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Submodus
„Herrgott, nicht den Neunzehner. Den Siebzehner! Ich hab M10 gesagt, verdammt noch mal.“
„Sorry, Gloria, mein Fehler.“
Sie könnte ihn erwürgen. Nicht genug damit, dass sie kopfüber und elend verrenkt in dem engen Lüftungsschacht hängt, ihr der Schweiß in den Augen brennt und der Ölgestank sie beinahe kotzen lässt, nein, dieser Fettwanst ist auch noch zu dämlich, ihr das richtige Werkzeug zu geben. Als wäre das weiß Gott was für Wissenschaft. Was Kurt im Install-Team verloren hat, ist Gloria ein Rätsel.
Endlich erscheint er wieder in der Öffnung über ihr und sie hört ihn schnaufen, als er den Oberkörper hindurchzwängt. Er beugt sich so weit es geht runter, streckt den Arm aus und sie spannt die Bauchmuskeln und reckt sich ihm entgegen. Er nimmt ihr den falschen Schraubenschlüssel ab und reicht ihr den passenden. Doch bevor sie ihn richtig zu fassen bekommt, lässt Kurt ihn schon los und das Ding scheppert in die Tiefe.
„Mann, ich dreh noch durch mit dir, echt!“, brüllt Gloria. „Verfluchte Scheiße, Kurt! Und jetzt? Soll ich die Schraube abbeißen oder was?“
„Äh, eine Rohrzange haben wir noch. Soll ich sie dir geben?“
„Hast du eine bessere Idee? … Und binde sie um Himmels Willen wo fest. Oh Gott, oh Gott, lang halt ich‘s da nicht mehr aus.“
„Äh … ich hab keine Schnur.“
„Dann nimm deine Scheißschnürsenkel oder reiß dein Scheißhemd in Streifen, Herrgottnochmal! Benutz bitte einmal deinen Verstand. Einmal nur, Kurt, bitte!“
Gloria spürt, dass sie knapp dran ist, schlappzumachen. Sie kann einfach nicht mehr, sie ist am Ende. Es hat doch sowieso keinen Sinn. Was können sie denn gewinnen? Eine Stunde? Zwei? Und wozu? … Oh Gott, es wäre so einfach. Sie bräuchte nur ihren linken Fuß ein wenig zu drehen und unter dem Rohr hervorzuziehen, hinter dem sie ihn verklemmt hat, und dann die abgewinkelten Beine zu strecken. Auf einen Schlag wäre dieser Alptraum vorbei … sie würde den Schacht hinunterschlittern wie als Kind die Wasserrutsche im Schwimmbad, kichernd, jauchzend, vor Angst und Spaß kreischend, schneller und immer schneller, und schließlich … ja, und schließlich von den riesigen Rotorblättern zerfetzt werden. In Sekundenbruchteilen. Zuerst der Kopf, dann alles andere. Alles. Ihr Körper, ihr Geist, ihr Ich. Ihr ganzes Wesen. Ausgelöscht und weg. Sie braucht sich nur fallen zu lassen, wäre das nicht das Allereinfachste? Sich fallen lassen in einen barmherzigen Tod, in einen tiefen, traumlosen Schlaf und dieser Wahnsinn hätte ein Ende, keine Schmerzen mehr, keine Angst, kein grauenvolles Ding, einfach nichts …
Aber was wäre mit Kurt? Kann sie den einfach so zurücklassen? Er ist ihr keine große Hilfe, das nicht, aber immerhin ein lebendiger, fühlender Mensch, und ja, irgendwie mag sie ihn, diesen stets freundlichen Tollpatsch. Der arme Hund könnte ihr das nicht einmal nachmachen, der bliebe vermutlich in der Röhre stecken und säße dann in der Falle wie ein Karnickel, könnte nicht mehr tun, als zu warten, hilflos zu warten auf das Ding …
Nein, noch ist sie nicht so weit, noch klammert sie sich ans Leben, schon Kurt zuliebe. Nicht, dass sie auf Ebene 7 in Sicherheit wären, aber zumindest würden sie Zeit gewinnen. Ein bisschen Zeit zum Durchschnaufen, zum Atemholen, zum Nachdenken. Und wer weiß, vielleicht funktioniert ja die Com-Unit da unten tatsächlich noch. Theoretisch sollten die Notstromaggregate gut achtundvierzig Stunden durchhalten. Bitte, Mädchen, reiß dich zusammen, du schaffst das, nur die eine Schraube und die Luke ist offen … sie muss bloß diesen einen Bolzen aufkriegen, ein Witz in Wahrheit. Hat sie nicht schon mit fünfzehn die Honday ihres Bruders zum heißesten Bike der Stadt gemacht? Nur um sich jetzt von einem lächerlichen M10-Gewinde in die Knie zwingen zu lassen? Von einer mickrigen Schraube? Ist sie eine Heulsuse oder eine Mechanikerin?
„Wird das jetzt noch was mit der Zange?“, brüllt sie.
„Gib ihr noch ein bisschen vom Puertiamin. Nicht viel, so circa … pff, was weiß ich, so nullzwei, nullzweifünf. Und am Neurozwei-Tuner gehst du auf achtzehnvier.“
„Lass es gut sein, Herbie, bitte. Die Kleine dreht uns gleich durch.“
„Komm, mach schon. Die packt das, da bin ich mir sicher. Die hat’s echt drauf.“
„Du spinnst, Herbie, echt. Erinnere dich, wie’s den Hormayer damals auf Level zwölf zerbröselt hat … Mann, ich darf gar nicht dran denken.“
„Jetzt mach schon.“
„Okay, du bist der Chef. Aber sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
„Kommt gleich. Hab sie an meinen Gürtel gehängt.“
„Du bist ja doch ein Genie, Kurt, ich wusste es.“ Gloria verdreht die Augen.
Dann lässt ihr das Genie die Rohrzange runter … und prompt löst sie sich von der Gürtelschnalle. Bevor Gloria die Hände hochreißen kann, knallt ihr das Ding ins Gesicht, genau aufs Jochbein, und schlägt ihr die Lippen auf, aber mit einem irrwitzigen Reflex gelingt es ihr, die Zange mit dem Unterarm an die Schachtwand zu pressen. Sie schnappt nach Luft. Das letzte Werkzeug, ihre allerletzte Chance! Blut rinnt ihr über die Wangen in die Augen und weiter über die Stirn und sie wimmert vor Schmerz. Werd jetzt ja nicht ohnmächtig, Mädchen, bitte, und pass auf die Zange auf. Oh Gott oh Gott, ich seh nichts mehr. Jetzt schluchzt und weint Gloria wirklich. Sie wischt mit der freien Hand Blut von den Augen und heult auf, als sie dabei den zertrümmerten Wangenknochen berührt. Das war’s, denkt sie, jetzt sind wir hin. Oh Gott, ich kann nicht mehr ... sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie Blut und Tränen sich mischen, über ihre Stirn fließen und von den Haarspitzen ins Leere fallen, glitzernde Tropfen, die der Luftzug der Ventilatoren zerstäubt und in den stählernen Eingeweiden der Luna verteilt. Sie stellt sich den feinen, roten Sprühnebel vor, wie er durch die Lüftungsgitter in die verwüsteten Decks strömt, rosafarbene Wolken, die alles umhüllen und die Wände färben, so rosa wie die Wände ihres Kinderzimmers ... rosa Wände und darauf rosagerahmte Fotos von Ponys und Katzen. Und darunter das Bett mit der Überdecke, die ihr die Oma aus Seidenflicken genäht hat, rot, lila und golden, und die sie sich morgens immer übers Gesicht zieht, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihre Augen treffen. Durch den dünnen Stoff betrachtet sie die Sonne und die ist nicht mehr als ein Lichtfleckchen, nur ein sanftes Glimmen, mal rot, mal blau.
Sie hüpft aus dem Bett und schlingt sich das Seidentuch um die Schultern. Ich bin eine Prinzessin, singt sie, und wo ist mein schöner Prinz? Charlie, mein Liebling, wo bist du? Sie tänzelt auf den Balkon hinaus.
Charlie, Charlie, ruft sie in den Garten und dann sieht sie den Kater auf sich zukommen, zögerlich stakst er durchs taunasse Gras.
Meine Güte, Charlie, was bist du wasserscheu … ich komm gleich runter zu dir, mein Süßer, und dann gibt's Frühstück.
Sie lässt sich fallen.
„Mist. Ich glaub, wir verlieren sie. Runter mit dem Neurozwei, schnell. Mindestens auf zehn. Und dann abbrechen.“
„Wenn’s die so arg wie den Hormayer erwischt hat, bring ich dich eigenhändig um, Herbie, ich schwör’s dir.“
„Jessas, Lou, jetzt scheiß dich nicht gleich an. Ein paar Stunden im RehaModus und sie ist so gut wie neu. Die Kleine ist ein Wahnsinn, die steckt so was weg wie nix, glaub mir.“
Charlie springt auf die Gartenbank und leckt sich das Fell.
Komm her, Charlie … miez miez miez … jetzt komm schon, du Angsthase. Die paar Wassertröpfchen wirst du überleben.
Der Kater maunzt kläglich. Kurzerhand läuft Gloria zu ihm und hebt ihn hoch.
Bist du etwa aus Zucker, ha?
Seine Schnurrhaare kitzeln ihre Nase.
Ich hasse nasses Fell, das weißt du, knurrt Charlie und haut ihr die Krallen in den Unterarm.
„Spinnst du?“, schreit Gloria und reißt die Augen auf.
„Ganz ruhig, Gloria … alles okay, du bist wieder raus. Alles okay, Mädchen, ganz ruhig.“
Gehetzt blickt Gloria um sich. „Lou? … Mann, bin ich froh … diesmal dachte ich echt … pff.“
„Ganz ruhig … entspann dich, Gloria … alles ist gut.“
Sie sieht ihm zu, wie er mit Leukoplast die Kanüle an ihrem Unterarm fixiert, dann schließt sie wieder die Augen.
„Oh Gott oh Gott, diesmal hat’s mich aber ordentlich erwischt. Scheiß Level zwölf. Nie schaff ich den.“
„Verdammt, Gloria, du warst echt gut, ehrlich. So weit wie du ist noch niemand gekommen. Na ja, und das mit der Rohrzange … jessas, das war richtig fies. Hat Herbie erst vorgestern reingeschrieben.“
„Mann, was für’n Arsch. Wahrscheinlich findet der das noch lustig.“ Mit den Fingerspitzen tastet sie über ihr Gesicht. „Ich hab wirklich geglaubt, das war’s jetzt … aber weißt du, Lou, was mich am meisten fertiggemacht hat?“
„Na ja, die Schmerzen, nehm ich an.“
„Nein, die gar nicht so … aber wie mir das Ding in die Fresse fliegt, da spür ich plötzlich mit der Zunge, dass zwei Zähne ausgeschlagen sind … ich mit einer Zahnlücke, stell dir das mal vor. Also da musste ich echt heulen. Da war’s vorbei irgendwie. Da konnte ich nicht mehr.“
„Ja, um dein hübsches Lächeln wär’s jammerschade.“ Lou grinst sie an, dann dreht er sich um und hantiert am Infusionsbeutel. „So, meine Kleine, jetzt schläfst du dich erstmal aus. Hast es dir verdient.“
„Was anderes noch, Lou. Was hatte denn das Scheißviech da drin verloren?“
„Hehe, das war Ripley.“
„Ripley?“
„Genau, Ripley. So nennt Herbie sein jüngstes Baby. Wie diese Tussi aus Alien. Du weißt ja, er hat‘s mit diesen alten Filmen.“
„Ja, okay, aber ich mein, was hat denn so ein schleimiges Kriechtier mit unserem Training zu tun? Fliegen wir zum Mars oder nach Hollywood?“
„Na ja, Herbie fand‘s halt witzig. Kennst ihn ja. Und er meint, dass es ja eigentlich egal ist, womit wir euch da drin den Stress machen, oder? Hauptsache, ihr scheißt euch vor Angst in die Hose. Und da hat er ja irgendwie recht.“
„Mann, ihr spinnt doch. Und was sollte der Scheiß mit Ebene 7? Die gibt’s auf der Luna doch gar nicht. Findet ihr das auch witzig? Was hat denn das mit Evakuierungstraining zu tun? Echt jetzt.“
„Schau, Gloria, es geht doch ums Improvisieren. Jeder Situation gewachsen sein und so. Sich nicht einfach sagen können: Okay, kenn ich eh alles, da vorn muss ich zweimal links, und dann über den Laufsteg rüber und dort ist die nächste Com-Unit und dort der Feuerlöscher, nullo Problemo ... ihr müsst flexibel sein, verstehst du? Sonst könntet ihr ja gleich durch die echte Luna rennen und Fangenspielen.“
„Na ja, ihr müsst es ja wissen … und was wäre hinter der Luke gewesen?“
„Ebene 7.“
„Ja, Lou, schon klar. Aber was ist auf Ebene 7?“
„Keine Ahnung, Gloria, ehrlich, ich weiß es selber nicht. Herbie hat‘s mir noch nicht verraten. Er nennt es seinen Joker. Sein As im Ärmel. Damit hat er mich an den Eiern, sagt er.“
„Was heißt, er hat dich an den Eiern?“
„Na ja, momentan lieg ich nämlich noch in Führung. In der letzten Sequenz hat er ja keine Credits gekriegt, das war quasi ein Streichresultat. Die Regeln sind ein bisschen kompliziert, musst du wissen. Fast so arg wie beim Baseball irgendwie.“
„Verarscht du mich, Lou? Ihr spielt?“
„Also spielen würd ich’s nicht unbedingt nennen. Steckt schon verdammt viel Arbeit drin.“
„Ihr seid verrückt. Ich glaub‘s nicht.“
„Na komm, Gloria, was meinst du wie langweilig uns hier unten ist ... ich mein, ihr anderen haut euch alle zwei Wochen für ein paar Tage in den SubMod, aber seit der Hormayer ausgefallen ist, machen wir zwei Idioten hier fast rund um die Uhr Dienst.“
„Was redest du da für Scheiß? Ihr seid doch zu sechst hier beim Simulator. Was ist mit Team 2? Mit Milo und Theo und Jorge?“
„Äh ... na ja, die sind krank ... sozusagen.“
„So ein Blödsinn. Das wüssten wir doch alle. Und erst recht die zu Hause. Die drei können sich ja nicht einfach aus dem MedData ausgeloggt haben.“
Lou grinst sie an. „Wer überwacht denn das MedData, Gloria, ha?“
„Na das MetaB.“
„Richtig. Und das MetaB?“
„Blöde Frage. Das MainMasterSystem natürlich.“
„Kluges Mädchen. Und wer, meinst du, ist seit sechs Wochen im MainMaster drin?“
„Mein Gott … das ist nicht euer Ernst.“
„Doch, hehe … war Herbies Idee. Der Hund hat’s tatsächlich geschafft, den BetaCode zu knacken. Noch vor dem Abflug, wie wir uns da wochenlang auf der Mondbasis den Arsch wund gesessen haben. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hat. Mit irgendwelchen Ableitungen aus den Messiere-Rosenzweig-Gleichungen, glaub ich. Er hat‘s mir mal erklärt, aber wirklich kapiert hab ich‘s nicht.“
„Lou, bitte. Sag mir, dass du dir das alles gerade ausdenkst.“
„Nö. Stimmt hundertpro.“
„Aber das muss doch wer merken.“
„Wer denn?“
„Na alle. Die MBasis, Henniger, das ganze Team halt.“
„Wieso? Die Statusmeldungen sind ganz normal, vollkommen unauffällig. Immer alles bestens. Nix Houston, wir haben ein Problem. Nein, nein, das hat Herbie voll im Griff. Hehe, der Typ ist echt ein Genie.“
„Aber zumindest Henniger muss doch was checken.“
„Das hörst du jetzt vielleicht nicht gern, Gloria, aber … tja, der Alte pennt seit drei Wochen im SubMod … also in Wahrheit pennt eigentlich nicht nur der Käpt’n, sondern die ganze Besatzung.“
„Was? Ich hab doch noch gestern mit Henniger gesprochen.“
„Du meinst gestern vor drei Wochen, Liebes. Du warst jetzt nämlich drei Wochen in der Sim. Also in der Sim im SubMod. Im SimSubMod quasi. Oder sagt man SubModSim? … ach scheiß drauf, du weißt schon was ich meine.“
„Heißt das … oh mein Gott! Lou … ihr habt die Luna gekapert?“
„Kann man so sagen.“
„Lou, bitte, warum macht ihr das?“
„Na ja, wir finden‘s witzig irgendwie. Und Herbie meint, dass es eine Schande wäre, wenn man so eine megageile Kiste nicht voll am Limit fährt … komm, Gloria, schlaf jetzt ein bisschen. Ich muss noch nach Kurt schauen. Träum was Schönes, mein Engel.“