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Tanz mit dem Wind
Leise eine Melodie summend, spritzt Nina mit ihren Füßen dem erzürnt dreinschauendem Poseidon das Wasser ins graue Gesicht. Die Tropfen wirbeln bunt herum. Am Springbrunnen sind, so kurz vor der Mittagszeit, nur wenige Leute.
Den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme weit ausgebreitet, beginnt sie sich um sich selbst zu drehen. Immer schneller. Schneller.
Zärtlich streichelt der aufkommende Wind ihr Gesicht, will sie zu mehr verführen. Nun springt sie in die Höhe, die Zehenspitzen gestreckt. Ihre Muskeln unter dem dünnen Stoff fühlen sich stark und geschmeidig an. Sie kann es spüren. Endlich!
Der Wind frischt weiter auf, umspielt ihren Körper, lupft ihr Kleid wie ein frecher Geliebter. Eine letzte Pirouette. Dann beginnt sie von vorne.
Schon lange vor dem ersten Kind musste sie ihren Traum aufgeben. Der rechte Fuß.
Ihre Arme heben sich voller Kraft. Immer derselbe Bewegungsablauf. Gleich wird sie schweben! Unbefangen. Frei! Hin und her. Her und hin. Vom Wind vorangetrieben, der ihr liebestoll das Haar zerzaust.
Bruno betrachtet die Frau. Aus der Entfernung. Er kennt sie. So hat er sie noch nie gesehen. Tanzend im Brunnen. Er muss blinzeln, sich kurz die Augen wischen.
Die anderen, die hastig in ihrer Mittagspause am Brunnen vorbeieilen, halten die Köpfe in ihre Mantelkrägen gesenkt.
***
Zehn Uhr am Morgen. Die Flasche Sekt ist schon leer. Zum Putzen gönnte sie sich ein Glas. Dann noch eins. Geht ja dann alles viel beschwingter. Das Putzen. Mit Tanzen sowieso. Egal, dass der Fuß ruiniert ist.
Der erste Teil des Tages war bereits geschafft. Aufstehen, mit dem Hund raus, die Kinder wecken und ihnen beim Anziehen helfen. Ihr Mann war schon lange auf der Schicht. Frühstück mit Toast und Ei, wobei sie selbst nie Appetit hatte. Dann das Geschirr in die Spüle stellen, das Zähneputzen der Kinder überprüfen und sie rechtzeitig zum Bus schicken.
Vom Küchenfenster aus betrachtet sie die Windräder, die in der Ferne lautlos rotieren. Die sind neu. Keiner wollte sie. Aber nun sind sie da.
Das Mittagessen muss sie noch vorbereiten. Die Kinder kommen um eins. Schnitzel mit Möhren und Reis.
„Bäh, das mag ich nicht essen!“, kann sie die Stimmen ihrer Kinder schon jetzt hören. Aber darauf legt Nina Wert - gutes Essen. Das hat sie so gelernt. Von ihrer Mutter. Der Frau, die immer gesagt hat: „Pah, aus dir wird nie eine Tänzerin!“ Die Möhren sind schnell geschält.
Sie hat das Gefühl, beobachtet zu werden. Auf dem knorrigen Baum im Garten sitzt ein Rabe. Ein plötzlicher Windstoß lässt den Ast erzittern und schreckt den Vogel auf. Sie blickt dem Raben nach, der krächzend davonfliegt.
***
Bruno schaut sich kurz um, stellt die Tasche ab. Seine Schicht ist vorbei. Dann geht er ungelenk auf den Brunnen zu. Er nestelt an seiner Jacke und reibt sich die Nase. „Nina?“, ruft er zaghaft.
Die Frau schwebt unbeirrt ihren Tanz im immer stärker aufbrausenden Sturm. Feucht glänzende Haare peitschen wild um ihren Kopf. Der Wind scheint sie mit sich fortreißen zu wollen, zerrt ungestüm an ihrem nassen Kleid.
„Nina! Komm da raus!“, ruft er erneut. Diesmal lauter. „Du erkältest dich noch!“
Der wilde Tanz unterbricht jäh, Nina taumelt ihm entgegen.
„Was machst du denn hier?“, fragt sie keuchend. Ihre Brust bebt.
„Die Kinder kommen gleich nach Hause! Du musst aufhören damit!“, brüllt er gegen den Wind.
„Ach, ist es schon so spät?“, wundert sich Nina und sinkt erschöpft in Brunos Arme.
„Du musst unbedingt aufhören damit!“, wiederholt er und drückt sein Gesicht an ihren Hals. Er schmeckt ihren Schweiß und seine Tränen. Kann den kräftigen Herzschlag und die Wärme ihres Körpers spüren.
„Wir brauchen dich doch.“, wispert er.
Nina erstarrt, hält den Atem an. Die Haare wirbeln weiter um ihr vom Tanzen erhitztes Gesicht. Sie begegnet Brunos weichem, müdem Blick. Tränen steigen in ihr auf und sie muss sich mit dem Handrücken die Nase schnäuzen.
Bruno legt seine Jacke um sie beide, stemmt sich gegen den starken Wind, während sie nach Hause gehen. Die Kinder kommen bald.