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Teilchen
Nun ist er allein.
Er hört noch die hallenden Schritte des Laborassistenten, dann das Klappern der äußeren Glastür.
Es herrscht Stille.
Nur das Ticken der Wanduhr zerhackt die Ruhe und den Strom der Zeit. Hinter einer Mauer aus Bleiklötzen gibt es noch das unhörbare Pochen des radioaktiven Zerfalls. Ein den Augen verborgenes Bombardement von Teilchen und Energieblitzen, die gelangweilte Zeiger von Messinstrumenten veranlassen, sich widerspenstig aus der Nullstellung zu bewegen. In jeder Sekunde rasen mindestens zweihundert Milliarden Partikel durch den Raum, wühlen sich durch das Dickicht der sie behindernden Luftmoleküle und nach zweihundertvierzigtausend Jahren wird der irrlichternde Tanz der Teilchen noch nicht beendet sein.
In der Stille sitzend, beugt er sich über die glänzende, gelbe Bakterienkultur. Er lächelt beim Anblick der kreisförmigen Kolonie mit ihren mehr als zehn Milliarden Individuen. Für jede Mikrobe eine Sekunde Frieden, denkt er - mehr als eintausendfünfhundert Jahre ohne Krieg.
Wenn „Sie“ jetzt hier wäre? Er denkt an die gelb-blonde Haarsträhne, die ihr immer in das Gesicht fällt. Ein Augenaufschlag, eine zarte Berührung ...
Doch er ist allein, rast auf dem Planeten Erde mit fast dreißig Kilometern pro Sekunde um die Sonne, einen der unzählbaren Sterne, Lichtfleck im Staub des Universums - gleichzeitig mit vielen Energiegiganten, alle von der ungeheuren Ausdehnung des Raumes zu Zwergen geschrumpft.
Er beugt sich über das Mikroskop. Flimmernde Wesen, nur Flecke im Sichtfeld des Okulars. Von Neutrinos durchzischt, durchpulst von dem milliardenfachen Seufzen seiner Neuronen, sitzt er, als Teilchen, eingewürfelt zwischen Teilchen.
Aber er ist doch ein Mensch, erkennt er mich nicht?