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Tanzende Topfpflanzen
„Liebst du mich?“
„Was ist denn das für eine Frage?“ Lisa schnipst verlegen Krümel von der Tischdecke, die kreischend auf dem Boden landen. Sie sieht dem Mann gegenüber flüchtig in die Augen. Das Restaurant kommt ihr plötzlich viel zu leise vor. Sie schaut sich um. Die anderen Gäste unterhalten sich angeregt, keiner beachtet sie. Lisa senkt den Blick. Neben ihrer linken Hand liegt die Gabel, die genervt die Augen verdreht und ihren zackigen Kopf schüttelt.
„Wie, was ist das für eine Frage? Weißt du, Lisa, das machst du immer!“
„Was mache ich immer?“
„Du weichst mir aus. Und schaffst es sogar noch, dass ich mir dabei wie ein Idiot vorkomme.“
„Wovon redest du denn jetzt auf einmal, Stefan? Nur weil ich eben …“
„Weil du einfach nicht auf diese Frage antworten kannst. Das sagt doch schon alles, oder? Ich weiß überhaupt nicht, warum wir hier noch zusammen sitzen.“
„Na, wegen mir!“, schreit das frisch gebratene Steak, das der Kellner in diesem Moment vor Lisa abstellt. Fröhlich winkt ihr der grüne Spargel vom Teller entgegen. „Lass ihn reden, Lisa. Immer die gleiche Leier. Jetzt genieß erst einmal dein Abendessen, wir sind heute voll extra aromatisch. Und dann mach dich vom Acker. Endgültig!“
Stefan starrt Lisa entgeistert an. „Hallo? Was machst du denn da?“
Sie hat sich tief über ihren Teller gebeugt, das Ohr ganz nah über dem Essen. Lauscht dem Gemüse.
„Lisa! Sag mal, willst du mich verarschen?“
Sie zuckt zusammen. Richtet sich auf. „Tut mir leid.“ Eins der Brötchen in dem kleinen Korb zwischen ihnen streckt Stefan die Zunge raus. Lisa zwingt sich, es zu ignorieren. Muss schmunzeln und konzentriert sich auf das Steak, das ihr nun ernst entgegenblickt.
„Was gibt’s denn da zu grinsen, Lisa? Also echt, manchmal glaube ich, du hast nicht mehr alle Latten am Zaun!"
Empört springt ihr die Gabel aus der Hand und klatscht mitten in die Bratensoße. Braune Spritzer verteilen sich auf Stefans weißem, faltenfreiem Hemd.
„Verdammte Scheiße. Das machst du doch mit Absicht!“ Wütend funkelt er sie an.
„Nein, ich …“
„Du warst das nicht, oder? So wie gestern, als mir abends plötzlich deine Zahnbürste an den Kopf geflogen ist? Aus der Hand gefallen war sie dir, ja genau. Oder die Leiter, die mich letzte Woche fast erschlagen hat? Von der du gar nicht wusstest, wie sie hinter die Tür gekommen ist?“ Mit einem Ruck steht er auf und eilt Richtung Toilette.
Lisa lehnt sich zurück. Auf ihrem Schoß verformt sich die Serviette langsam zu einem zornigen Gesicht. Ihre Handtasche zerrt an der Lehne des Stuhls. Sie kann nicht hierbleiben! Ihre Freunde sind nervös, ungeduldig. Wer weiß, was beim nächsten Mal in seinem Gesicht oder auf seinem Kopf landet. Sie werden immer aggressiver.
Schnell greift sie nach ihrer Tasche und verlässt mit gesenktem Kopf das Restaurant.
Unter ihren Füßen grinsende Betongesichter. „Jawoll, Lisa, endlich! So langsam gingen uns die Ideen aus, um diesen Kerl loszuwerden.“ Wütend tritt sie auf das Kopfsteinpflaster. „Das macht uns nichts aus, das weißt du doch. Sei nicht sauer! Sei lieber froh, dass du uns hast. Was wolltest du denn mit dem? Ein spießiger Langweiler. Anzugfuzzi. Der wollte ein nettes Beiwerk aus dir machen. Die Frau, die immer an der passenden Stelle lacht, wenn der Mann etwas erzählt. Der hat doch nichts Liebenswertes …“
„Ruhe!“ Lisa stampft auf und stemmt die Hände in die Hüften. Um sie herum wird es still. Sie biegt in den Stadtpark ein. Alle spüren, dass sie eine Pause braucht. Die Kieselsteine geben nur ihr übliches Knirschen von sich. Verhalten sich ganz ruhig. Beobachten, wie sich Lisa auf eine Bank setzt und die Augen schließt.
Sie atmet tief ein. Warme Abendluft füllt ihre Lungen. Weich schmiegt sich der Sommer um ihren Körper. Versöhnlich.
Ihre Freunde. Seit sie auf der Welt ist, wird sie von ihnen begleitet. Sieht tanzende Topfpflanzen, hört Wasserhähne schluchzen und spricht mit Dingen, die für andere stumm sind. Als Kind war das lustig. Als Erwachsene auch. Nur erzählen darf man es keinem. Einmal hat sie es probiert, aber nur diesen Blick geerntet. Ungläubiges Staunen. Schmunzelnder Spott. Nicht noch einmal, keine Lust. Warum alles um sie herum lebt und zappelt, weiß sie nicht. Ihre Oma hat ihr früher einmal zugeflüstert: „Du bist wie ich. Genieß es. Wenn du groß genug bist, erkläre ich dir alles.“ Aber bevor sie erklären konnte, starb sie.
An manchen Tagen fühlt sich Lisa von Einsamkeit erdrückt. Alles spricht mit ihr – nur die Menschen nicht. Es ist schwer, an sie heranzukommen. Sie hetzen an ihr vorbei, die Blicke gesenkt. Lisa steht am Straßenrand und kommt nicht hinterher. Sie sprechen von ihren Erwartungen, ihren Zielen. Mit leuchtenden Augen erzählen sie ihren Freunden von dem schimmernden Schwarz ihres neuen Autos und die anderen applaudieren. Lisa hört ihnen zu, versteht sie aber nicht. Sie versucht mit ihnen an der Oberfläche der Welt zu schwimmen, sinkt aber immer wieder in die Tiefe.
Sie träumt. Gilt als seltsam. Selbst Stefan hat ihr das immer wieder gesagt. Anfangs fand er sie hübsch, geheimnisvoll. Doch das hielt bloß ein paar Monate. Immer weniger gelang es ihr, sich zusammenzureißen, das bunte Treiben um sie herum zu ignorieren. Eines Tages sagte er es dann zum ersten Mal: „Irgendwas stimmt nicht mit dir." Damals noch mit einem Lächeln. Dann immer wütender.
Ein paar Menschen gibt es, an die traut Lisa sich heran. In der Arbeit zum Beispiel, da sind sie ruhiger. Bewegen sich bedacht, haben Geduld für den Augenblick. Hier fühlt Lisa sich geborgen. In den zahllosen Gängen der Bibliothek verschmilzt sie mit dem Flüstern der Bücher. Die anderen Frauen schätzen ihre Zurückhaltung, nicken ihr freundlich zu. Margit mag sie besonders. Die ältere Dame fährt zärtlich mit der Hand über die Buchrücken. Wenn sie eines öffnet, atmet sie tief ein, mit diesem seligen Lächeln. „Jedes Buch riecht anders, Lisa“, sagt sie immer und hebt dabei den Zeigefinger.
Lisa öffnet ihre Augen und betrachtet die unruhigen Grashalme. Im sanften Wind wackeln sie hin und her. Jedes versucht, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie flüstern. „Was machst du jetzt, Lisa?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Nach Hause kannst du nicht. Er stürmt gerade durch die Wohnung und packt seine Sachen. Schimpft und reibt sich die Stirn. Die Garderobenstange ist ihm entgegengekommen, als er aufgeschlossen hat. Jetzt wächst ihm eine ordentliche Beule. Er hat die Schnauze voll. Wir glauben, er hat sogar ein bisschen Angst.“ Sie kichern, stupsen sich gegenseitig an. Lehnen sich aneinander und warten ihre Reaktion ab.
Sie steht auf und macht sich auf den Weg in ihre Lieblingsbar. Hält ein bauchiges Glas goldbraunen Whisky in der Hand und spürt, wie die Eiswürfel ihre Lippen küssen.
Am nächsten Morgen steht sie unentschlossen vor den Supermarktregalen. Sie wünscht sich oft, an diesem Ort könne sie ihre Freunde zum Schweigen bringen. Nur für einen kurzen Augenblick. Da rufen Milch, Salami und Tomaten durcheinander, biedern sich an, dass ihr der Appetit vergeht. Die Tomaten sind am schlimmsten. Immer wütend. Fäuste schwingend hocken sie neben den Zwiebeln, die mürrisch ihre Augen zusammenkneifen.
Am liebsten mag Lisa die Kuchenabteilung. Schokoladenkuchen im speziellen. Die gemütlichen Kollegen sprechen ganz leise, haben tiefe Stimmen. Fluffig und entspannt schmiegen sie sich aneinander, sonnen sich in der Gewissheit, gekauft zu werden. Lisa bleibt gerne eine Weile bei ihnen stehen, lauscht ihren Geschichten.
Doch heute steht da schon jemand! Ein Mann. Bewegt sich keinen Zentimeter. Er greift nach nichts, die Arme hängen schlaff hinunter. Sein Blick schweift verträumt zwischen den Gebäckstücken hin und her. Lisa beobachtet ihn, versteckt hinter der Regalwand. Ab und zu lacht er auf, schüttelt den Kopf.
Was sie dann sieht, nimmt ihr den Atem. Langsam beugt er sich vor. Legt sein Ohr ganz nah an einen Marmorkuchen. Lauscht und nickt. Mit klopfendem Herzen geht sie auf den Mann zu. Schritt für Schritt, bis sie neben ihm steht. Sie sehen sich an, keiner sagt ein Wort.
„Pssst, ihr zwei. Hier! Hierher!“ Ihre Blicke springen zum Regal zurück. Da sitzen sie mit ihrem breiten Grinsen, die Muffins mit den bunten Zuckersprenkeln. Einer von ihnen zeigt erst auf den Mann, dann auf die Frau. „Darf ich vorstellen? Florian – Lisa. Lisa – Florian.“
Die beiden lächeln. Hinter ihnen applaudiert das Toastbrot.