Veteran
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Tödliche Hobbys – Radfahren
Da ist einer! Jochen nahm die Verfolgung auf. Der Umwerfer klackte, die Kette sirrte leise. Er bog auf die Hauptstraße ein, der andere hatte etwa zweihundert Meter Vorsprung. Das wollen wir doch mal sehen. Bedeckter Himmel, aber trocken; zweiundzwanzig Grad, leichter Rückenwind. Perfekte Bedingungen. Jochen nahm noch einen Schluck aus der Trinkflasche, dann gab er Gas. Seine Beine stießen auf und ab wie Motorenkolben, sein Atem ging regelmäßig, das Herz pumpte zuverlässig.
Jochen liebte sein neues, altes Hobby.
„Aus medizinischer Sicht habe ich nichts einzuwenden“, hatte der Arzt nach dem Check-up gesagt. „Im Gegenteil. Die zwanzig Jahre als Schreibtischtäter sieht man Ihnen zwar an, aber organisch ist alles in Ordnung. Nur übertreiben Sie es bitte nicht. Ich habe schon zu viele Männer in Ihrem Alter erlebt, die dann gleich für den Stadtmarathon trainieren mussten. Die Leute wundern sich dann, wenn nach ein paar Monaten die Knie hinüber sind. Ich habe auch“ – und dabei sah er Jochen eindringlich ins Gesicht – „schon mehrere Herzinfarkte gesehen wegen solcher Dummheiten. Also fangen Sie langsam wieder an, in Ordnung?“
„Radfahren vielleicht?“, fragte Jochen. „Das habe ich früher gerne gemacht.“
„Perfekt!“ Der Arzt strahlte. „Gelenk- und kreislaufschonend, frische Luft – genau richtig. Aber den Helm nicht vergessen!“
„Keine Sorge, Herr Doktor“, hatte Jochen geantwortet, „ich passe auf mich auf.“
Aber das hieß ja nicht, dass man nicht mit etwas gesundem Ehrgeiz an die Sache herangehen konnte.
Jochen holte auf. Es war früher Nachmittag, sein junger Gegner war vermutlich schon seit einigen Stunden unterwegs. Gut trainiert sah der Kerl aus. Waden wie Ankertrossen. Aber die leichte Steigung war ihm anzumerken. Die Tasche auf dem Rücken schien schwer zu sein; eher zwei Aktenordner als ein Schnellhefter. Jochen sah sich im Vorteil. Das würde ein guter Kampf werden.
Gibt es eine schönere Art, zwei Wochen Urlaub zu verbringen?
Seit der Scheidung fuhr Jochen im Sommer kaum noch weg, für Single-Eskapaden in Lloret de Mar fühlte er sich zu reif. Stattdessen verbrachte er die Ferien mit seiner wiederentdeckten Leidenschaft. Er hatte kein billiges Tourenrad aus dem Baumarkt mitgenommen, sondern im Netz recherchiert und sich im Fachgeschäft beraten lassen. Da hatte sich einiges getan seit seiner Studentenzeit. Eine Woche später nahm er sein maßgeschneidertes Rennrad in Empfang, professionelle Kleidung lag längst zuhause. Und ja, auch einen Helm hatte er passend ausgesucht; er war ja nicht lebensmüde. Mit einem Schmunzeln hatte er an seinen Hausarzt gedacht.
Eckermannallee. Die lange Gerade gab Jochen Gelegenheit, noch einmal nach der Trinkflasche zu greifen. Dann wieder Vollgas. Nur noch dreißig Meter.
Ein junges Paar mit Kinderwagen kreuzte den Radweg, ohne sich umzuschauen. Der Kurier schoss links vorbei, Jochen rechts. Die Frau kreischte, Jochens Kontrahent blickte über die Schulter zurück. Und sah ihn! Kopfschüttelnd wandte sich der Junge wieder nach vorn – und erhöhte das Tempo. Er hat noch Reserven! Jochen mobilisierte alle Kräfte, um mitzuhalten, der Abstand vergrößerte sich wieder.
Jochens Oberschenkel begannen zu brennen, seine Lunge ebenfalls. Dieser Gegner war härter als gedacht.
Als Sonja ihn vor die Tür setzte, war das ein Weckruf gewesen. „Du lebst nur für deine Arbeit“, hatte sie gesagt, „wozu hast du eigentlich Familie?“
Er hatte zu lange gebraucht, um zu verstehen, dass sie Recht hatte. Und dass sie es ernst meinte. Als die Papiere unterschrieben waren und er allein in dem Single-Apartment in der City saß, hatte er sich plötzlich alt gefühlt. Und müde, geradezu kränklich. Aber wenn er eine Stärke hatte, dann die, immer wieder aufzustehen. Und wenn er schon seine Ehe nicht mehr hatte retten können, dann wenigstens seine Gesundheit.
Anderthalb Jahre war das jetzt her, und Jochens Erfolge konnten sich sehen lassen. Er hatte elf Kilo abgenommen, fühlte sich fit, seine Arbeitsleistung war gestiegen. Und die anerkennenden Seitenblicke der jungen Assistentin bildete er sich bestimmt nicht ein. Aber in der Kanzlei fing er aus Prinzip keine Affären an, außerdem lastete ihn sein Sport momentan gut aus.
Wenn der Kurier jetzt in den Park abbog, würde Jochen ihn und das Rennen verlieren. Auf den Rasenflächen hätte das Mountainbike des anderen den Vorteil gegen Jochens Rennrad. Doch sie blieben auf der Straße und erreichten die Innenstadt.
Der Fahrradbote huschte über die rote Ampel an der Kreuzung Winterbergdamm. Jochen folgte ihm, erntete Bremsenquietschen und wütendes Hupen, ein BMW kam knapp neben ihm zum Stehen. Sein Gegner streckte den linken Arm nach hinten und hob den Mittelfinger. Du kleines Arschloch, dir werd' ich's zeigen! Jochen hätte es gerne laut herausgebrüllt, doch die Luft wurde ihm knapp. Als läge ein Stahlreifen um seine Brust, der ihn nicht richtig atmen ließ.
Wir bringen das zu Ende – auf die eine oder andere Weise. Wie durch einen Tunnel starrte Jochen auf den Hinterreifen des Widersachers und gab sein Letztes.
Jochen hatte seit dem ersten Tag andere Radler als Schrittmacher benutzt, aber nach wenigen Monaten waren die meisten von denen kein Maßstab mehr für ihn. Eines Morgens hatte ihn dann auf dem Weg zur Arbeit ein Fahrradkurier überholt, und Jochen hatte sich in die Pedale geworfen. Ein paar Kilometer weit hatten sie den gleichen Weg gehabt, der Bote musste offenbar ebenfalls ins Gerichtsviertel. Zum Glück hing in Jochens Büro immer ein Hemd zum Wechseln.
Ja, zuerst waren die Radkuriere noch zu schnell für ihn, das waren heutzutage Halbprofis. Als Jochen sich in seiner Studienzeit mit dem gleichen Job etwas hinzuverdient hatte, war das noch anders gewesen. Damals ging es allenfalls um Stunden, heute zuweilen um Minuten.
Aber Jochen wurde schnell besser, und jetzt konnte er mit vielen Fahrern gut mithalten. Es befriedigte ihn, die Kuriere einmal genauso zu jagen, wie sie ihn oft hetzten, wenn sie ihm dringende Schriftstücke zustellten, die er umgehend bearbeiten musste.
Fünfzehn Meter. Jochen fragte sich, was er machen würde, wenn er den Feind tatsächlich einholte. Der blickte noch einmal über die Schulter und Jochen glaubte ihn zwinkern zu sehen. Dann stieß der andere urplötzlich vom Radweg in den fließenden Verkehr, um die vierspurige Chaussee zu überqueren. Jochen folgte ohne Nachdenken.
Den Bus sah er zu spät. Ein Schatten neben ihm, ein tiefer Hupton, das Zischen von Druckluftbremsen. Jochen versuchte auszuweichen, prallte von der Flanke des Busses ab. Reifen quietschten. Sein Lenker verdrehte sich, das Vorderrad blockierte, Jochen sah die Stadt einen Purzelbaum schlagen. Er prallte hart auf eine Motorhaube und fiel von dort auf den Asphalt. Keuchend und mit geschlossenen Augen blieb er liegen.
Stimmengewirr. Hände an seinem Arm, seiner Schulter. „Geht's Ihnen gut?“ – „Alles in Ordnung?“ – „Können Sie sich bewegen?“ Das Licht war zu hell, als er die Augen öffnete, doch sehen konnte er immerhin. Jochen richtete sich vorsichtig auf. Die Hände halfen ihm. Er schien nichts zu geben, das ihm nicht wehtat, aber er konnte sich hinsetzen. Aufstehen. Gehen.
„Danke, es geht schon. Glaube ich.“ Nichts gebrochen? Unfassbar.
Weitere Stimmen. „Mensch, haben Sie ein Glück!“ – „Der muss einen Schutzengel haben.“ – „Ja, anders als der da.“ – „Hat schon einer telefoniert?“ – „Oh Scheiße, Scheiße, Scheiße ...“
Jochens Nacken war schmerzhaft steif, er brauchte ein paar Trippelschritte, um sich im Ganzen umzudrehen. Auf der Straße lagen zwei Fahrradwracks, der Rahmen des Mountainbikes war verdreht. Unter dem Bus ein Fahrradschuh in einem verschmierten roten Streifen. Eine Gruppe von Menschen verdeckte die Sicht auf das, was vor dem Bus lag.
Jochen wurde schwindlig. Er setzte sich auf die Bordsteinkante und lehnte den Kopf gegen die Knie. Aus der Ferne hörte er ein Martinshorn.