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- 11.02.2002
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Tag X
Mein Name ist Fedorik Rathnin. Letzten Dienstag bin ich 47 geworden. Meine Frau heißt Mordena und wir haben einen Sohn, der den Namen Rohrgrot hat.
Von Beruf bin ich Busfahrer. Jeden morgen um 5.45 Uhr muss ich aufstehen, um pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Um 6.45 Uhr fährt der erste Bus der Linie 56 ausgehend vom Busbahnhof zum Krankenhaus. Die exakte Strecke verläuft über die Kastanienallee, vorbei an der Diskothek „Flashpoint“, durch die Borwend-Passage bis schließlich zum Krankenhaus.
Ich arbeite 4 Tage die Woche, sogar nachts.
Ich hasse meinen Job. Das Geschrei der Kinder morgens, das Geschrei der angetrunkenen Jugendlichen abends. Es ist jeder Tag, wie der andere. Morgen wird wie heute, heute ist wie gestern. Es ist einer der undankbarsten Jobs, die es gibt. Die Kommunikation zwischen Mitfahrern und Fahrer war früher besser. Es wurde gelacht, es wurde gegrüßt, man verabschiedete sich, und heute? Heute kann ich froh sein, wenn ich mal nicht belästigt oder verarscht werde.
Zu Hause ist es nicht besser. Der letzte Geschlechtsverkehr mit meiner Frau ist 15 Jahre (!!) her. Mein Sohn schämt sich für mich, weil ich nur ein einfacher Busfahrer bin und ihm nicht das bieten kann, was für sein Umfeld selbstverständlich ist. Ein Computer, den er sich so sehr wünscht, übersteigt meine finanziellen Mittel. Meine Frau bemüht sich nicht, ihm das beizubringen. Das überlässt sie lieber mir.
Mein ganzes Leben rauscht an mir vorbei. Ich fühle mich wie in einem Wachkoma. Im Fernsehen sind Menschen, die älter als ich sind, sich aber „topfit“ fühlen und sich mit lauter 25jährigen Frauen amüsieren. Früher habe ich Partys gefeiert, getrunken, gelacht und geflirtet. Der jetzige Höhepunkt meines Lebens ist das Bingo-Spielen an jedem dritten Samstag des Monats.
„Den Wille zum Leben habe ich bereits verloren, aber wenn ich gehe, dann lass ich es knallen.“ Das sag ich mir jeden Tag, aber wann dieser Tag kommen soll, das weiß selbst ich noch nicht.
Es ist gerade Sonntag, der 23. März als mein Sohn gerade mit seinen Freunden unterwegs ist. Ich gehe also in sein Zimmer, um zu gucken, was „die Jugend von heute“ (ich hasse diesen Ausdruck) so denkt und fühlt. Ich durchstöberte seine Kommode, seinen Schrank und seinen Schreibtisch in der Hoffnung ein paar Anhaltspunkte zu finden.
Doch was ich dann gefunden hatte, machte mich wütend. Ein Plastikbeutel voll Marihuana. Ich habe immer versucht, meinen Sohn von so etwas fern zu halten. Als Vater habe ich versagt.
„Oh man,“ denk ich plötzlich „ich bin wirklich alt geworden“. Früher war ich viel offener. Das ist genau das, was mich so verdammt alt gemacht hat: Ab einem gewissen Alter hab ich einfach aufgehört, mich auf neue Sachen einzulassen und bin bei dem geblieben, was mir immer gut gedient hat. Woher will ich wissen, ob dieses Zeug so schlecht ist?
Ich stecke den Beutel ein und gehe zum nächsten Tabakladen, um mir Blättchen zu kaufen.
„Ich geh noch mal Zigaretten holen....“ sage ich zu meiner Frau. „Ja ja.....“ sagt sie ohne den Blick vom spannenden Fernsehprogramm zu lösen. „Ich geh jetzt meine Geliebte ficken!“ hätte ich genauso gut sagen können. Der Unterschied wäre ihr nicht aufgefallen.
„Das ist wirklich der Hammer“, denke ich nach dem Rauchen. „Wow“. Während ich grinsend
durch die Fußgängerzone schlurfe, tut mir mein altes Ich richtig leid. Das ich so etwas nicht schon viel früher gemacht habe.
„Wo warst du?!“ fragt meine Frau als ich zur Tür hineinkomme. Sie hat die Arme in die Hüften gestemmt, wie sie es immer macht, wenn sie fürchterlich wütend ist. „Öööh, hab ich doch gesagt: Zigaretten holen oder hatte ich Geliebte ficken gesagt? Weiß ich jetzt auch nicht mehr so genau....“ „Du bist betrunken!“ sagt sie. Ich muss lachen. Scheiße. „Äh ja, ein bisschen. Ich hab n paar Kollegen getroffen...“. Brilliante Ausrede meinerseits. „Ich gehe jetzt ins Bett:“ sage ich, „ich muss morgen wieder fit sein.“
Der nächste Tag soll der Tag X sein. Am nächsten Tag lass ich es knallen.
Den Morgen im Bus überstehe ich, indem ich eine Kassette ins Tapedeck (in meinem Bus serienmäßig) stecke. Die Gruppe heißt „Die Arschficker“. Hab ich im Zimmer meines Sohnes gefunden. Die Kinder bekommen ihren Mund gar nicht mehr zu, als sie den Text hören. Ich selbst bin zwar etwas überrascht, was mein Sohn da für Musik hört, finde die Situation aber sehr lustig. Es befinden sich auch Mütter unter den Fahrgästen, die natürlich pädagogisch motiviert zu mir stürmen, um mir die Meinung zu geigen. „Ach, jetzt stellen sie sich doch nich ’ so an, das hören die Kinder eben heute. Mein Vater hat auch immer gesagt, dass meine Musik der letzte Scheiß sei. Seien sie mal ein wenig offener. Hier!“ sage ich und reiche ihr den Jointstummel hin, den ich während der Fahrt versteckt hatte.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass das eine Marihuana-Zigarette ist? Halten sie sofort an. Ich werde eine Beschwerde einreichen.“ sagt sie.
Ich gebe ihr 100 Euro und bitte sie die Beschwerde um nur einen Tag zu verschieben. Sie willigt ein. Hätte ich nicht gedacht.
Am Nachmittag steigt der Jugendliche ein, der es immer für besonders lustig hält, mich, den dödeligen Busfahrer, zu verarschen. Ich grinse als er und seine blonde Freundin einsteigen. „Was grinst du? Hass’ grad geschissen?“ fragt er. „Hihihi“ kommentiert seine Freundin.
„Ne, ich hab gerade mit dem Zuhälter deiner Mutter geredet. Sie sei zwar fleißig, aber doch ein wenig alt, sagt er.“ Mann, das sitzt. Er schwitzt, bekommt Panik. Jetzt muss etwas folgen, was meinen Witz noch topt. Er überlegt. „So, wir wollen dann weiter, meine Herrschaften“ sage ich. „Ach übrigens“ ich schaue seine Freundin an, „dein Gekicher hört sich an, als ob du nichts außer ficken kannst!“ Schachmatt. Er würde jetzt am liebsten losheulen. Das geht aber ja nicht. „Das wirst du noch bereuen!!“ schreit er und zerrt seine gekränkte Freundin mit aus dem Bus. Das Gelächter ist auf meiner Seite.
Na, ist das nicht der Hund, der immer vor unser Grundstück scheißt? Er ist es. Jetzt allerdings nicht mehr, nachdem ich den kleinen Umweg über den Bürgersteig gemacht habe.
Mir geht es richtig gut. Das ist es, was mir all die Jahre gefehlt hat: Grenzenlosigkeit.
Das Getuschel im Bus wird lauter. Einmal hör ich das Wort „besoffen“. Wahrscheinlich eine Anspielung auf den „Umweg“.
Da heute Montag ist, wird der Abend etwas ruhiger, weil niemand in die Disco geht. Schade eigentlich.
Ich fahre wie ein Wilder. Mit 100 Sachen geht es durch die Ortschaft. Die Leute fühlen sich, dank fehlender Sitzgurt, ein wenig mulmig. Das sehe ich. Über das Mikrofon mache ich lustige Kommentare wie auf dem Jahrmarkt. „Und ab dafür!“, „Voll die geile Sache!“ und was natürlich nicht fehlen darf „Wollt ihr noch mehr?“
Ich find mich richtig witzig. Scheinbar bin ich aber der Einzige. Der erste Fahrgast kotzt. Ein Student. Sieht man auf den ersten Blick. „Anhalten!“ schreit er, kleine Restbröckchen vor sich hin spuckend. „Sind ja gleich da, nu ma nich so zimperlich.“ Beruhige ich ihn.
Es fängt an wie aus Eimern zu regnen. Ich lasse die nächsten drei Haltestellen aus und sehe die fluchenden Fahrgäste an den Haltestellen im Rückspiegel. Tja, auch ein Busfahrer hat Macht.
Der Rest des Tages verläuft ähnlich.
Gegen Abend gehe ich zu meiner Chefin und kündige. Sie hat eine riesige Warze auf der Stirn und wenn man mit ihr redet, dann starrt man nur gebannt auf diese Warze. Da musste ich früher immer aufpassen, da mir mein Job schließlich ernst war. Heute nicht.
Ich nenne sie liebevoll „Wärzchen“ und benutze Redensarten wie „Warz ab“ oder „man muss die Warze beim Namen nennen.“
Sie findet das nicht so lustig und wirft mich raus.
Ich gehe nach Hause. Meine Frau hat gerade ihren Spiel-Abend mit ihren drei Freundinnen. „Mensch Agrid, hast du dich mit meiner Frau wieder versöhnt?“ frage ich in die Runde. Sie schaut mich ratlos an. „Na, Mordena hat erzählt, dass ihr euch gestritten habt, da du mir immer auf die Eier guckst, war es nicht so, Schatz?“
Ich sehe, wie die Adern an Mordenas Hals anfangen anzuschwellen. Sie macht das falscheste überhaupt: Sie fängt an zu lachen. „Hahaha, typisch Fedorik.....“
Ihre Freundinnen stehen jedoch kopfschüttelnd auf und zischen etwas wie : „Auf eine Freundin wie dich können wir verzichten, Mordena.“ Sie gehen.
„Ups“, sage ich zu Mordena „das wollte ich aber nicht.“
Ich glaube heute Nacht soll ich auf dem Sofa schlafen. Wenn es nach Mordena geht. Ich ziehe mir jedoch meine Jacke über und verschwinde.
Ich gehe durch die dunklen Straßen und resümiere den Tag. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Potential in mir steckt. Ich rauche einen letzten Joint. Eigentlich sollte das mein letzter Tag sein. Der Tag X. Dieser Tag hat mir allerdings die Augen geöffnet, wozu ich imstande bin. Ich denke über einen Neuanfang nach. Vielleicht in einem anderen Land?
Hinter mir ist plötzlich Geschrei. Es ist der Junge, der mich immer so schön verarscht hat. Heute hat er seine Packung bekommen. Es sind fünf Leute. So viel kann ich sehen. Ich fange an zu rennen, aber die Jungs sind natürlich schneller. Sie umkreisen mich. Es folgt der Standart-Spruch „Na sieh mal einer an....“. Sie sind betrunken. Scheiße. Der Junge zückt ein Messer. Jetzt würde ICH am liebsten heulen. Er sticht mir drei mal in den Bauch. „Bist du irre, du Wichser?“ schreien seine Freunde.
Ich liege am Boden und denke über mein Leben nach. Verdammt, tun die Wunden weh! Ich huste und sehe meinen eigenen Atem, so kalt ist es. Ich habe aber andere Probleme. Als es dunkel um mich herum wird, denke ich an Mordena und Rohrgrot. Ein schönes Leben war das.