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- 08.07.2012
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9.4.24, Korrektur I, Tippfehler, Wortwiederholungen, umständliche Formulieren korrigiert
12.4.24, Korrektur II, Tippfehler, Satzzeichen, Wortdreher korrigiert
Terminus
Im Westen glühte der Smog über der Stadt. Schwarz glänzten die Türme der mittleren Bezirke im letzten Licht des Tages. Ausflugsschiffe, Gleiter und Frachter zogen hoch über der Skyline dahin.
Abri Sanara steckte sich eine Zigarette an. Sie stand vor Eric’s Diner, rauchte und schaute nach oben in den dunkelnden Dunst. Das bläuliche Licht eines asiatischen Hologrammgirls, das Sanara mit seinen schmalen Händen zu berühren schien, lag auf ihrem Gesicht.
»Du siehst müde aus«, sagte das Hologirl. Ein feines Echo sirrte in ihrer Stimme. »Komm ins Thai Ming. Wir kümmern uns um dich.«
Sanara beachtete die Projektion nicht.
»Luxus, Lust, Entspannung«, sagte das Hologirl und streckte Sanara ihre kaum bedeckten, absolut symmetrisch geformten Brüste entgegen. »Du wirst alle Sorgen vergessen.«
Sanara warf die Zigarette weg, spuckte durch das Hologramm und wandte sich ab. Sie betrat den Diner, ging an einer Reihe von Tischen entlang und setzte sich auf einen Platz am Fenster. Sie winkte dem Mann hinter dem Tresen. »Hey, Eric!«
Eric nickte und verschwand in der Küche. Im Diner war nicht viel Betrieb. In der Nähe der Tür saßen ein paar Arbeiter von den Docks, im hinteren Teil lungerten zwei Punk-Kids herum, vielleicht Späher einer Gang, die die Mainstreet im Auge behalten sollten.
»Hey, Ab!«, sagte Eric, als er an den Tisch trat. Er stellte eine Büchse Black Polecat und ein Tablett mit Fritten und Burgern vor Sanara ab. »Siehst blass aus.«
Sanara griff nach dem Bier, öffnete die Büchse und trank einen Schluck.
»Wie läuft’s mit der Jobsuche?«, sagte Eric und setzte sich auf den Platz gegenüber.
Sanara zog das Tablett mit den Fritten heran und begann zu essen. »Hab was in Aussicht«, sagte sie.
»Gut. Das ist gut.« Eric lächelte kurz, rieb sich die Stirn. »Hoffentlich nicht unten bei den Docks«, fügte er hinzu.
Sanara biss in einen der beiden Burger, kaute und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich geh heute rüber zu Dusty. Hat was für mich, sagt er.«
»Dusty is ein Scheißkerl.«
»Kann sein. Aber er hat mich ab und zu den Laden putzen lassen.«
Eric lehnte sich vor. »Im Staxx geht ne Menge Scheiße ab. Besser, du reißt was am Markt auf. Die Chinesen brauchen immer Leute, die im Lager helfen.«
»Hm«, machte Sanara, kaute und sagte: »Kann mich da im Moment nicht sehen lassen.«
»Warum nicht?«
Sie winkte ab, räusperte sich, wies mit dem Kinn auf das Hologirl, das draußen vor dem Fenster mit einem Passanten sprach. »Die Holoschlampe geht mir auf den Sack. Wie viel zahlt dir das Thai Ming dafür?«
Eric zuckte die Schultern. »Nicht viel, aber jeder Dollar zählt.« Er deutete mit dem Daumen auf die Arbeiter an den Tischen hinter ihnen. »Kennst meine Kundschaft. Denkst du, die halten den Laden am Laufen?«
Als Sanara den Diner verließ, regnete es. Sie zog die Kapuze hoch und ging die Mainstreet hinunter bis zum Temple Square, wo nachts Hundekämpfe stattfanden, und dann weiter in die engen, stets belebten Gassen des Lower East End mit seinen Nudelküchen und Massagesalons. Zwischen den abgerissenen Figuren, den Pennern und Punks, den Nutten und den Dealern lief Sanara durch die anbrechende Nacht. Ihre schlanke Gestalt warf einen langen Schatten auf das feuchte Straßenpflaster.
Sie betrat das Staxx. Am Billardtisch kreidete ein hagerer Mann sein Queue, nickte ihr zu. Sie ging durch den Raum. »Hey, Dusty!«, sagte sie.
»Tach, Ab!«, erwiderte er.
»Ganz schön was los hier.« Sanara schaute sich um. Männer der Clans saßen an den Tischen, derbe Typen, wortkarg und mürrisch. Ein paar Chinesen spielten Mahjong und an den verzinkten Tresen gelehnt, standen fünf, sechs Tec-Freaks und starrten mit ihren synthetischen Augen finster in die Runde.
»Yep. Läuft so«, sagte Dusty, legte die Kreide beiseite, beugte sich über den Tisch und setzte zum Stoß an.
»Also, du hast was für mich«, sagte Sanara.
»Möglich.« Das Queue schnellte vor, die Kugel schoss über das Grün und knallte gegen eine andere. »Hab unten etwas erweitert und biete einen neuen Service an.«
»Du meinst, im Keller?«
Dusty nickte und ging um den Tisch. »Is das neuste Ding. Ne kleine Show.«
»Aha«, sagte Sanara und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt, wenn’s um Sex geht, bin ich raus.«
»Schon klar«, sagte er und zielte mit dem Stock in eine Ecke. »Hat damit nix zu tun. Jedenfalls nicht direkt.«
»Spuck’s schon aus, Dusty!«
Dusty machte seinen Stoß und richtete sich auf. Er legte das Queue auf den Tisch. »Besser, ich zeig es dir. Komm!«
Der Raum war kaum zehn Quadratmeter groß. Ledergepolsterte Wände, Kameralinsen und Sensoren in jeder Ecke, der Boden aus rutschfestem Polytextan. »Is das neuste Ding«, sagt Dusty noch einmal. »Kann man viel Qián mit machen im Moment.« Eine Holoprojektion erschien grünlich schimmernd in der Mitte des Raumes. Sie zeigte zwei Männer in erstarrter Pose, die sich mit erhobenen Händen gegenüberstanden.
»Is ne Aufzeichnung von gestern«, sagte Dusty. »Der Typ da rechts trägt ein Neuroimplantat. Ich lass mal laufen.«
Einer der beiden Männer packte den anderen und schleuderte ihn in eine Ecke des Raumes. Er schlug ein paar Mal zu. Schreie waren zu hören. Dusty stoppte die Aufzeichnung.
»Is alles halb so wild«, sagte er. »Viel Getue dabei.«
»Versteh ich nicht«, sagte Sanara. »Was soll daran neu sein?«
Dusty lächelte. »Neu daran is, dass sich ein User in das Neuroimplantat einloggen kann.«
»Und?«
»Verstehst du nicht? Der User sitzt zu Haus, entweder vor dem Display oder in der Holo-Sphere. Er bedient eine Konsole, steuert die Action. Lässt ein bisschen Dampf ab.«
»Er verprügelt den anderen Typen?«
»Genau.«
»Und da komme ich ins Spiel.«
Dusty hob die Hände. »Is nur ein Angebot. Gutes Geld.«
»Bist echt ein Scheißkerl, Dusty!«
»Wie gesagt, das meiste is nur Show. Wirst ein bisschen rumgeschubst. Klar, kassierst ein paar Schläge. Aber es sind hundert Dollar für dich drin in zwanzig Minuten.«
»Fick dich!«, sagte Sanara, drehte sich um und verließ den Raum.
»Du bist nichts Besonderes, Abri!«, rief Dusty ihr hinterher. »Nutz die Chance! Is vielleicht die letzte.«
Sanara ließ die Tür der Bar hinter sich zuknallen. »Wichser!«, stieß sie hervor. Noch immer ging Regen in grauen Schleiern auf den heruntergekommenen District nieder. Sanara marschierte die Straße hinunter, weiter hinein ins Lower East End-Viertel. Als sie den Wohnblock erreichte, in dem ihr Appartement lag, meldete sich Eric. Sanara zog den Kommunikator aus der Jackentasche.
»Bei dir alles okay?«, fragte Eric. Die Züge seines Gesichts leuchteten bernsteinfarben über dem Gerät.
»Ja, wieso?«
»Hat ne Schießerei gegeben in der Nähe vom Franklin Park.«
»Hab ich nicht mitgekriegt.«
»Okay, gut. Und wie lief es bei Dusty?«
»Hattest recht«, sagte Sanara. »Der Typ is ein Stück Scheiße.«
»Was wollte er denn?«
»Nicht so wichtig. Ich hau mich jetzt erst mal hin. Muss den Kopf freikriegen.«
»Okay. Bis dann, Ab.«
Sanara schlug mit der flachen Hand gegen den Kontakt des Türöffners. »Bitte ID-Scan«, sagte eine elektronische Stimme. Sanara trat vor die Linse, der grünliche Scanstrahl tastete über ihr Gesicht, die Tür sprang mit einem Summen auf.
»Entschuldigung, Miss!«
Sanara drehte sich um. Ein paar Schritte vom Haus entfernt stand ein gut gekleideter Mann mittleren Alters, sehr groß, die Hände in den Manteltaschen. »Ich würde Sie gern einen Augenblick sprechen«, sagte er lächelnd.
Sanara wandte sich ab. »Verpiss dich!«
»Mein Name ist Carney«, rief der Fremde ihr hinter. »John Carney.«
»Verpiss dich, John Carney!«, sagte sie und schlug die Tür hinter sich zu.
Am nächsten Morgen setzte das erste Licht den Dunst im Osten über der Stadt in Brand. Sanara trat auf die schmale Terrasse ihres Appartements im elften Stock. Eine Zigarette zwischen den Lippen stand sie, nur mit Slip und ausgeblichenem T-Shirt bekleidet, in der Kühle des neuen Tages und schaute in die Richtung der Zentralbezirke. Die schlanken Rümpfe der Jets und Gleiter, die dort über den gewaltigen Konstruktionen der Innenstadt schwebten, glitzerten in der Sonne.
Nach dem Frühstück rief sie Eric an.
»Wie geht’s dir?«, fragte er.
Sanara schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Manchmal ist alles so …« Sie schwieg.
»Hey, lass dich nicht hängen, Ab. Beiß dich durch! Hast du doch bis jetzt immer geschafft.«
»Schon, aber …«
Sie hielt inne. Ein Frachter, der zum Sinkflug angesetzt hatte und auf den Zollhafen zusteuerte, dröhnte über dem Wohnblock. Die Scheiben in den Fenstern klirrten.
»Ich versuch es heute doch mal bei den Chinesen«, fuhr sie fort, nachdem sich das Cargoschiff entfernt hatte. »Darf bloß Eddie nicht über den Weg laufen.«
»Eddie Chow? Wieso?«
»Hab grad ein bisschen Stress mit dem.«
»Ach ja? Warum denn?«
»Egal, Eric. Wir sehen uns heute Abend.«
»Pass auf dich auf, Ab!«
Gegen Mittag verließ sie ihr Appartement und machte sich auf den Weg zum Markt. Dort lief sie zwischen den Ständen umher, betrachtete die in Käfigen aus Bambus herumflatternden Sperlinge, die Auslagen der Händler, Kakifrüchte, Pitahayas, Gewürzmischungen, Kleider, Tec-Krempel, wie Nachtsichtgeräte, Infrarotscanner, Schockpistolen. Zwei, drei Mal sprach sie mit den Yao- und Bai-Frauen, aber keine hatte Arbeit für sie.
Sanara ging gerade an einem Wok-Stand vorbei, als sie Eddie sah. Sie drehte sich um und rannte los. Doch es war zu spät. Ein Pfiff hallte über den Markt und schon setzten ihr zwei chinesische Jungen auf Skateboards nach. Sanara schlüpfte durch das Tor eines Lagerhauses, sprintete an meterhoch gestapelten Paletten vorbei, stieß die Hintertür auf und sprang ins Freie. Ihre Lunge brannte, der Gewerbehof vor ihren Augen flimmerte in der Mittagshitze. Sie lief weiter und hörte hinter sich das Krachen der Skateboards. Die Jungen, Teenager mit tätowierten Unterarmen, holten sie einer halben Minute ein. Ein Tritt zwischen die Schulterblätter, Sanara verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte in vollem Lauf, der Asphalt riss ihre Hände blutig. Einer der Jungen sprang von seinem Board. Mit einem Kick wirbelte er das Brett in die Luft, fing es und schlug damit zu. Sanara hatte die Arme gehoben, aber die Wucht des Hiebes riss ihr die Hände weg. Der andere Junge spuckte auf den Boden und versetzte ihr einen Fußstoß gegen die Schläfe. Sie kippte zur Seite und blieb reglos liegen.
In der Restaurantküche von Frau Chow kam sie zu sich. Frau Chow stand am Fleischerbrett und hackte Hühnchen in kleine Stücke. Eddie, ihr Sohn, saß Sanara am Tisch gegenüber und rauchte. Einer der Jungen war auch da. Er lehnte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck nahe der Tür in einer Ecke.
»Ich kenn dich, seit deine Familie vor zehn Jahren hierhergezogen ist«, sagte Eddie. Er blies Rauch in den Raum und strich über sein Haar, das an einigen Stellen grau wurde. Hinter ihm knallte das Hackbeil von Frau Chow.
»Dein Vater hat manchmal im Lager gearbeitet. War ein guter Mann.«
Sanara fasste sich an die Schläfe und verzog das Gesicht.
»Ich habe dich bei mir arbeiten lassen, weil mir das mit deinen Eltern leidgetan hat«, fuhr Eddie fort. »Habe dir so viel gezahlt wie den Jungen.«
»Mister Eddie, ich …«, setzte Sanara an. Eddie hob die Hand und sie schwieg.
»Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie oft du im Lager geklaut hast?«, sagte er. »Ich habe darüber hinweggesehen.«
Er drückte seine Zigarette im Ascher aus. »Weil ich Mitleid mit dir und deiner Familie hatte. Und weil es bisher Kleinigkeiten waren. Bisschen Tee oder Reis, ein Paar Sandalen.«
Eddie erhob sich. »Doch du hast meine Geduld überstrapaziert, Ab.« Frau Chow unterbrach ihre Arbeit und musterte Sanara mit einem strengen Blick. Sie sagte etwas zu ihrem Sohn auf Mandarin und schwang wieder das Beil.
»Letzte Woche hast du Antiquitäten mitgehen lassen«, sagte Eddie. »Eine Schriftrolle, einen kleinen Jadekasten, eine Armeepistole. Was hast du damit gemacht?«
Sanara presste die Lippen zusammen. Sie blickte zu Frau Chow, dann zu dem Teenager in der Ecke und schließlich sah sie Eddie an. »Hab’s verkauft«, sagte sie.
Eddie nickte. »Dachte ich mir. Wie viel hast du dafür bekommen?«
»Hundertfünfzig.«
Der Junge pfiff durch die Zähne und Eddie schüttelte den Kopf.
»Verdammt, Ab!«, sagte er. »Diese Dinge waren gut doppelt so viel wert.«
»Sie kriegen das Geld«, sagte Sanara.
»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte Eddie. »Und zwar die vollen dreihundert Dollar. Und jetzt geh mir aus den Augen!«
Das Hologirl vor dem Diner leckte sich über die Lippen und sagte zu Sanara: »Hey, Baby! Ich glaube, du brauchst einen Fick!«
Sanara starrte sie an und sagte: »Was weißt du schon, verdammte Nutte!«
»Ich könnte dir einen Discountcode geben. Damit kriegst du im Thai Ming zehn Extraminuten.« Das Holomädchen strich sich aufwärts über den Arm und legte den Kopf schräg.
»Schieb ab!«, sagte Sanara.
»Wir können uns auch ein bisschen unterhalten«, erwiderte das Hologramm.
»Ach ja? Worüber denn?«
»Du hast eine Verletzung, jemand hat dich geschlagen.« Das halbtransparente, bläulich schimmernde Gesicht wandte sich Sanara jetzt ganz zu, die Mandelaugen des Holo-Mädchens blickten sie freundlich an. »Ich sehe, dass es dir nicht gut geht.«
»Tja«, sagte Sanara. »Geht doch jedem hier beschissen.«
Das Holo-Girl nickte und schaute die Straße hinunter. »Die Leute hier sind seltsam. Ich habe in drei Tagen außer Eric niemanden getroffen, der nett zu mir war.«
In diesem Augenblick krachten zwei Blocks entfernt drei Schüsse. Das Schlagen von Autotüren war zu hören und kurz darauf raste ein schwarzer Buick die Mainstreet entlang. Sanara blickte dem Wagen hinterher.
»Die Leute reden davon, dass ein neuer Krieg zwischen den Banden ausbrechen wird«, sagte das Holo-Mädchen.
»Und?«
»Jetzt brauchen sie Geld. Und deshalb überfallen sie …«
Sanara drehte sich um und betrat den Diner.
»Oh, nein!«, sagte Eric, als er an ihren Tisch trat und das Essen brachte.
Sanara blies eine Strähne ihres widerspenstigen Haars aus dem Gesicht und schaute zur Seite.
Eric stellte das Tablett ab und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Wer hat das getan?«
Sanara lehnte sich zurück, kaute einen Moment lang auf ihrer Unterlippe und sagte dann: »Gab Ärger mit Eddie.«
»Er hat dich geschlagen?«
»Nah. Seine verblödeten Jungs haben mich erwischt.«
Eric atmete durch. »Scheiße, Ab!«
»Vergiss es bitte, Eric.«
»Aber, Ab!«
»Bitte!« Sanara begann zu essen. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Sanara mit vollem Mund: »Diese Holo-Bitch kotzt mich vielleicht an.«
»Lan? Ich finde sie okay.«
»Lan? Das Ding hat nen Namen?«
»Ja. Hab mich gestern ein bisschen mit ihr unterhalten.«
Sanara trank einen Schluck Bier, schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist doch nur ein quatschender Lampion. Ne Promoleuchte, mehr nicht.«
»Ihr Programm hat früher andere Sachen gemacht«, sagte Eric. »Dass sie jetzt fürs Thai Ming Reklame laufen muss, dafür kann sie nichts.«
»Ich hasse diese Scheiß-Holos, die Androiden, diese ganzen Fake-Typen.«
Eric zuckte mit den Schultern. »Manchmal glaub ich, die sind gar nicht so anders als wir.«
Sanara schlang ihr Essen runter und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.
»Also, was hast du jetzt vor?«, fragte Eric. In diesem Moment betrat der Mann, der sich als John Carney vorgestellt hatte, den Diner. Sanara beobachtete schweigend, wie er sich ihrem Tisch näherte.
»Guten Abend, Miss Sanara!«, sagte er. »Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«
Eric drehte den Kopf, schaute erst zu Carney hinauf, dann fragend rüber zu Sanara.
»Schon okay«, sagte sie. »Glaub ich.«
»Fein.« Eric erhob sich. »Dann lass ich euch in Ruhe reden.« Und an Carney gewandt: »Kann ich Ihnen was bringen?«
»Bringen Sie mir was zu trinken. Das, was sie hatte.«
Eric brummte etwas, wandte sich um und ging davon.
»Darf ich mich setzen?«
Sanara trank von ihrem Bier und nickte.
Carney öffnete seinen Mantel, nahm Platz und sagte: »Ich fasse mich kurz.«
Er zog eine holografierte Karte aus der Innentasche und drehte sie zwischen den Fingern seiner großen Hände. »Meine Auftraggeber sind an Ihnen interessiert. Sie haben mich ermächtigt, Ihnen ein außerordentlich großzügiges Angebot zu machen.«
Er legte die Karte auf den Tisch. Terminus, Inc. stand da. Das Konzernlogo rotierte ein paar Zentimeter über dem Tisch.
»Und das wäre?« Sanara betrachtete das glatte Gesicht des Mannes, seine symmetrischen Gesichtszüge, seine klaren, grünlich schimmernden Augen.
Eric kam und stellte eine Büchse Black Polecat vor Carney auf den Tisch. Er warf einen Blick auf das schwebende Hologramm der Visitenkarte, dann drehte er sich um und ging wieder.
»Man bietet Ihnen zwei Jahre Luxus, Glück und Frieden«, sagte Carney. Sanara lachte auf. Ohne darauf zu reagieren, fuhr Carney fort. »Es wird mit Sicherheit die beste Zeit Ihres Lebens.«
Sanara nickte. »Is klar«, sagte sie. Und mit einem Lächeln: »Was wollen Ihre Leute dafür von mir haben?«
»Ihren Körper«, erwiderte Carney. »Und zwar alles davon: Organe, Muskulatur, Skelettknochen.« Das Lächeln in Sanaras Gesicht verschwand.
»Im Grunde geht es allerdings um Ihre Zellen. Man ist an Ihrer Zell- und Genstruktur interessiert.«
Sanara schob die leere Bierbüchse von einer Hand in die andere. »Warum?«
»Weil Sie Resistenzen besitzen, die äußerst selten und wertvoll sind.«
»Ach, wirklich.«
»Die spezielle Struktur Ihres Gencodes findet man nur bei einem Menschen unter Zehntausenden.«
Sanara lehnte sich zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wie genau würde dieser Deal aussehen?«, fragte sie.
»Man bietet Ihnen einen Platz in einem der konzerneigenen Neuro-Pools. Während dieses zweijährigen Aufenthalts wird ein perfekt auf Sie ausgerichtetes Erleben simuliert.«
»Simuliert?«
Carney machte eine wischende Geste. »Es ist nicht von der Realität zu unterscheiden. Außer, dass es dort im Grunde keine negativen Emotionen oder Gedanken gibt.«
»Bullshit!«, stieß Sanara hervor.
»Sie müssen mir nicht glauben«, erwiderte Carney. »Sie können es selbstverständlich kostenlos ausprobieren.«
Sanara stand auf. »Sagen Sie mir noch eins, John.«
»Ich gebe Ihnen gern jede Auskunft, die Sie interessiert.«
»Was passiert nach Ablauf der zwei Jahre in diesem Pool?«
Carney sah ihr mit ruhigem Blick ins Gesicht. »Man wird Ihrem Körper alle Organe, Muskeln und Knochen entnehmen, die Zellen extrahieren …«
»Was?«
»Ihre Existenz wird aufgelöst, Miss Sanara.«
Sanara starrte Carney an. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Sie winkte Eric und verließ den Diner.
Über das schwarze Wasser der Docks geisterten die Reflexionen der Lichter der Innenstadt. Ein brackiger Mief stieg vom Hafenbecken herauf. Die Männer, die hier um Mitternacht vor dem Büro von Ron Devlin standen und Arbeit beim Entladen der zahllosen Sampans und Dschunken suchten, zählten zum Bodensatz der Stadt. Einige von ihnen waren betrunken, redeten wirr und fluchten leise. Es stank nach Schnaps, Schweiß und Urin. Sanara, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wartete, bis vor ihr die Tür aufging und man sie hereinwinkte.
Devlin saß hinter seinem schäbigen Schreibtisch. Ein Hafenvorarbeiter schloss hinter ihr die Tür, machte ein paar Schritte durch die Baracke und baute sich mit verschränkten Armen vor dem vergitterten Fenster auf.
»Schon mal hier gewesen?«, fragte Devlin, steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich in seinem quietschenden Stuhl zurück.
Sanara hielt das Kinn gesenkt und schüttelte den Kopf.
»Zieh mal die Kapuze runter, Junge«, sagte Devlin. »Will sehen, was für’n Fisch wir hier ham.«
Sanara zögerte.
»Mach schon«, sagte Devlin. »Bist nicht der erste Vierzehnjährige, der sich für’n Mann ausgeben will.«
Sanara zog die Kapuze vom Kopf, Devlin richtete sich auf, schnalzte mit der Zunge und der Vorarbeiter sagte: »Fuck!«
»Mach mal die Blende an, Sean«, sagte Devlin. Der Vorarbeiter drehte sich um, betätigte einen Schalter und das Fensterglas verdunkelte sich.
»Bist du irre, Mädchen?« Devlin strich die Asche von seiner Zigarette.
»Ich suche Arbeit«, sagte Sanara. »Dringend.«
»Das sehe ich«, erwiderte Devlin. Er musterte Sanara, sah dann rüber zu Sean. Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf.
Devlin stand auf, ging um den Tisch. Er zog an seiner Zigarette und atmete aus. »Was glaubst du, wird passieren«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »wenn diese Typen da draußen begreifen, dass du ne Pflaume zwischen den Beinen hast?«
»Sir, ich …«
»Wie alt bist du? Sechszehn, siebzehn?«
»Neunzehn.«
»Aha«, sagte Devlin. Er ging zurück zu seinem Stuhl, zog ein Schubfach aus dem Schreibtisch und holte eine Pistole hervor.
»Hier werden jede Nacht drei, vier Jungen und Männer vergewaltigt«, sagte Devlin, die Kippe zwischen den Lippen. Er zog das Magazin der Waffe aus dem Griff und prüfte den Ladezustand.
»Zuerst schlägt man sie halbtot, dann fallen mehrere Typen über sie her. Manchmal ’ne ganze Gang.« Er stieß das Magazin zurück in den Schacht, spannte und sicherte die Pistole. »Wenn sie dich erwischen …« Er ging ein paar Schritte durch den Raum und reichte dem Vorarbeiter die Waffe. Er drehte sich zu Sanara um: »Setz die Kapuze wieder auf und halt den Kopf unten. Sean bringt dich zur dreizehnten Straße. Von da is es nicht weit bis zum Temple Square. Und dann mach, dass du nach Haus kommst, wo immer das is.«
Sanara lag im dunklen Appartement auf ihrem Bett und schaute durch die Fenster auf die erleuchtete Skyline der Stadt, die im allgegenwärtigen Dunst der Emissionen schwebte. Aus den Boxen der Anlage rieselte der Ambientsound von Radio Ocean auf sie herab: Meeresrauschen, Sphärenklänge, der klagende Gesang eines Wals. Durch die geöffnete Terrassentür drangen die Nachtgeräusche des Viertels, Schritte, die in den verwinkelten Gassen widerhallten, das Klingeln der Rikschafahrer, murmelndes Stimmgewirr, wenn die Tür einer Bar geöffnet wurde.
Gegen zehn rief Eric an. »Ich hab immer ein Scheißgefühl, wenn du nicht im Diner aufkreuzt«, sagte er.
»Sorry«, erwiderte Sanara. »Konnte mich heute nicht aufraffen.«
»Hast du den ganzen Tag im Bett gelegen?«
»Hab einfach keine Kraft mehr, Eric.«
»Es wird wieder besser, Ab. Glaub mir. Hast nur ne Durststrecke.«
»Kann sein.«
»Im Moment scheinen alle durchzudrehen, du musst aufpassen, wenn du unterwegs bist.«
»Okay.«
»Gab wieder einen Überfall. Ein kleiner Laden bei der Tompson Bridge.«
»Ich pass schon auf, Eric.«
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Im Com Kanal rauschte es leise. Sanara beobachtete einen Gleiter, der über Lower East End einschwenkte. Das schlanke Schiff zog einen feinen Kondensstreifen vor der Schwärze des Alls und bewegte sich mit Umkehrschub auf einen der Tower der Innenstadt zu.
»Warst du schon mal in den Zentralbezirken?«, fragte Sanara.
»Nee«, sagte Eric. Seine Stimme klang müde. »Kenne auch keinen, der da war. Wieso?«
»Die Leute da … Wissen die, wie wir hier leben?«
»Tja, keine Ahnung. Ich glaube, das spielt gar keine Rolle für die.«
»Warum nicht, Eric?«
»Is so als würdest du dich fragen, wie es unten am Hafen den Ratten geht.«
Wieder breitete sich Schweigen in dem kleinen Appartement aus.
»Okay, Eric«, sagte Sanara irgendwann. »Wir sehen uns morgen.«
»Gut, Ab. Aber komm wirklich vorbei.«
»Mach ich. Bestimmt.«
Sanara stand auf, ging im Zimmer umher. Um elf rief sie Dusty an.
»Ich mach den Job«, sagte sie. »Ich will hundertfünfzig für fünfzehn Minuten.«
»Okay, Baby!« Dusty lachte und legte auf.
Vor dem Staxx lag ein Mann auf der Straße. Sanara stieß ihn leicht mit dem Fuß an. »Verpiss dich!«, grunzte er und rollte sich auf die Seite.
Sanara betrat die Bar, ging die Treppe hinunter in den Keller und dann einen schmalen Gang entlang, in dem es modrig roch. Dusty empfing sie vor dem Umkleideraum. »Dein Outfit hängt im Schrank«, sagte er. »In zehn Minuten geht es los.«
»Wie wird das ablaufen?«, fragte Sanara.
»Mach dir keine Sorgen.« Dusty wandte sich zum Gehen. »Ich kann jederzeit dazwischen gehen, wenn der User durchdreht.«
Als sie sich kurz darauf im Spiegel betrachtete, strich sie mit den Händen über das weiße Gabardinekleid und schüttelte den Kopf. Sie schloss den Schrank, verließ die Umkleide und ging zum Showroom.
Dusty stand in der Mitte des Raums und sprach mit einem Mann, der Bundfaltenhosen, braune Slipper und ein weißes Hemd mit Krawatte trug.
»Okay«, sagte Dusty. »Ehepaar aus White Central, stinkreich. Er hat gerade mitbekommen, dass sie fremd geht und zeigt ihr, wer der Boss is.« Und mit einem Lächeln: »Ich weiß nicht warum, aber die Leute lieben dieses Szenario. Wird doppelt so oft gebucht wie alle anderen.«
»Ich bin Steve«, sagte der Mann und gab Sanara die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht. Dusty verließ den Showroom. Als der Holo-Countdown auf Null sprang, ging ein Ruck durch Steves Körper. Er sah Sanara mit einem seltsamen Blick an und sagte: »Ich habe dir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen.« Er ging ein paar Schritte um sie herum, hob den Arm und wies mit der Hand in unbestimmte Ferne. »Und so dankst du es mir?«
Es war ein Schlag mit der flachen Hand. Sanara riss die Arme hoch, doch Steve war schneller. Es knallte, Sanara schrie, taumelte und prallte gegen eine Wand.
Als Sanara einen halben Block vom Diner entfernt war, knickten ihre Knie ein. Sie stützte sich an einer Straßenleuchte ab und setzte sich auf das Pflaster der Mainstreet. Lan, das Holomädchen, erblickte sie und schlug die Hände vor den Mund. Einen Augenblick stand sie so, dann eilte sie auf ihren türkis schimmernden High Heels zu Sanara. »Süße, was ist passiert? Wie kann ich dir helfen? Ich werde Eric rufen.« Sanara hielt sie auf. »Warte«, sagte sie. »Lass mich einen Augenblick hier sitzen, bevor ich reingehe.«
Lan hockte sich zu ihr. »Was ist denn bloß passiert? Wer hat dir das angetan?«
In Sanaras zerschlagenem Gesicht tauchte ein Lächeln auf. »Ich hab hundertfünfzig Dollar verdient, heute Abend.«
Lan schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
Eine Träne lief an Sanaras Wange hinab. »Weißt du, ich bin nicht dumm«, sagte sie. »Ich habe sogar ein paar gute Sachen drauf.«
Lan schaute die Straße entlang. »Ich hole jemanden, der dir aufhilft«, sagte sie, aber Sanara schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte, du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Doch, doch. Ich höre«, sagte Lan.
»Ich kann ein bisschen kochen«, flüsterte Sanara. »Ich mixe ein paar richtig gute Drinks. Beim Markt habe ich schon viel geholfen. Kann Kisten schleppen, fast wie ein Kerl.«
»Bitte lass mich Eric holen«, sagte Lan.
»Heute hab ich hundertfünfzig Mücken dafür bekommen«, sagte Sanara und fuhr mit der Zunge über die aufgeplatzten Lippen, »mich verprügeln zu lassen.«
»Ich bin gleich wieder da, Süße!« Lan stand auf und rannte los.
Kurz darauf kam sie mit Eric zurück. Er zog Sanara hoch, stützte sie und brachte sie ins Diner.
Sanara und Lan saßen sich an einem der hinteren Tische gegenüber. Eric stand bei ihnen. Er schloss den Verbandskasten. »Ich bringe den Scheißkerl um«, sagte er, nahm das Med-Kit und ging zum Tresen. Sanara biss die Zähne zusammen und suchte nach einer besseren Sitzposition. »Wusste nicht, dass du hier reinkannst«, sagte sie.
»Die Projektion ist in einem Fünfzig-Meter-Radius stabil«, erwiderte Lan. »Egal, ob drinnen oder draußen.«
»Und warum stehst du dann immer auf der Straße?«
Lan lächelte. »Naja, schau dich um. Gibt hier drinnen nicht viel Kundschaft fürs Thai Ming.«
Sanara nickte. »Ich wusste auch nicht, dass du Gefühle simulieren kannst.«
»Für mich sind sie nicht simuliert. Sie sind einfach da.«
Eine Weile sprach keine der beiden ein Wort. Eric trat an den Tisch und brachte ein Tablett mit Chicken Wings, Pommes und einer Büchse Black Polecat.
»Ich geh wieder raus«, sagte Lan und erhob sich. »Sag mir Bescheid, wenn du was brauchst.«
Eric setzte sich. Sanara sah dem Holomädchen hinterher, das an der Tür stand, zurückblickte, winkte und den Diner verließ.
»Sie hält sich für real«, sagte Sanara und befühlte ihren geschwollenen Wangenknochen.
»Sie weiß, dass sie nicht so ist, wie wir«, sagte Eric. »Aber sie macht das Beste daraus.«
»Hat sie das gesagt?«
Eric nickte.
»Vor zwei Tagen hat sie mir noch einen Rabatt-Fick im Thai Ming angeboten.« Sanara öffnete die Büchse, trank und begann zu essen. Sie kaute, verzog das Gesicht.
»Die Schmerzen gehen vorbei«, sagte Eric. »Ich kann Mike fragen, ob er dir ein paar Pillen gibt.«
»Mike?«
Eric machte eine Bewegung mit dem Kopf und wies auf einen fetten Kerl, der in der Ecke des Diners saß und Pizza in sich hineinstopfte. »Mein Schwager«, sagte er. »Hat ne Knarre in der Jackentasche und is mein Backup im Moment.«
»Wegen der Überfälle?«
Eric nickte. »Gestern hat es Paulie erwischt.«
»Paulie? Hat der den kleinen Shop oben beim Markt?«
»Ja. Drei Typen mit Macheten sind in seinen Laden gekommen. Haben ihm die Hand abgehackt und die Kasse geplündert.«
»Scheiße!«
»Mike arbeitet ab und zu im Labor«, sagte Eric und stand auf. »Ich frag mal, ob er dir was geben kann.«
»Okay«, sagte Sanara. »Ich nehm das Stärkste, was er hat.«
Am nächsten Morgen rief Sanara John Carney an. »Eric hätte Ihre Karte nie aufgehoben«, sagte sie, »wenn er Ihr Angebot kennen würde.«
»Ich verstehe«, sagte Carney.
»Das, was Sie mir über die zwei Jahre Glück und Frieden erzählt haben, hat mich beschäftigt.«
»Freut mich, zu hören. Wollen wir einen Termin machen? Für ein weiteres Gespräch oder einen Test?«
Sanara trat auf die Terrasse ihres Appartements. »Ich würde es gern ausprobieren.« Der Himmel über der Stadt glühte in mattem Orange. Im Osten schob sich die Sonne über den Horizont.
»Ausgezeichnet! Wann passt es Ihnen?«
»Wie wäre es mit morgen, so gegen zehn Uhr?«
»Wunderbar. Ich hole Sie mit dem Wagen ab.«
Es rauschte in der Leitung, als Carney aufgelegt hatte. Sanara steckte den Kommunikator in die Tasche und ließ den Blick über das Viertel schweifen.
Sanara schaute an ihrem unbekleideten Körper hinab. Vom linken Oberschenkel zog sich ein Hämatom in grünlich blauem Bogen hinauf bis zur Taille. Auch auf ihren Armen, Rippen und Brüsten schimmerten Blutergüsse in den Farben Violett bis Purpur. Sie blickte zu Carney, der neben ihr stand. Unter seiner Haut bewegten sich Datenströme in feinen Linien. Wie Rinnsale flossen Ziffern, Kanji-Zeichen und anderer Code über Brust und Schulter, den Bauch hinab und an den Innenseiten der Schenkel entlang.
»Sie sind ein Android«, sagte Sanara.
»Das ist richtig«, erwiderte Carney und wies auf den Neuro-Pool. »Sind Sie bereit?«
In dem Becken aus weißem Marmor, groß genug, um ein paar Schwimmzüge darin zu machen, fluoreszierte eine milchige Flüssigkeit.
»Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben«, sagte Sanara. »Woher wissen Sie von diesen Resistenzen meiner Zellen?«
»Ich bin neugierig«, entgegnete Carney. Auf seinem Körper lag der Widerschein des glühenden Neuro-Pools. »Glauben Sie, dies hier ist eine Art Betrug?«
»Antworten Sie auf meine Frage!«
»Unser Konzern hat die Klientendaten aller Entbindungskliniken der Stadt erworben.«
Sanara nickte. »Die Geburts-Scans.«
»Hätte ich Sie eher gefunden«, sagte Carney, »wäre der Wert Ihres Körpers höher gewesen. Man hätte Ihnen ein Angebot von fünf Jahren gemacht. Leider haben Sie nicht besonders gut auf Ihre Gesundheit geachtet.«
Er reichte Sanara die Hand. Einen Moment lang presste sie die Lippen zusammen, dann ergriff sie Carneys Hand und sie gingen die Treppen des Pools hinab. Als sie in der Mitte des Beckens standen, sagte Carney: »Lehnen Sie sich zurück. Ich stütze Sie.«
Eine Weile lag sie schwebend in der neuroaktiven Milch.
»Ich werde Ihren Kopf jetzt eintauchen lassen«, sagte Carney. »Dann beginnt es. Bereit?«
Über ihren Augen schloss sich die Flüssigkeit des Pools und Sanaras Blick weitete sich in klares Himmelsblau. Sie stand im Schatten einer Kiefer, das Harz des Baumes verströmte einen intensiven Duft. Sanara sah an sich hinab. Sie trug eine weiße Bluse, einen blauen Sommerrock und Sandalen aus Leder.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Carney.
Sanara wandte sich zu ihm um. »Sie sind auch hier«, sagte sie und musterte seine Kleidung. Halbschuhe, dunkle Hosen und blaues Freizeithemd.
»Wir machen eine kleine Tour«, erwiderte er. »Danach lasse ich Sie in Ruhe.«
Von der Anhöhe, auf der sie standen, senkte sich ein Olivenhain einige hundert Schritte hinab bis zu einem schmalen Kiesstrand, und dahinter wogte in sanfter Bewegung das Meer. Möwenschreie waren bis hier herauf zu hören.
»Der Algorithmus hat es nach Vorbild des Mittelmeers konstruiert«, sagte Carney.
»Es ist wunderschön«, sagte Sanara.
Carney deutete auf einen Pfad, der sich zwischen Zedern, Kiefern und Ginster schlängelte. »Es sind nur ein paar Schritte bist zu Ihrem Haus«, sagte er.
Goldene Streifen Vormittagslicht schnitten schräg durch das Halbdunkel des Nadelwaldes. Insekten schwirrten in der harzigen Sommerluft. Sanara blieb mehrmals stehen, betrachtete die schuppigen Stämme der Kiefern, roch an Hibiskusblüten, die rot und violett im Unterholz leuchteten. Carney beobachtete sie schweigend.
Kurz darauf traten sie aus dem Wald.
»Hier werden Sie wohnen«, sagte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
Das Haus war aus dem Stein der Umgebung gebaut. Schiefergrau schimmerte es vor dem Blau des Himmels. Carney öffnete die Eingangstür und führte Sanara durch das Haus. Von der Terrasse aus blickten sie über das Meer. Sanara bemerkte einen mit Natursteinplatten befestigten Weg, der durch den Garten hinab zum Strand verlief.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte Carney, »das Ihnen gefallen wird.«
Sanara folgte ihm durch das Haus und dann über einen kleinen Hof zu einem Garagenanbau. Das Tor hob sich und Carney sagte: »Ein 1954er Cadillac Eldorado.«
Sanara betrachtete das smaragdgrüne Cabriolet. »Ich habe eine Erinnerung an diesen Wagen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, woher.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, entgegnete Carney. »Der Neuropool liest in Ihrem Gehirn Engramme aus und der Algorithmus verarbeitet sie. Es könnte etwas sein, das Sie als Kind in einem Hologramm gesehen haben, in einem Film oder auch nur etwas, das Sie sich vorgestellt haben.«
»Können wir damit fahren?«, fragte Sanara.
Bei Tempo einhundert lächelte Sanara, strich mit der Hand über die Ledersitze und betrachtete die dahinrauschende Landschaft. Der Fahrtwind zerzauste ihr Haar.
Carney steuerte den Wagen auf einer Straße am Meer entlang. »Ich zeige Ihnen später, wie man fährt«, sagte er. »Es ist nicht schwer.«
So fuhren sie eine Stunde unter dem wolkenlosen Himmel dahin. Schließlich bog Carney von der Straße ab und ließ den Wagen auf dem Parkplatz eines Strandlokals ausrollen.
»Lassen Sie uns einen Kaffee trinken«, sagte er. »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.«
Während sie auf ihren Cappuccino warteten, beobachtete Sanara die anderen Gäste des Lokals. »An so einem Ort bin ich noch nie gewesen«, sagte sie.
Carney nickte. »Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Erholungsreisen zum Meer allgemein sehr geschätzt.«
»Ich wusste nicht, dass es früher so sauber war«, sagte Sanara. Ihr Blick ging hinüber zum Strand und zu einer Gruppe junger Menschen, die im seichten Wasser Volleyball spielten.
Ein Kellner brachte den Kaffee. Er fragte, ob sie noch etwas wünschten und als Sanara den Kopf schüttelte, lächelte er, deutete eine Verneigung an, drehte sich um und ging. Sanara blickte ihm hinterher.
»Diese Leute hier sind so …« Sie stockte.
»Freundlich?«, fragte Carney.
Sanara zuckte die Schultern. »Es ist unheimlich.«
»Bevor ich Sie verlasse«, sagte Carney, »möchte ich drei Dinge ansprechen, die Sie wissen sollten, bevor Sie eine Entscheidung treffen.«
»Okay.«
»Diese Menschen hier wissen nicht, dass sie am Grunde eines Goldfischteichs leben. Sie haben von der realen Welt keine Ahnung.« Carney rührte im Kaffee und fuhr fort: »Ich rate Ihnen davon ab, Personen in der Simulation mit dieser Tatsache zu konfrontieren.«
»Ich verstehe«, sagte Sanara.
»Der zweite Punkt betrifft die Zeitspanne, die Sie hier verbringen.«
»Ihr Angebot lautet zwei Jahre«, sagte Sanara.
»Das ist richtig. Aber wie in der realen Welt verläuft die Zeit in der Simulation nicht vollkommen linear.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich empfehle Ihnen, Ihre Zeit nicht zu verschwenden. Wie draußen sind auch hier Achtsamkeit und Sorgfalt wichtig, bei allen Dingen, die Sie tun. Sonst werden die zwei Jahre hier sehr schnell vorbei sein und Sie könnten sich betrogen fühlen.«
Sanara nickte.
»Der letzte Punkt betrifft Ihren Tod.« Carneys Blick ruhte auf Sanara. »Sie werden nicht wissen, wann es passiert. Es gibt kein exaktes Datum. Draußen vergehen zwei Jahre. Hier drinnen kann es sich wie drei anfühlen oder auch wie zehn.«
»Und wie wird es passieren?«
»Das weiß niemand. Der Algorithmus improvisiert es gewissermaßen. Es wird nicht schmerzhaft sein, nichts Qualvolles. Kein Drama.«
»Kein Drama«, wiederholte Sanara.
»Haben Sie noch Fragen?«
»Werde ich hier Freunde finden?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
»Wie sieht es mit Sex aus?«
»Alle Formen menschlicher Interaktion sind Teil der Simulation«, sagte Carney und trank seinen Kaffee aus. Er wartete noch einen Moment, dann sagte er: »Lassen Sie uns rausgehen. Ich zeige Ihnen, wie man den Wagen fährt, und dann können Sie den Rest des Tages so verbringen, wie es Ihnen gefällt.«
Etwa eine halbe Stunde später hatte sie den Dreh raus. Carney stieg aus und winkte. Sanara trat auf das Pedal. Der Schotter prasselte gegen den Karrosserieboden, die Reifen quietschten und der Wagen machte einen Satz. Eine Weile fuhr sie auf der Straße am Strand entlang. Dann wendete sie und kehrte zum Haus zurück. Sie ließ den Cadillac am Straßenrand stehen. Im Haus ging sie noch einmal durch jeden Raum, schaute durch jedes Fenster. Sie setzte sich auf die Terrasse und blickte aufs Meer. Über den Wellen schwebten Möwen im ablandigen Wind.
Eddie Chow betrachtete die fünf Geldscheine, die vor ihm auf der karierten Tischdecke lagen, zog ein Päckchen Blue Dragon aus der Brusttasche seine Sakkos und steckte sich eine Zigarette an.
»Danke«, sagte er. »Da fehlen aber immer noch zweihundert.«
Sanara nickte. Sie saßen einander in der Restaurantküche von Frau Chow gegenüber. Außer ihnen war niemand hier.
Eddie nahm einen Zug. »Ist das ehrlich verdient?«
»Ja, ist es«, erwiderte Sanara.
Eddie deutete mit der Hand auf ihr Gesicht. »Siehst schlimm aus. Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Nein, alles okay bei mir.«
Eine Weile sprach keiner der beiden ein Wort. Eddie rauchte, blickte Sanara in die Augen, dann auf die Geldscheine und wieder zu ihr zurück.
»Die Leute reden«, sagte er. »Is ein kleines Rattenloch, in dem wir hier leben.«
Sanara zuckte die Schultern.
»Ich habe gehört, dass Dusty Leute dafür bezahlt, sich in seiner Show zusammenschlagen zu lassen.«
»Stimmt.«
»Insbesondere Frauen.«
»Ja.«
»Junge Frauen.«
»Haben Sie vergessen, was Ihre Jungs mit mir gemacht haben?«
Eddie blies Rauch aus und beobachtete, wie die Wolke unter der Lampe langsam aufwärts stieg.
»Das war etwas anderes«, sagte er.
»Tja, wenn Sie meinen.« Sanara erhob sich.
»Wenn du den Rest bezahlst«, sagte Eddie, »könnten wir noch mal von vorn beginnen.«
Sanara wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie inne. »Von vorn beginnen?«
Eddie nahm einen Zug, kniff die Augen zusammen und sagte: »Ich denke, du hast deine Lektion gelernt.«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Sanara etwas erwidern, aber dann wandte sie sich um und ging davon.
Sanara lächelte. »Das heißt, der User will dich zurückhaben?«
Lan nickte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin.« Sie saßen im Diner. Sanara hielt einen Burger in der Hand und kaute. Eric stand ein paar Tische entfernt bei Mike.
»Das Thai Ming will mehr Geld haben als es für mich bezahlt hat«, sagte Lan, »aber wenn es klappt, kann ich nach Hause zurück.«
Sanara trank einen Schluck Black Polecat. »Und was wirst du dort machen?«
Lan dachte einen Moment lang nach. »Ich denke, es wird so, wie früher. Ich helfe meinem User, organisiere seine Termine, mache die geschäftliche Korrespondenz.«
»Wie ist er so, dein User?«
»Meistens ist er nett. Lebt allein. Arbeitet für eine Firma, die auch Geschäfte mit den Innenbezirken am Laufen hat.«
Sanara wischte sich mit einer Papierserviette die Lippen ab. »Wie alt ist der Typ?«
Lan schaute zur Decke, neigte den Kopf. »Ich schätze …«
»Also ein alter Sack!«, sagte Sanara.
»Nein! Höchstens vierzig oder so.«
»Wie gesagt«, lachte Sanara. »Ich wette, Sex steht auch auf der To-do-Liste.«
Lan zuckte die Schultern. »Das macht mir nichts aus. Eigentlich finde ich es ganz nett.«
»Ganz nett«, wiederholte Sanara. »Das is doch was!«
»Naja, drück mir die Daumen«, sagte Lan.
In diesem Moment wurde die Tür des Diners mit einem Knall aufgestoßen. Sanara blickte hoch und sah das Aufflackern von Mündungsfeuer. Es krachte, sie hockte sich unter den Tisch. Jemand brüllte, jemand schrie. Zwei Minuten später waren die Angreifer fort. Sanara und Lan standen vor Erics Leiche. Neben ihm lag sein Schwager Mike, seine Waffe steckte noch immer im Hosenbund.
Sanara stand auf der Terrasse ihres Appartements im elften Stock. Sie hielt den Kommunikator in der Hand.
»Dann haben Sie eine Entscheidung getroffen«, sagte Carneys Stimme.
Sanaras Blick glitt über die im letzten Tageslicht schimmernden Hochbauten der Innenstadt, weiter zu den leprösen Ghettos der Randbezirke, von denen Lower East End der heruntergekommenste war. »Ich habe eine Bedingung«, sagte sie.
»Und die wäre?«
»Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte Sanara. »Aber ich will, dass der Algorithmus etwas in meine Simulation einfügt.«
»Ich bin nicht sicher, ob …«
Sanara schaltete das Gerät ab. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft.
Lan betrachtete ihre Hand im Sonnenlicht. »Es ist phantastisch, einen Körper zu haben«, rief sie gegen den Fahrtwind. Sanara saß am Steuer des Cadillacs. Sie fuhren auf einer Straße am Meer entlang.
»Es ist phantastisch, zu glauben, einen Körper zu haben«, rief Sanara zurück. Sie bog auf einen Schotterweg ab und hielt in der Nähe des Strandes. Eine Zeitlang schauten sie, in die Sitze des Cabriolet gelehnt, auf das im Nachmittagslicht glitzernde Wasser, den in der Ferne verschwimmenden Horizont und lauschten dem Klang der Wellen.
»Kannst du schwimmen?«, fragte Sanara schließlich.
Lan blickte sie an. »Ich weiß es nicht.«
Sanara lächelte und stieg aus dem Wagen. »Finden wir es heraus.«