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Tapas
Noch im Morgenrock verschanzt sich Don Alfonso hinter der Zeitung.
Es könnte ebenso gut ein Bretterzaun sein, es gibt nichts mehr zu sagen. Wortlos bringt Gattin Barbara Marmeladentoast und Kaffee.
Den veredelt er mit einem Schuss Brandy und geht wieder schlafen, oder er ist weg wie der Blitz und flüchtet in die rosigen Arme von Maria. Gleitende Arbeitszeit erhöht die Lebensqualität.
Er ist ein stattlicher Mann mittleren Alters, volles Haar hat er, leicht gelockt.
Oft gönnt er sich den Luxus einer fachmännischen Rasur, speziell wegen seines Menjous.
„Buenos Dias, Don Alfonso!“ Der Barbier beklagt die Gluthitze, schimpft über den Abstieg von FC Sevilla und schließt mit der Frage: „Ich hoffe, es geht Ihnen gut – und der Frau Gemahlin?“
D.A. hat nur seine herrliche Maria im Kopf, aber er sagt: „Ach ja, der geht’s gut. Keine Kinder und ein pflegeleichter Ehemann, der das Geld ranschafft.“
„Na, hoffentlich bleibt’s so“, sagt der Mann mit dem Rasiermesser. "Die Stadt ist ja pleite. Jetzt wollen sie über vierzig Stellen streichen.“
„Kommt davon, wenn man Euros wie Peseten verpulvert“, erwidert D.A. gereizt.
Vermutlich steht auch er auf der Abschussliste.
Don Alfonso ist Mitglied einiger Vereine und Bruderschaften – Zusammenballungen nicht ausgelasteter Männer, die sich zu Tradition und rechtem Glauben bekennen. Deren Treffen verlaufen meist einvernehmlich und kultiviert – solange die Politik ausgespart bleibt. Dann aber bricht schon mal ein Weinkrug, ein Stuhl, ein Nasenbein. Das sind jedoch Ausnahmen.
Don Alfonso arbeitet im städtischen Fundbüro, oder treffender gesagt: Er ist dort hin und wieder anzutreffen. Er hat eine Chefin über sich und sieben oder acht Kollegen um sich. Aber Gedränge entsteht selten, denn ungefähr die Hälfte der geschätzten Mitarbeiter ist nicht präsent. Krankheiten, eigene und noch schlimmere bei den engsten Familienmitgliedern, gar Todesfälle, Einbrüche, das Auto steckt ohne eigenes Verschulden in einem Blechhaufen mit anderen Kontrahenten, ausströmendes Gas oder Wasser, Wohnungsbrand, gebrochene Arme und Beine – was für eine Welt!
Meist trifft man sich im Park bei Tía Rosalia; die führt ein Speak-easy, das wegen der Steuer als Soft-Ice-Pavillon firmiert. Der gute Schnaps wird hier wie zu Zeiten der Prohibition unter dem Ladentisch ausgeschenkt, in schmucken Espressotassen. Hier treten die dienstlichen Angelegenheiten in den Hintergrund, hier trifft Mensch auf Mensch. Und niemals können sie sich genug wundern, wie unterschiedlich schnell die Zeit im Büro oder bei Tía Rosalia vergeht.
Nach der Scheidung hat Don Alfonso seine Habseligkeiten zusammengepackt und sich in eine winzige, dafür billige Hinterhofwohnung zurückgezogen. Endlich wieder ein freier Mann sein, ohne die ständig zunehmende Pedanterie und Streitsucht seiner ehemaligen Gattin Barbara!
Wenn er daran denkt, welche Unsummen für Coiffeur, Kleider, Modezeitschriften, Kosmetik und den ganzen Zinnober monatlich zu bezahlen waren, dann gratuliert er sich. Mit dieser neuen Adresse lebt es sich billig.
Leider sagt sein Bauch – der ist realistischer als sein Kopf – etwas anderes. Sagt genau das, was er nicht wahrhaben will. Von privatem Weltuntergang spricht er, von überzogenen Konten und Einsamkeit.
In alter Gewohnheit möchte Don Alfonso diese unangenehmen Wahrheiten mit etwas Alkoholischem wie mit einem nassen Lappen wegwischen.
Alkohol war ihm stets verständnisvoller, wärmender Kumpel, hielt ihm so viel vom Leibe, was unerfreulich war. Doch nun lässt ihn das Wundermittel hängen. Es eignet sich nicht, Katastrofen in freudige Ereignisse zu verwandeln. Schmutzig-graue Wände bedrängen und umzingeln ihn in dieser ungewohnten Enge. Die niedrige Decke drückt ihn zu Boden, es lärmt im Hof.
Auch die niedrige Miete stellt sich als arge Täuschung heraus: In diesem schrecklichen Loch kann er seine Abende nicht verbringen, es sei denn, er möchte wie Millionen vor dem Bildschirm abstumpfen, einschlafen und aufschrecken, mit zuckenden Gliedern und einer großen Unzufriedenheit.
Also hinaus ins bunte Leben! Sevillas Altstadt ist quirlig und schrill, die Bars sind umlagert, schöne Frauen, Männer mit markantem Profil.
Er überprüft sein Aussehen auf der Toilette. Ja, gut sieht er aus.
Das Problem ist die Kommunikation. Obwohl sie alle, auch die Dunkelhäutigen, seine Sprache sprechen, kommt er nicht an sie heran. Sie halten ihn für etwas Besseres, für einen Granden.
D.A. stochert lustlos in seinen Tapas. Eine Zumutung zu diesen Preisen, fettig und schlaff – ohne Temperament, ohne Andalusiens Seele. Er nimmt noch einen Sherry, hofft lockerer zu werden, doch er versteift sich.
Schimären belauern Don Alfonso in der Nacht. Albträume plagen ihn, die Angst vor dem, was kommt, vor der befürchteten Kündigung. Er verspürt Antriebslosigkeit und Müdigkeit.
Er will sich nicht um den Schlaf bringen, indem er an die nächste Zeit denkt, doch all diese Scheißgedanken lassen sich nicht abstreifen wie lästiges Ungeziefer. Sie kleben wie Blutegel an ihm, widerlich – diese scheußlichen Visionen, in nicht allzu ferner Zeit das Rasierwasser aus dem Fluss zu schöpfen, die Pappkartons neu zu ordnen für die nächste Nacht unter der Brücke und Bananen zu klauen aus dem Container hinter dem Supermarkt.
Ein flüchtiger Schlaf überkommt ihn, in diesem traurigen Bettchen; seine Träume sind die genaue Kopie der Gedanken, die er tagsüber nicht denken will.
Doch präzis an seinem einundfünfzigsten Geburtstag, ohnehin ein regnerischer Tag, kracht das Firmament mit allen Wolkenmassen auf Don Alfonsos gepflegte Locken. Ein gewisser Brief wird ihm gegen Unterschrift ausgehändigt. D.A. kann sich das Öffnen ersparen – er kennt den Inhalt bereits und seine fliegenden Finger würden diese schwierige Operation eh nicht zuwege bringen.
Ihn überkommt ein unwirkliches, taubes Gefühl. Er lehnt sich abwesend an die Wand, presst die Handflächen gegen den kühlen Kalk, rutscht langsam nach unten.
Wie auf einem defekten Bildschirm verlieren sich die Farben, das verbliebene Schwarz-Weiß versucht sich noch in Kästchen zu ordnen, doch die Ordnung kommt nicht mehr zustande, die Kästchen purzeln durcheinander und fallen neben ihm auf den Boden. Aus.
Und es gibt auf der ganzen Welt kein Getränk, was ihm hier wieder heraushilft und eine schöne Fata Morgana vorgaukelt – ein unklares, dennoch verheißungsvolles Bild von Morgen und Zukunft. Der Bildschirm ist leer.
Ein Jahr später wohnt Don Alfonso am Fluss.
Eigentlich haust er da. Ein aufgegebenes Bootshaus hat er sich ausgesucht. Zur Hälfte steht es auf Pfählen, das Uferteil besteht aus bröckeligem Gemäuer. Das Dach taugt nicht viel und seine Reparaturbemühungen mit viel Folie ebenso wenig.
Hier zu leben ist schwierig. Zwar hat das Bootshaus eine ganz ordentliche Tür, eigentlich ein kleines Tor mit zwei hölzernen Flügeln, doch die Rückseite zum Fluss hin ist völlig offen. D.A. hat nur die Möglichkeit, den vorderen gemauerten und notfalls bewohnbaren Teil zum Wasser hin abzutrennen.
Wie und mit wessen Hilfe muss er noch herausfinden. Hier schwappt nicht Flusswasser, sondern Verbitterung an seine Seele – bislang hat es noch kein Mensch für nötig gehalten, mal auf einen Schwatz herzukommen. Er scheint für seine früheren Freunde, Kollegen und Kumpane die Eigenschaften der Flussgeister angenommen zu haben: Man weiß, dass es sie gibt, doch muss man ihretwegen nicht zum Ufer gehen, denn wer dort haust, kann einem nichts nützen.
Eine seltsame Mixtur braut sich in Don Alfonso zusammen. Groll, Wut und Enttäuschung gären in ihm, erhitzen sein Blut weit über den Siedepunkt. Ein kostbares Destillat entsteht: trotziger Stolz.
Der Zementsack wiegt fünfzig Kilo. Don Alfonso spuckt in die Hände, doch sie gleiten kraftlos ab am straffen braunen Papier.
Auf sich allein gestellt, verzichtet er beim zweiten Versuch auf Speichel und Theater, strengt sich doppelt an – und siehe, der Sack bewegt sich dorthin, wohin D.A. befiehlt.
Caramba! Diese sogenannten Freunde, mit denen er bei Tia Rosalia das zu Herzen gehende Lied „Kameraden für’s Leben“ eng umschlungen gesungen und brennenden Schnaps gesoffen hat, die alle können ihn am Arsch lecken. Gestohlen sollen sie ihm bleiben mit ihren einfältigen Ansichten und ihrer Behäbigkeit. Er, Don Alfonso, wird ihnen und dem schäbigen Rest der Welt zeigen, was ein echter Kerl ist, einer, der Zementsäcke stemmt und im Fluss badet, wo diese Trottel unter der warmen Dusche stehen und trotzdem frieren.
Das mit der Trennmauer kriegt er ganz ordentlich hin, und über dem Eingang wölbt sich jetzt ein hübsches Vordach. Da werden Wein ranken und Clematis blühen.
Dann geht er mit entschlossenem Schritt zum Tor. Mit leuchtenden Farben jagt er dieses stupide Graugrün zum Teufel. Eine bunte Welt entsteht mit gekrönten Vögeln, Schachtelhalm und Pinien, Schnecken mit freundlichen Gesichtern, mit Granatäpfeln und Delphinen. Ein Kunstwerk, ganz ohne Frage.
D.A. hat nicht Blut, sondern Farbe geleckt.
Er kauft Leinwand, mehr Farben, eine Staffelei. Eine sonderbare Faszination überkommt ihn, ein tranceartiger Zustand. Er beginnt zu malen, wie das Medium eines guten Geistes, mit Leib und Seele. Die führen seinen Pinsel und er lässt es zu.
Er gewinnt Sicherheit, seine Farben werden kräftiger, mutiger. Oft geht die Fantasie mit ihm durch, diese neue großartige Freiheit, den Strom hinunter, über die Meere dieser Welt mit immer größeren Segeln, bis weit über die Wolken hinaus. Er wird kühn und kühner, seine Bilder geraten ihm immer besser; nicht das Motiv, sondern die Farbe ist seine Stärke. Er beweist sich und der Welt, dass er mehr drauf hat, als Akten zu sortieren oder bei Tía Rosalia zu sitzen.
Über zwei oder drei Jahre muss man nicht viele Worte verlieren. Zeit kommt und verschwindet, unterhält uns mit dem Spiel der Jahreszeiten, dimmt das Licht überm Spiegel. Sie treibt mit uns Schabernack, oftmals böse – streicht falsch wie eine Katze um die Beine und tätschelt uns zum Geburtstag tröstend die Wangen. Sie gurrt ein bisschen wie die alles bescheißenden Tauben und lullt uns ein.
Doch genau diese Zeit reichte Don Alfonso, das Bootshaus zur schönsten Gartenlaube, zum originellsten Wohnhäuschen herzurichten. Schon von weitem hört man das Knattern der fröhlichen Fahnen im Wind. Wie bei einem Dreimaster hat er drei ausgediente Ladebäume aufgestellt und beflaggt.
Sein letztes Bild „Infierno“, eine beunruhigende, fast alarmierende Farbattacke im Zentrum, doch harmonisch und elegant ausklingend an den Seiten, hat ihm viel Geld eingebracht.
Der Kosmos des Don Alfonso muss kein Schwarzes Loch befürchten, ganz im Gegenteil – er dehnt sich aus.
Am meisten vermisst er Maria. Seit das Unheil seinen Lauf nahm, hat er sich nicht mehr gemeldet. Tausendmal Anlauf genommen, doch nie die letzte Ziffer gedrückt. Er weiß nicht, ob aus Scham, oder aus Furcht, ihr Mitgefühl könne ihn noch depressiver machen. Nur einmal hat er ihre Nummer vollständig gewählt. Von ihrer Schwester erfuhr er, dass Maria in London ist. Er erinnert sich nicht, wie er das Gespräch beendet hat, aber er weiß noch, dass er sich unendlich verlassen fühlte.
Das ist noch heute so. Er muss sie um jeden Preis wiedersehen. Aber vielleicht hat sie ihr Glück gefunden, mit einem Mann, der erfolgreich ist, der nicht stundenlang ins graue Wasser stiert.
Je mehr er an sie denkt, umso mehr vermisst er sie. Aber vielleicht würde sie ihn gar nicht wiedererkennen.
Jetzt trägt er eine Löwenmähne, silbergesträhnt und einen wirklich männlichen Vollbart. Er sieht grandios aus.
Der neue gläserne Anbau zieht die Leute magisch an. ‚Alfonso’s Bodega’ ist ein glitzerndes Ding am Fluss, hier ist der Teufel los.
Die Idee, statt der üblichen Tapas kleine Köstlichkeiten zu servieren, hat mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun. Seine Leute hat er trainieren lassen von einem Coach aus Kalifornien.
Tortilla? Ein krosses Rondell von Kartoffelscheiben mit Bellota-Schinken und Wachtelspiegelei. Calamares? Superzart, leuchtend weiß und knallrot aus dem Wok mit Espelettepfeffer und Frühlingslauch. Oder Stockfisch? Eine wunderbare Mousse zwischen splitterndem Sesamblätterteig, mit Limonenhauch. Der Andrang ist überwältigend. Teuflische Spießchen vom Iberico-Schweinebauch mit Oktopus und grünen Chillies auf mandeligem Süßkartoffelpüree; himmlische Muscheln mit Konfetti von geräuchertem Knofel, Pimientos, Koriander und Kichererbsen.
Fröhlicher, ausgelassener Stimmenlärm weht übers Wasser, bunte Lichter tanzen darin.
Ja, da scheiden sich die Geister. Die Neider, meist frühere Kollegen und Bürokraten, die sehen, wie einer von ihnen in kürzester Zeit steinreich wird, ersinnen in ihrer reichlich vorhandenen Zeit viele Schikanen und unnötige Hindernisse, um einen galoppierenden Mustang zu bändigen. Aber dieser Mustang kann nicht eingefangen werden – zu viele schöne Frauen himmeln ihn an, würden sofort bereit sein, wenn er nur ein bisschen Zeit für sie erübrigen könnte. Doch seit dem vierten Oktober haben sie keine Chance.
An diesem Tag kommt er vom Großmarkt, packt kräftig mit an, um die erstandenen Schätze ins Lager oder Kühlhaus zu tragen. Eine Radfahrerin mit großer Sonnenbrille studiert die Preisliste neben dem Eingang. Weil D.A. kaum über die Kartons auf seinen Armen schauen kann, sieht er nur ihr Haar.
Er ist schon auf der Schwelle, da hält er plötzlich inne. Vollbeladen und verschwitzt dreht er sich unendlich langsam um und die Frau rückt Stück für Stück in sein Blickfeld. Er mustert sie mit kugelrunden Augen, lässt den Mund offen, die Arme sinken, die Kartons fallen runter. Einer platzt auf; Oliven und Glasscherben vermischen sich.
Gleichzeitig geht die Frau mit ihm in die Hocke, um die Scherben aufzusammeln.
Ihre Blicke treffen sich, doch sie schauen scheu wieder weg. Das wiederholt sich in immer kürzeren Abständen, bis sie einander fest anschauen. „Alfonso? Sind Sie Alfonso?“, sagt die Frau. „Und du bist Maria“, sagt Alfonso und nimmt ihr die Sonnenbrille ab. Sie umfassen sich, mit Weinen und Lachen schrauben sie sich wieder nach oben, pressen sich aneinander, bekommen fast keine Luft. Er schnauft atemlos: „How do you do?”, und sie knufft ihn kräftig. Alfonsos Leute tragen die restlichen Waren in die Bodega, ordnen Tische und Stühle, einer fegt die Terrasse, macht einen schönen Bogen um die beiden, ein weißes Schiff gleitet vorüber, Matrosen, Autos, Müßiggänger, Radfahrer, Leute mit Hund – die beiden stehen umschlungen auf einer winzigen ungefegten Insel, unerreichbar vom Lauf der Welt.
Wenn jetzt D.A. gefragt wird, wann er geboren ist, dann weiß er das ganz genau: „Vor sechs Jahren“, dabei macht er eine ausholende Bewegung über seinen turbulenten Laden, „das ist mein Geburtshaus.“
Das gesunde Leben am Fluss, die gute Luft, ausreichend Liebe und die köstlichen Tapas eigener Herstellung sind die beste Basis für einen erstrebenswerten hundertsten Geburtstag. Er wird ihn erleben – ohne den geringsten Zweifel. Da wäre er gerade mal dreiundvierzig Jahre alt.