnittlich, aber in dem Moment, Mann o Mann, das war das Größte.
Der Sex konnte nur wenige Nächte zurückliegen, denn ich fühlte mich an dem Tag so männlich wie das A-Team. Ich zündete mir eine Kippe an und schmeckte den Schinken. Ali und ich lungerten herum und bolzten gegen das Metallgitter, als ich ein vertrautes Geräusch hörte. Es war das Dröhnen von Thorstens Bajaj Sunny.
Sie kamen zu viert, drei auf Mofas, einer gezogen auf dem Fahrrad.
Thorsten nahm den Helm ab, strich sich die Haare glatt und fragte: »Hey, wo is der Rest?«
Ali zuckte mit den Schultern.
»Habt ihr Bock zu spielen?«, fragte er. »Drei gegen drei?«
Ali bejahte und wir spielten, kassierten ein Tor nach dem anderen. Thorsten suhlte sich im Erfolg, lachte und schrie bei jedem Treffer: »Ja! Ja, verdammt!«
Ali flüsterte mir zu: »Wenn ich das Stöhnen noch länger ertragen muss, kotz ich.«
Wir waren nicht das Problem, nein, unser dritter Mann machte das Spiel kaputt. Sobald er den Ball hatte, gab es nur Alleingänge.
Wieder verlor er den Ball und wieder schrie ich ihn an: »Schau nach links! Ich steh’ die ganze Zeit frei, Mann!«
Doch der Blondschopf lief an mir vorbei, schweigend, als wäre ich gar nicht da.
Ali flüsterte mir etwas zu und ich flüsterte zurück: »Nein.« Und er: »Doch.«
Wir steckten noch zwei Tore ein, dann rief Ali: »Time out!« Er hob die Hände. »Ich muss schiffen!«
Aber ich wusste es besser. Ich musste die Vier ablenken, während er seine Operation durchführte. Erzähl ihnen was, hatte er gesagt. Ha!
Also fabulierte ich von einer Untermieterin, die an Nazidämonen glaube, und deshalb gestern von den Bullen eingesackt worden wäre. Ich mimte den Hofnarr, fuchtelte mit Händen und Füßen, imitierte die Schreie der Untermieterin, um die Blicke an mich zu fesseln.
Ich beobachtete, wie Ali hinter den Rücken der Dorfkinder seine Wasserflasche in den Tank von Thorstens Bajaj schüttete. Er schraubte den Tankdeckel zu und formte mit Daumen und Zeigefinger ein O. Mein Mund war vom Redeschwall ganz trocken, und ich schluckte schwer.
Wir spielten noch ein paar Runden, verloren ein paar Runden, bis die Sonne hinter einem Betonblock verschwand und einen breiten Schatten auf uns warf. Normalerweise ging es um das Platzrecht. Wer gewann, durfte bleiben. Aber Thorsten, der Älteste, befahl seinen Lakaien das Feld zu räumen.
»Scheiß drauf«, sagte er. »Heute könnt ihr den Platz behalten, beim nächsten Mal nicht.«
Thorsten wusste, dass es kein nächstes Mal geben würde. In der Regel gewannen wir jede Partie. Doch es war kurz vor den Sommerferien und die anderen KT-Members mussten für die letzten Prüfungen büffeln. Ali und ich nahmen die Schule weniger ernst.
Die Dorfkinder setzten die Helme auf. Die Bajaj klang wie ein Traktor, als Thorsten den Kickstarter trat, normal also. Aber als er das Gas durchdrückte, sprang der Roller zwei Mal, und der Einzylinder-Motor erstarb.
Ali grinste, während Torsten abwechselnd den Kickstarter und gegen die Karosserie trat.
»So ein Trottel.«
Die anderen stiegen ab und schauten ratlos zu, bis Thorsten von der Bajaj abließ und auf uns zustürmte. Den Helm hatte er nicht abgenommen.
»Du warst das!«, keifte er Ali an.
Ohne Zögern sprang Ali auf und schnippte die Zigarette fort. Thorsten klappte das Visier herunter, packte Ali und drückte ihm den Helm ins Gesicht.
»Du warst das! Was hast du gemacht?«
Thorsten musste schreien, damit wir ihn unter dem Helm verstanden.
»Nix ey! Lass mich los!«
»Du zahlst mir’n neuen. Das garantier ich dir.«
»’n Scheiß.«
Ali packte Thorsten am Helm und schleuderte ihn zurück, doch seine Jungs fingen den Sturz ab und katapultierten ihn zurück. Im Schwung holte Thorsten aus und verpasste Ali eine Kopfnuss. Der wich zwei Schritte nach hinten, rieb sich die Stirn und fluchte.
»Mein Bruder macht dich kalt.«
Thorsten lachte. Es klang, als käme das Lachen aus einem tiefen Brunnen.
»Ich scheiß auf deinen Bruder. Wahrscheinlich hast du gar keinen.«
Sie standen eng beieinander, und Thorsten presste den Helm in Alis Gesicht.
»Fick dich. Spätestens wenn er die eine Faust gibt, weißt du Bescheid.«
»Ich box euch beide, wenn es drauf ankommt.«
»Ha! Träum weiter.«
»Ich box deine ganze Familie.«
»Dann fick ich deine Schwester, du Inzest…«
Weiter kam er nicht, denn Thorsten rammte ihn wie ein Stier um, setzte sich rittlings auf ihn und begann, ihn zu bearbeiten. Eifrig wie ein Specht verpasste er Ali Kopfnüsse.
Und wo war ich? Im Kino. Zumindest hielt ich das für einen Film. Eine solche Wende konnte sich doch nur ein alkoholabhängiger Drehbuchautor erdenken. Das Geräusch, wenn das Hartplastik in das Gesicht klatschte, versetzte mich in Trance.
Veni, vidi … ich kam, sah und … nichts weiter. Schockstarre. Thorstens Lakaien erging es ebenso. Eine Dame schob ihren Rollator spazieren. Sie sah zu uns herüber, musterte mich. Ich nahm ihren fordernden Blick wahr, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen.
Der Blondschopf packte Thorsten an der Schulter, doch der wirbelte herum und schlug die Hand weg. »Verpiss dich!«
Die Dame unterhielt sich mit einem Mann in orangenen Shorts und grünem Polohemd.
Thorsten wollte sich wieder Alis ruiniertem Gesicht zuwenden, als der Mann schrie: »Hey! Schluss damit!«
Sie schauten zu ihm hinüber, merkten, dass der Mann auf sie zusteuerte und rannten zu ihren Mofas. Thorsten sprang auf Blondschopfes Sozius und sie brausten davon. Der abgesoffene Bajaj blieb zurück.
Der Mann machte keine Anstalten, der Truppe hinterherzujagen, sondern kam gleich auf uns zu. Er zeigte auf mich und sagte: »Wehe du rennst weg!«
Ich verstand nicht. Wohin sollte ich denn rennen?
Ali raffte sich auf. Der Mann hielt ihn am Oberarm, doch Ali versicherte: »Is schon okay. Passt.«
»Okay. Soll ich den Krankenwagen rufen?«
»Nee, ist echt okay«, sagte Ali, doch er sah nicht okay aus. Das Gesicht war ein roter Fleck. Blut sickerte aus Mund, Nase und Stirn. Die Rinnsale liefen am Kinn zusammen und troffen auf den Asphalt.
»Du solltest wirklich zum Arzt, Junge.«
»Ja.«
»Hier ...´n Taschentuch.«
Ali nahm es und hielt es sich an den Mund. »Danke.«
Danke. Ich erwachte wie aus einem Alptraum, nur das der Alptraum blieb. Ich hatte meinen besten Freund hängen lassen. Scham kroch dorthin, wo vorher die Panik saß, und brannte. Ich kratzte meinen Unterarm.
»Ist das dein Kumpel?«, fragte der Unbekannte und musterte mich. Ich las das Unausgesprochene in seinem Blick. Versager. Feigling.
Beide sahen mich an. Dann nickte Ali. »Ja.«
Auch der Fremde nickte - »Okay.« - und ging.
Ali setzte sich auf die Betonbank. Mir fiel auf, dass er stark zitterte. »Scheiße. Den bring ich um. Ich bring ihn einfach um.«
Ich stand an der Stelle, wo ich schon vorhin stand und war ebenso ratlos. Ali legte zwei Finger ans Kinn und benetzte sie mit Blut.
Ich konnte nicht einpennen. Mein Kopf war leer und schwer und die Lider hingen auf Halbmast. Ständig ging mir die eine Szene durch den Kopf. Sie war bedeutender als alles, was an diesem Nachmittag geschehen war. Wie bedächtig er die Buchstaben formte. So mussten auch Künstler wirken, die den letzten Pinselstrich zogen. KT. KT. Immer wieder. KT. Nicht aus dem Kopf zu bekommen.
Dann schlug ich die Decke zurück, wartete, bis mir kalt wurde und zog mich an. Ein paar Minuten hockte ich auf der Bettkante, dann stand ich auf und verließ die Wohnung. Die Spraydose mit rotem Lack war noch in dem Karton. Der Lack gehörte dem Serben aus dem zweiten Stock. Mit dem wollte ich keinen Ärger, aber ich borgte mir die Dose ja nur. Ich schlich über den Hof auf das Zeichen zu. Im schwachen Schein der Laternen waren die Blutstriche kaum zu erkennen, doch ich schüttelte die Dose und sprühte sie nach. Es war die reinste Absolution. Und der Beginn einer Sucht.
Nach einigen Wochen kannte jeder Bewohner die zwei Buchstaben. Die Treppenhäuser waren alle zugetaggt. Wir kritzelten Blockbuster in unsere Blackbooks, machten voll einen auf Writer, dabei hätte uns jeder Profi nur ausgelacht.
Der Bajaj stand eine Woche im Hof bei den Fahrradständern, bevor wir beschlossen, ihn abzufackeln. Wir schoben den Roller bis zu den Äckern und begossen ihn mit Benzin. Die Nacht machte das Ganze symbolträchtig.
Komisch eigentlich, dass Ali sich gegen eine Kremation entschieden hat. Er liebte Feuer.
Ich verlasse den Bolzplatz, lasse alles hinter mir und drehe den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor pfeift aus dem letzten Loch. Zum tausendsten Mal sage ich mir, dass ich den Punto bald in die Werkstatt bringen müsse und weiß, dass ich es ja doch nicht tue. Das Röcheln lässt mich wieder an den Bajaj Sunny denken. Ruhe in Frieden, Sunny. Ruhe in Frieden, Ali.
Vielleicht sind sie ja im gleichen Himmel, cruisen gerade die Westküste entlang. Von San Francisco nach San Diego.
Ich schaue die Straße entlang, leer bis auf die parkenden Autos. Heute ist alles grauer.
Ein Geistesblitz erhellt den Tag. Jetzt kenne ich mein Ziel. Ab in den nächsten Baumarkt und zu den KFZ-Lacken. Es ist wieder Zeit, ein kräftiges Rot in das Grau zu sprayen.