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Tödliche Einbildung

Beitritt
05.03.2013
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Tödliche Einbildung

Vor Jahren las ich in einer amerikanischen Provinzzeitung die Meldung, dass ein Mann auf dem Polizeirevier erschienen sei mit der dringenden Bitte, ihn zu verhaften. Er sei gerade dabei, wegen einer Erbstreitigkeit seinen Bruder umzubringen. Um das zu verhindern, möge man ihn zwanzig Tage einsperren, dann sei vielleicht die kritische Phase vorbei. Der Haftrichter weigerte sich, das zu tun, weil er ja nur begangene Straftaten bestrafen würde, nicht aber noch nicht geschehene: Wo käme man da hin?
"Ich soll also nach Hause gehen und meinen Bruder umbringen, wollen Sie das, Herr Richter?"
"Natürlich nicht, aber beruhigen Sie sich und gehen Sie zu einem Psychiater. Warum wollen Sie Ihren Bruder eigentlich umbringen?", fragte der Richter, neugierig geworden.
"Weil ich ihm zutraue, mich wegen des Streits umzubringen."
"Hat er sie bedroht?"
"Nein, das traute er sich nicht."
"Ja, wie kommen Sie dann darauf, dass Ihr Bruder sie töten würde?"
"Ich weiß es einfach. Wir kennen uns zu gut. Wir sind eineiige Zwillinge. Sperren Sie mich ein, Herr Richter."
Erneut packte Panik den Mann. Der Richter blieb bei seiner Weigerung.
Zwei Monate danach wurde dem selben Richter von der Polizei ein Mann wegen Mordes an seinem Bruder vorgeführt. Es stellte sich heraus, dass dies der Zwillingsbruder des Mannes war, der vor zwei Monaten vergeblich Hilfe von dem Richter erhofft hatte. Er habe seinen Bruder getötet, gestand der mordende Bruder, damit er von diesem nicht umgebracht werden würde. Ganz erleichtert sei er jetzt nach dem Tod seines Bruders, denn die vielen Jahre im Gefängnis seien geradezu eine Erholung verglichen mit der täglichen Erwartung, ermordet zu werden.
Gilt das für Kriege auch?

 

Hallo, mir gefällt deine Idee gut, aber ich denke, du könntest da mehr herausholen.
Es muss nicht gleich langfädig und psychologisch werden. Du kannst diesselbe Geschichte mit einem ausgearbeiteten Protagonisten erzählen und die Handlung realistischer machen.

Der Ich-Erzähler ist irgendwie überflüssig, wenn er so dünn in Erscheinung tritt. Ich würde ihn ausbauen oder weglassen.

Grüsse

 

Liebe Corinne,
vielen Dank für deine kritischen und positiven Worte.

mir gefällt deine Idee gut, aber ich denke, du könntest da mehr herausholen.
Es muss nicht gleich langfädig und psychologisch werden. Du kannst diesselbe Geschichte mit einem ausgearbeiteten Protagonisten erzählen und die Handlung realistischer machen.
Ich habe die letzten Stunden damit verbracht, mehr herauszuholen. Schon den Personen Namen zu geben, fand ich störend, weil es vom Allgemeinen ablenkt. Der Richter kannte die Eltern, auch das funktionierte nicht. Der Polizist ruft den Richter an, wirkt nur ablenkend. Nicht, dass meine Erzählung perfekt wäre, aber sie ist schroff. Wenn ich meine Absicht in Alltagssprache übersetze, könnte sie so lauten. Nur durch Hirngespinste, Angstphantasien, Visionen oder Wahrnehmungsverzerrungen entstehen Kriege, nicht aus rationalen Gründen. Kriege sind Wahnprodukte (wie der Mord in der Geschichte).

Der Ich-Erzähler ist irgendwie überflüssig, wenn er so dünn in Erscheinung tritt. Ich würde ihn ausbauen oder weglassen.
Auch das habe ich probiert. Es gibt drei Ebenen: die Brüdergeschichte, den Zeitungsbericht und den Lesebricht. So schafft dieser Vorspann Distanz zwischen Geschichte und Leser. Die würde ich gerne erreichen, weil man aus Distanz kritischer ist und die Geschichte hinterfagt. Für wie glaubwürdig halte ich eine amerikanische Provinzzeitung?
Vielen Dank für die Anregung
Frohe Weihnachten
Wilhelm
Friedel
Kommentar dauert noch-

 

Hallo Friedel,
du hast dankenswerterweise auf Kain und Abel hingewiesen, auf den Brudermord. Wie auch man den Umfang in der Bibel misst, er liegt bei 814 Zeichen (von mir ver-zählt). Meine Geschichte hat 2523 Zeichen, ist also dreimal so lang,
Mir scheint dieser Bibel-Text einfach, klar, eindringlich und spannend. Er gibt eine Grundstruktur des menschlichen Lebens vor: die Dreierbeziehung, aber auch die Herr-Knecht-Beziehung, das Liebesbedürfnis, die Frustration. Bei mir gibt es zwei Dreierverknüpfungen: Erbe/Eltern und zwei Brüder und zwei Brüder und der Richter. Mit wenigen Worten tut sich hier eine Welt auf, deren Ausgestaltung dem Leser offenbleibt, die er aber auch ausgestalten muss. In unserer Zeit würde man daraus einen 600 Seiten Roman schreiben mit dem Erfolg, dass der Leser genug zu tun hat, alle Ausstattungen des Autors mitzubekommen, um sich dann erschöpft erholen zu müssen. Manche Autoren stopfen die Leserhirne mit Wörtern so voll, dass sie wegen Überlastung abstürzen. Der horror vacui erzeugt Angst, die man im Wörtersee ertränkt.
Zu naiv: Natürlich ist naiv nicht natürlich, vielleicht kann man diese Rolle des Naiven damit beschreiben, dass er sich Denkblockaden auferlegt, um ein ruhiges Leben zu haben. Naiv, das ist: Nun stellen wir uns mal dumm (und bleiben dabei).
Gilt das für den Erzähler in meiner Geschichte? Man fragt sich, warum erzählt er von einem Erlebnis bei der Lektüre einer amerikanischen Provinzzeitung? Er ist also doch kein naiver Erzähler, der die Story distanzlos als „Wahrheit“ erzählen würde. Dieser mein Erzähler ist Skeptiker, der die Quelle einer „unerhörten Begebenheit“ angibt. Ob er die Geschichte glaubt oder nicht, weiß man nicht.
Man weiß nur, dass sie ihm merk-würdig vorkommt.
So viel Worte um eine kleine Geschichte?
Ist die Geschichte kurz, eröffnete sie die Chance zur lebendigen Diskussion bzw. Reflexion.
Nun will ich den Heiligen Abend nicht unbedingt ganz bei den Wortkriegern verbringen und wünsche dir und allen- nein, nicht „Wortkriegern“. sondern „Wortpflegern“ ein frohes Fest.
Fröhlichst
Wilhelm Berliner

 

„ Also, wat is en Dampfmaschin?
Da stelle mer uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat
is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch,
dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später«,​

tut Paul Henckels in gespielter Naivität in der Rolle des Physikus in der Verfilmung der Feuerzangenbowle Spoerls. Und ich begreif beim besten Willen nicht, wie Herr S. in Deiner Geschichte den oder das Naive erkannt haben will,

lieber Wilhelm.

Dein Aufruf/Vergleich

…, nicht „Wortkriegern“, sondern „Wortpflegern“ ...
erinnert mich an an meinen umstrittenen Blog seinerzeit zur Umfirmierung von „Kurzgeschichten.de“ zu „Wortkrieger", eine Komposition wie geschaffen für den hierorts dann doch unerwünschten Polemiker (pólemos = Krieg), wo dann für die Verletzten eine Pflegestation eingerichtet wird und ein Lazarett (ital. lazzaro = aussätzig, Aussatz), keineswegs der auferweckte Lazarus quasi die Verbannten aufnimmt. Schwamm drüber! Das Verb „kriegen“ hat zwo Bedeutungen, die gegensätzlicher nicht sein können, schon im mhd. „kriegen“ als „Krieg“ führen" (aber auch „sich anstrengen“ / „streben nach“), als auch das verkürzte mhd. (er)krīgen = strebend erlangen, erringen zur heutigen Vielfalt der Bedeutungen von (ab)bekommen bis (sich etwas) zuziehen.

Aber wer was mitkriegt, wird sich selten als Krieger bezeichnen, selbst wenn er als Krieger schon mal was abkriegt, ganz im Sinne Biermanns („wer sich nicht in Gefahr begibt, ...)

Ja, die leidige Geschichte der verfeindeten Brüder („Feindliche Brüder“ werden auch zwei benachbarte Burgruinen mit entsprechender Mär in der Nähe von Kaub genannt, ebd., wo Blücher mit seinen Truppen den Rhein querte, um Wellington gegen Bonaparte beizustehen.) Immer geht’s um die Gunst eines Dritten, trage er nun einen großen Namen oder (ver)heiße er/es Macht und Erbe.

Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft zeigt sich schon im Kleinsten, wenn das Mündel Vormund, das Kind groß sein will und dann als (vllt. wieder entmündigter) Alter schließlich singt, man müsse nochmals zwanzig sein.

Der Mensch auf der Bühne/am Rednerpult/vor der Kamera will dem Publikum gefallen.

Naivität hat, so weit sie nicht gespielt ist, mit Beschränktheit zu tun, die sich durch was auch immer blenden lässt. Lassen wir uns nicht in Kürze von den Böllern und Raketen blenden. Der Lärm sollte wohl ursprünglich die bösen Geister vertreiben. Möge das Gaukelspiel sie nicht geradezu anziehen!

Guten Rutsch wünscht der

Friedel

 

Hallo Wilhelm,

ich mag kurze KGs, aber ich glaube, es wäre schöner gewesen, wenn diese Geschichte ein wenig länger gewesen wäre. Ich kriege ja gar nichts von den Figuren mit, kann also auch nicht mit ihnen mitfühlen oder mich mit ihnen identifizieren.
Ich frage mich auch, warum der Polizist halt wirklich gar nichts macht, wenn ihn ein Mann in sichtlicher Lebensangst besucht.
Ich denke, du hast eine Parabel geschrieben mit schönem Lehrsatz.
Aber wenn die Story so dünn ist und wenn die Figuren so oberflächlich sind, dann haut mich auch nicht der Lehrsatz von den Socken.
Ich hoffe, ich war jetzt nicht zu harsch zu dir :)

LG,
alexei

 

Lieber Friedel,
richtig erinnerst du, in tempore belloren, an die Geschlechtsumwandlung von Kurzgeschichte zu Wortkrieger. Wir haben vielleicht damals die Weisheit des Neunamen nicht verstanden. Aber im Zeichen von postfaktisch, präfaktisch, subfaktisch usw. vermehren sich die Kriegsschauplätze der Wörter enorm. Da kämpft doch die „größte humane Tat der Weltgeschichte“ gegen das „abscheulichste Kriegsverbrechen“. Wer das gewinnt? Sterben tun dabei die Menschen immer. So kämpft das Faktische gegen das Postfaktische, das Grenzüberwindende bekämpft das Eingrenzende, und immer ziehen die Wörter ihre Leichen mit sich.
Was hat das mit meiner Geschichte zu tun? (sonst Themaverfehlung)
Thema ist Wort und Angst: Im Anfang war die Angst , und die Angst war das Wort und das Wort war Gott? (freie Variation). Der Krieg der Kulturen ist ein Krieg der Wörter, Pech, dass Menschen an den Wörtern kleben. Würden sie ihr Maul halten, ging‘s besser.
Aber Schluss mit der Nostalgie: Wo ist Kain? Ich sehe ihn nicht? Wo ist Abel? Abel sind wir alle.
Und wir hören Gott sprechen siehe oben, und Gott sind wir selber und wir machen uns unser eigenes Bildnis und glauben daran. So bildet der Bruder sich ein, Bruder A wolle ihn ermorden, was ja auch stimmt. Aber Einbildung ist noch nicht Handlung. Aber der eine tut‘s, der andere nicht. Ist die Stärke der Angst bestimmend? Wo liegt der Wendepunkt?
Ach ja, hätte ich eine längere Geschichte geschrieben, wüsste ich es. So muss ich raten und mir die Arbreit des Vorstellens selber machen, nur weil der Erzähler ein fauler Hund ist.Dir künde ich meine Freude darüber an, dass mein siebenhundertster Beitrag an dich gerichtet ist.
Rutsch gut und flieg nicht hin
Wihelm

 

Liebe Maria,

Geh zur Polizei und sag, dass du vorhast, deinen Bruder umzubringen und die werden dann sagen: „Na, wir sperren dich nicht ein. Geh nach Hause.“
Jeder Polizist oder Richter hätte ihn sofort in die Psychiatrie verfrachtet. Kein Richter hätte ihm empfohlen, kurz bei einem Psychiater vorbeizuschauen.
Das mag schon sein. Richter in deinem Sinne meinte ich nicht. Es ist keine realistische Geschichte mit Dienstweg und so. Ohne Friedels ausführliche Wortreflexionen zu machen, scheint mir das Verb richten doch eine sehr vieldeutige Auslegung zuzulassen. Ein Richter kann auch im Sinne von Ratgeber verstanden werden, eine Rolle, die der Bruder erhofft haben könnte, die der Richter ebenso wie der Polizist, dein Freund und Helfer, verweigert.

Gilt das für Kriege auch?
Lieber @Wilhelm Berliner,
ich verstehe, was du damit meinst. So eine Pointengeschichte, so kurz wie ein Witz, der einem zum Grübeln bringen soll, aber wenn ich schon gleich am Anfang deinem Richter jede Glaubwürdigkeit abspreche, funzt der Rest bei mir nicht. Aber die Botschaft ist interessant, die Idee auch, ich hätte mir nur gewünscht, du hättest das besser verpackt. Vor allem in die Länge gezogen. So bleibt es eine Pointengeschichte, dessen Botschaft mich in diesem Moment zwar berührt, aber fünf Minuten später werde ich alles vergessen haben, da die Geschichte nichts sonst bietet, das sich irgendwie in mich hinein brennt.
Friedel hat Kain und Abel ins Spiel gebracht. Ein Stück Weltliteratur. Nicht dass ich mein Stückchen damit vegleichen will. Aber auch hier kann man die Rolle von Gott/Richter anzweifeln, der einfach Sympathien vergibt, willkürlich. Das Argument Kürze/Länge sticht nicht. Mich bringen deine Überlegungen, wenn das Stück nicht funktionieren sollte, auf die Idee, dass es zu komplex ist. Nur die Rolle des zweiten Bruders darzustellen, wäre wirksamer, weil einfacher und überschaubarer.
Vielen Dank für die Idee.
Fröhlichst
Wilhelm
LG

 

Hallo Alexej,

Ich hoffe, ich war jetzt nicht zu harsch zu dir
Wie schon gesagt, du bist auf Wortkrieger, da kann man schon zur Sache reden, aber auch gegenreden. Beleidigtsein ist hier nicht am Platz. Insofern, keine Sorge, für mich ist harsch anders.

ich mag kurze KGs, aber ich glaube, es wäre schöner gewesen, wenn diese Geschichte ein wenig länger gewesen wäre. Ich kriege ja gar nichts von den Figuren mit, kann also auch nicht mit ihnen mitfühlen oder mich mit ihnen identifizieren.
Genau das war meine Absicht. Du sollst die Schemen mit deinem Erleben füllen.
Ich frage mich auch, warum der Polizist halt wirklich gar nichts macht, wenn ihn ein Mann in sichtlicher Lebensangst besucht.
Bürokraten können herzlos- oder nicht zuständig sein.
Ich denke, du hast eine Parabel geschrieben mit schönem Lehrsatz.
Lautet der Lehrsatz: Konflikte/Verbrechen entstehen aus eingebildeten Gründen?
Aber wenn die Story so dünn ist und wenn die Figuren so oberflächlich sind, dann haut mich auch nicht der Lehrsatz von den Socken.
Dazu siehe die Anmerkungen oben zu Kain und Abel.
Vielen Dank für deine Hinweise
Fröhlichst
Wilhelm

 

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