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Tanzen
„Stella!“, ich renne auf meine beste Freundin zu, die vor der Schule auf mich gewartet hat,“1,2! Mein Durchschnitt ist 1,2! Ich freu' mich so! Endlich ist der ganze Stress vorbei und Jasper geht es auch besser, dann können wir morgen richtig schön mit den anderen feiern gehen!“
Wir nehmen uns an den Händen und springen aufgeregt herum.
„Das wird so super! Willst du direkt zur Klinik gehen und es ihm auch erzählen? Ich kann nicht mit, muss gleich noch arbeiten.“
„Okay, dann geh ich alleine. Wir telefonieren heute Abend nochmal!“
Jasper und ich sind seit zwei Jahren ein Paar. Vor zwölf Monaten ist er an Leukämie erkrankt, hat durch die Therapien rapide abgebaut und sich völlig verändert. Er war nicht mehr der lässige Sunnyboy und Stück für Stück hat er sogar seinen, wie ich immer dachte unerschütterlichen, Optimismus verloren. Aber ich habe immer zu ihm gehalten, mit ihm gekämpft, ihn immer geliebt. Als ich vor acht Wochen kurz vorm Zusammenbruch war, gab es endlich die lang ersehnte Knochenmarkstransplantation, in die wir all unsere Hoffnung setzen. Er hat sie gut überstanden und seitdem geht es ihm von Tag zu Tag besser. Erholt er sich weiterhin so gut, darf er in einer Woche das erste Mal wieder nach Hause.
Glücklich laufe ich zur Klinik, während ich im Kopf „So Perfekt“ von Casper mitsinge, was mein iPod gerade spielt. Lange Zeit war es der größte Horror, Jas zu besuchen aber mittlerweile hat er wieder dieses freche Grinsen drauf, in das ich mich damals so verliebt habe.
Als ich das große weiße Gebäude betrete, rümpfe ich die Nase. An den Geruch der Desinfektionsmittel gewöhnt man sich einfach nicht, egal wie viele Stunden man hier verbracht hat. Am Ende des ersten Flurs muss ich links ab, nach drei Metern rechts und dann das vierte Zimmer rechts.
Es ist schön gewesen, ihn zu sehen. Er hat mir gesagt, wie stolz er auf mich sei und dass er eine riesige Party für mich schmeißen würde in ein paar Wochen, wenn er wieder richtig fit ist. Da würde er dann auch mit mir tanzen, das hätte er nämlich so vermisst.
Tanzen ist meine Leidenschaft, schon seit ich ganz klein war. Eine Zeit lang habe ich sogar darüber nachgedacht, Ballett zu studieren. Haben meine Eltern mir wieder ausgeredet, stimmt ja auch, dass man damit wahrscheinlich nichts verdient. Ich wollte dann auch mal was anderes ausprobieren und bei einem Breakdance-Workshop haben Jasper und ich uns dann eben kennengelernt. Das Tanzen hat uns seither immer verbunden.
Ich hoffe wirklich, dass es diese große aber doch ganz private Abiparty geben wird, dass er so schnell wieder auf die Beine kommt.
Elisa, ich wünschte, du wüsstest, wie ich für dich fühle. Wünschte, ich könnte es in Worte fassen oder es dich fühlen lassen, wenn wir zusammen tanzen. Tanzen.... Nur noch ein paar Wochen und ich kann wieder tanzen.
Das ist alles was ich mir wünsche, alles was ich brauche, alles an was ich denken kann. Tanzen. Für und mit dir.
Abends fahre ich mit Stella in die angesagteste Bar der Stadt, wo die anderen aus meiner Stufe schon ordentlich am saufen und tanzen sind. Wir machen mit, einen kurzen Moment muss ich an meinen Freund denken, wie immer wenn ich tanze. Die ausgelassene Stimmung genieße ich dennoch in vollen Zügen. Ich spüre, wie es in der rechten Tasche meiner Hotpants vibriert, ignoriere es aber. Nach ein paar Minuten schon wieder, egal. Nochmal. Ich laufe raus und nehme ab.
„Ja?“
„Elisa, komm nach Hause! Sofort!“
Meine Mutter, na super.
„Mama, hast du noch alle Latten am Zaun?! Es ist nicht mal ein Uhr, es ist meine ABIPARTY!“
„Es ist wichtig! Es geht um was anderes!“
Was soll denn schon wichtig sein heute Nacht? Hat der Hund wieder auf den Teppich gekotzt oder was?
„WAS? Sag einfach, ich komm jetzt nicht nach Hause, es ist doch sowieso nix, was wirklich schlimm ist!“
„Elisa, Kleines. Die Eltern von Jasper haben angerufen. Er hatte einen schlimmen Rückfall. Es geht ihm schlechter als jemals zuvor. Komm nach Hause, bitte“, sagt sie mit einer sehr sanften Stimme.
Nein. Nein! NEIN!
Ich lege auf, renne zum Auto, fahre los. Aber mein Weg führt mich nicht zur Klinik. Da kann ich nicht hin. Nie wieder werde ich diesen weißen Klotz betreten. Weit weg. Einfach nur weg von hier.
Es tut mir leid, Jas. Ich kann das nicht noch einmal.
Erst auf die Landstraße, danach Autobahn in einem wahnsinnigen Tempo.
Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Die Autobahn habe ich verlassen, bin auf einem kleinen Feldweg irgendwo im Nirgendwo. Hier halte ich an und steige aus. Lasse alles im Auto inklusive Handy und Schlüssel. Vor mir liegt ein Feld, dahinter eine Wiese. Stille und Einsamkeit, das brauche ich gerade.
Sein Gesicht ist ein stetiges Bild vor meinen Augen. Das Bild zeigt in seinen Augen nicht die Verzweiflung der Krankheit sondern einen Mix aus dem frechen Grinsen und dem glücklichen Lachen von heute Nachmittag. Da sah er so wunderschön aus. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es gerade um ihn steht. Das würde mich zerreissen.
Langsam bewege ich mich über das Gras, meine Ballerina-Beine halten mich fest auf dem Boden und doch ist es, als würde ich schweben. Ich drehe Pirouette für Pirouette und befreie meinen Kopf von allem. Immer weiter und weiter und weiter bis ich nach einer Unendlichkeit stehen bleibe.
Vorsichtig lege ich mich hin. Der Boden ist feucht und kalt, mein Körper fängt an zu zittern. Die schöne weiß-rosane Leggins mit Photoprint, die ich extra für diesen Abend gekauft habe, ist ruiniert.
...wie lange ich hier schon so liege, weiß ich nicht. Mittlerweile bin ich aber trotz der Kälte kurz vorm Einschlafen. Abi-Schnitt und Party kommen mir wie das Unwichtigste der Welt vor. Aufstehen und zurück ins Auto will ich nicht, möchte weiterhin so unerreichbar für alles und jeden sein.
Und dann spüre ich es. Eine plötzliche Leere in mir. Er hat es nicht geschafft. Zweifellos. Eine Sekunde lang kommt es mir vor, als könne ich einen weißen Schimmer in weiter Ferne zum Himmel aufsteigen sehen. Ich schließe meine Augen mit dem friedlichsten Lächeln auf meinen Lippen, das man sich vorstellen kann. Denn ich weiß, dass ich bald zu ihm kommen werde. Ihn glücklich und vollkommen geheilt sehen darf. Mit ihm tanzen kann. Und genau danach habe ich mich am meisten gesehnt.
Ich wollte doch nur noch mit dir tanzen! Elisa, vergiss mich nicht! Wo auch immer du sein wirst, wen auch immer du lieben wirst, wie auch immer du glücklich wirst – Vergiss mich nicht! Irgendwann wirst du mir hierher folgen und ich werde dich finden. Bis dahin werde ich hier auf dich warten und für dich tanzen.
Noch ein paar Minuten, dann bin ich bei dir. Für immer und wir können tanzen...