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- 07.01.2018
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Sturmfrei
Ich will Tageslicht ins Zimmer lassen, ziehe die Vorhänge weiter auf. Heller wird es dadurch nicht. Vor dem Fenster liegen Dünen im Dunst, Regentropfen rinnen die Fensterscheibe herab.
Vom Flur höre ich das Trappeln kleiner Füße, Lotta erscheint in der Wohnzimmertür, die Hände zu Fäusten geballt, schreit: »Isa!«
»Lotta, ich bin ja hier.«
»Wo ist Mama?«
»Weißt du doch. Spazieren.«
Ich ziehe sie an mich, sauge den Erdbeershampoo-Geruch ein, und wir spähen aus dem Fenster, hinaus in den Regen. Der Wind jagt vom Meer über die Dünen, zerzaust das Schilf. Trollhaar hat Papa dazu gesagt. Der Leuchtturm hebt sich als Scherenschnitt gegen den Himmel ab, dunkel, riesig.
Lotta reißt sich los. »Wann fahren wir nach Hause?«
»In fünf Tagen geht die Schule wieder los«, sage ich.
Sie funkelt mich aus dunklen Augen an. »Ich will nach Hause.«
»Ich weiß. Ich auch.«
»Mir ist langweilig.«
»Willst du was spielen?«
Ich räume Malefiz zurück in die Schublade unter dem Fernseher. Der DVD-Player zeigt die Uhrzeit an — kurz vor fünf. Wieder wandert mein Blick aus dem Fenster.
Irgendwann wird eine Gestalt im rosafarbenen Regenparka auf den Dünen auftauchen, am Leuchtturm vorbei auf unser Ferienhaus zulaufen. Irgendwann am Abend, so wie die letzten vier Tage.
Ein Scheppern schreckt mich auf. Ich fahre hoch, renne auf den Flur. Lotta nimmt die Küche auseinander. Bestimmt stapelt sie wieder Töpfe auf dem Fußböden. Den Ruf habe habe ich schon auf den Lippen — Lotta, lass das! Doch im Vorübergehen fällt mein Blick auf die Garderobe, auf das blasse Rosa.
Ich bleibe stehen, erstarre. Strecke dann die Hand aus, greife nach dem glatten Stoff. Mamas Parka hängt noch hier.
Ich schlucke, atme tief ein. Mit der Hand fahre ich in die linke Tasche des Parkas, ertaste Mamas Portmonee. In der anderen Tasche finde ich ihr Handy. Ich lecke über meine trockenen Lippen.
Erst jetzt nehme ich die Stille wahr, sie drückt auf meine Ohren. Das Scheppern ist verstummt. Ich hebe den Kopf und erblicke Lotta in der Küchentür. Sie starrt Mamas Jacke an.
Ich öffne den Mund, aber ich brauche einen Moment, um Worte zu finden. Dann höre ich mich sagen: »Wir sollten schon mal kochen.«
Fernsehflackern erhellt das Wohnzimmer, und ich schlage die Augen auf, blinzele in das bleiche Licht. Lotta bewegt sich im Schlaf, umklammert das Sofakissen, tritt gegen mein Schienbein. Auf dem Couchtisch stehen die Teller, soßenverschmiert. Lotta schmatzt, doch ihre Augen bleiben geschlossen. Im Fernsehen läuft Werbung, diese Art von Werbung, die Papa immer aus den TV-Aufzeichnungen rausgeschnitten hat. Ich setze mich auf und schalte den Fernseher aus.
Barfuß schleiche ich auf den Flur. »Mama?«, flüstere ich.
Die Tür zu Mamas Schlafzimmer ist geschlossen. Leise drücke ich die Klinke herunter, spähe in den Raum. Das Bett gemacht, unberührt. Kein Geräusch, bis auf das Prasseln des Regens und das Rauschen der Wellen vor dem Fenster.
»Mama?« Als hätte sie sich vielleicht in irgendeiner Ecke versteckt. Als hätte ich nicht gesehen, dass das Zimmer verlassen ist.
Ich trete ein, nähere mich dem Fenster. Draußen herrscht Finsternis. Nichts zu sehen, nicht einmal der Schatten des Leuchtturms. Ein Blitz jagt über den Himmel, für einen Moment sind die aufgewühlte See, die Schaumkronen auf den Wellen, die rasenden Wolken in grelles Licht getaucht. Dann wieder Finsternis.
Auf dem Nachtschrank eine Packung Taschentücher, der Wecker, ein Pillendöschen. Das Foto von Papa, das immer auf ihrer Seite des Bettes stand, hat sie jedes Mal mit in den Urlaub genommen, aber jetzt ist es weg. Ich weiß nicht, wo sie es hingeräumt hat.
Mama hat geweint, als Papa seine Sachen gepackt hat. Lotta und ich waren im Wohnzimmer eingeschlossen, haben das Schluchzen und die Flüche durch die Tür gehört. Sie hat zu Papa gesagt, wir wären nicht zu Hause.
Zurück im Wohnzimmer kuschele ich mich an Lotta, schließe die Augen. Doch das Prickeln unter meiner Haut hält mich wach, der Donner, das Prasseln des Regens auf der Fensterscheibe. Wie ein Klopfen von draußen. Ich lausche, hoffe auf das Klicken der Haustür, Schritte auf dem Flur.
Da! Ein Geräusch. Oder?
Ich setze mich auf. »Mama?«
Nichts.
Vor dem Fenster wirbeln Schatten, etwas will herein. Vielleicht auch nur der einsame Baum am Rande des Grundstücks. Hat Mama wenigstens einen Schlüssel mitgenommen?
»Isa?«, flüstert Lotta.
Ich umklammere ihre Hand. Wo kann Mama hingegangen sein? Bei dem Wetter? Ohne Jacke? Das nächstgelegene Gebäude ist der Leuchtturm.
Ich springe auf, ziehe Lotta hoch. »Wir müssen gehen. Ich weiß, wo Mama ist.«
Wir hätten unsere Jacken mitnehmen sollen. Auch auf dem kurzen Weg zum Leuchtturm beißt die Kälte in meine nackten Oberarme, fährt unter den Pullover. Am liebsten wäre ich gerannt, doch Lotta presst sich an mich, hindert mich daran.
Der Lichtkegel meiner Taschenlampe zuckt über die nassen Steine, die den Weg zum Leuchtturm säumen. An der Spitze des Turms kreiselt das Licht, fährt wie ein Finger über das Meer, über die schwarzen Wellen.
Auf dem Weg rutscht Lotta aus. Gerade noch kann ich sie festhalten, bevor sie hinschlägt. Sie öffnet den Mund, schreit jedoch nicht.
»Alles gut?«
Sie nickt, geht voran, zieht mich mit sich. Papa hat uns schon davor gewarnt: Die Gewehwegsteine werden glatt, wenn es regnet.
Vor dem Leuchtturm bleiben wir stehen. Eine Tür gibt es nicht, nur einen gemauerten Bogen. Dahinter Finsternis. Ich mache einen Schritt vorwärts. »Mama?« Meine Stimme klingt verloren im Turm, dünn gegen das Wüten des Sturms.
»Mama!«, kreischt Lotta.
Wir stehen in der Tür, ich lausche. Vielleicht ein Geräusch. Vielleicht ein Rufen. Vielleicht nur der Donner. Ich mache einen Schritt vorwärts, hinein in den Leuchtturm, richte das Licht der Taschenlampe auf die metallenen Stufen, die kreisförmig nach oben führen.
Lotta presst sich wieder an mich, folgt mir hinauf, Stufe um Stufe. Der Sturm dämpft das Geräusch unserer Schritte auf dem Metall. Schließlich endet die Treppe an einer schweren Tür. Ich drücke die Klinke herunter, es ist abgeschlossen. So wie es sein muss.
Papa hatte einen Schlüssel, hat uns alles gezeigt. Und wir haben zusammen das Land und das Meer beobachtet. Als Mama wieder einmal lange spazieren war, hat er uns mit nach oben genommen, und wir haben nach ihr Ausschau gehalten. Nach ihr und nach der versunkenen Stadt, von der Papa erzählt hat. Stundenlang konnten wir auf die Wellen blicken, auf das Blitzen im Wasser, wir haben dort an der Brüstung gestanden, Wind in den Haaren, Salzgeschmack auf der Zunge.
Da, ein Turm!, habe ich gerufen, war ganz sicher, eine Turmspitze aus dem Meer aufragen zu sehen, und Lotta, ganz klein noch, hat gelacht.
Und Papa hat gesagt: Vineta, Vineta, du rieke Stadt. Vineta sall unnergahn, wieldeß se het väl Böses dahn.
Ich lege eine Hand auf die verschlossene Tür, auf das kalte Metall. »Wie sollen wir jetzt Mama finden?«, frage ich, weiß nicht genau, wem ich diese Frage stelle, aber Lotta antwortet, das Kinn gereckt: »Ist sie da drin?«
Und ich warte darauf, dass sie mich packt und schüttelt, wie Papa Mama geschüttelt hat, wenn sie nach Hause gekommen ist. Aber Lotta schüttelt mich nicht. Sie wartet bloß — auf meine Antwort.
Ich drücke ihre Hand. »Sie kommt schon wieder.«
Am Morgen ist Mama immer noch nicht da. Ich ziehe Lotta die Regenjacke an, schlüpfe in Mamas rosafarbenen Parka und steige in meine Gummistiefel. Lotta hält sich an mir fest, am Saum von Mamas Parka, und ich greife die Schlüssel von der Kommode. Für einen Moment schwebt meine Hand über dem Autoschlüssel. Das Auto steht noch auf der Auffahrt, Papas alter Kombi. Eines Tages hat er uns auf die Rückbank verfrachtet und ist losgefahren, ohne zu sagen, wohin. Ohne auf Mama zu warten. Wenn ich Autofahren könnte, ich würde Lotta einladen und losfahren. Aber das ist Kidnapping. Hat Mama gesagt.
Ohne Auto ist der Weg zum Dorf weit. Die ganze Wanderung über halte ich Lottas Hand fest, sie zerrt an mir, will ständig in den Dünen verschwinden, doch wieder zurücklaufen. Wie ein kleiner Hund. Das Wasser steht im löchrigen Asphalt der Uferstraße, aber immerhin hat es zu regnen aufgehört. Einen Fußweg gibt es nicht, aber auf der Landzunge herrscht kaum Verkehr.
Der Wind treibt ausgerissene Trollhaare vor sich her, salzige Luft, die auf den Wangen brennt. Lottas Hand ist kalt. Die Sonne taucht hinter einem Wolkenband auf, eine fahle Scheibe am Horizont.
Irgendwann hält ein Auto an, ein roter Transporter. Ein Mann beugt sich zur Seite, stößt die Beifahrertür auf.
»Soll ich euch mitnehm’?«, ruft er, und ich kann durch seinen grausprenkelten Bart die Lippenbewegungen kaum erkennen.
Ich beiße die Zähne zusammen, schaffe trotzdem ein Lächeln. »Das wäre nett. Wir müssen ins Dorf.«
»Steigt ein.«
Ich öffne die hintere Tür, schiebe Lotta vor mir her auf die Rückbank. Gestank von Zigarettenrauch schlägt uns entgegen. Lotta bleibt neben mir, setzt sich auf den mittleren Sitz, klammert sich an meinem Ärmel fest. Ich werfe die Tür hinter mir zu.
»Zum Glück is’ der Sturm überstand’n.« Der Mann dreht die Heizung auf, seine Finger sind schmutzig. »Wo wollt ihr ’n hin?«
»Zum Ausstellungshaus.«
Er fährt los, wirft mir durch den Rückspiegel einen Blick zu. »Welches?«
»Äh … Das … äh … am Ortseingang, direkt rechts?«
»Ah, die Scheune. Bei Anja?«
»Ja.«
»Gut.«
Ich strecke die Hand aus, und Lotta ergreift sie. Sie lehnt den Kopf gegen mich, schaut den Mann mit großen Augen an. Sie reckt sich und flüstert mir ins Ohr: »Ist er ein Troll?«
Die Scheune lehnt sich gegen den Wind, ein Fensterladen ist nicht richtig festgehakt und klappt auf und zu — auf und zu. Die Kiefer neben dem Haus beugt sich mit ausgebreiteten Ästen über das Dach.
Der Mann hält den Transporter direkt vor dem grünen Holztor, und ich springe mit Lotta aus dem Wagen. Ich laufe zur Tür, klopfe dagegen.
»Is’ doch offen.« Der Mann taucht neben mir auf, drückt die Klinke herunter und stößt die Tür auf. »Kumm in.«
In dem Ausstellungsraum ist es kalt. An den Wänden hängen Bilder: schiefergraue Seen, lilafarbene Himmel. Wirbel aus Schwarz und Gelb. Mamas Ausstellung.
Eine Frau kommt aus dem Büro, groß, kurze blonde Haare. »Moin, Jens.« Sie schüttelt dem Mann die Hand. »Was führt dich hierher?« Sie sieht mich an. »Ihr seid doch Sandras Mädchen?«
»Ja«, sage ich.
Sie mustert den rosafarbenen Parka.
»Sind mir zugelaufen«, sagt der Mann.
»Haben Sie unsere Mutter gesehen?«, frage ich die Frau.
Hinter den Brillengläsern verengen sich ihre Augen zu Schlitzen. »Nein. Wieso?«
»Sie ist weg«, sage ich.
Wir sitzen auf grauen Plastikstühlen unter einem Bild von Mama, das stürmische See zeigt, im Hintergrund der Küstenstreifen, ein dunkler Leuchtturm. Lotta hält den Kopf gesenkt, sieht die Bilder nicht an. Die Frau und Jens sind im Büro, Stimmen dringen durch die angelehnte Tür.
Lotta klammert sich an mich. »Was machen die jetzt?«
»Ich glaube, sie rufen die Polizei.«
Sie hebt den Kopf, sieht mich mit schimmernden Augen an. »Wo ist Mama?«
»Ich weiß nicht, Lottchen.«
Sie springt auf, der Stuhl fällt um. Sie stolpert über die Stuhlbeine, stürzt jedoch nicht.
»Lotta!«
Doch sie ist schon zur Tür gerannt, reißt sie auf, verschwindet im Herbstsonnenschein. Ich fahre vom Stuhl hoch, renne ihr nach. Einen Moment bin ich blind, taumele im Sonnenlicht umher. Dann erblicke ich Lotta in der blauen Jacke. Sie klettert über eine Böschung.
»Lotta!«
Ich renne. Rutsche im Schlamm auf der Böschung aus, Mamas Parka bekommt Dreckspritzer ab. Ich rutsche auf der anderen Seite die Böschung hinunter. Hinter einer Reihe Kiefern erheben sich die Dünen, wirbeln die grauen Trollhaare im Wind. Lotta hastet an dem Verbotsschild vorbei — die Dünen soll man nicht betreten, das hat Mama immer wieder gesagt. Sie ist immer durch die Dünen gegangen, wenn sie dachte, ich sähe es nicht.
»Lotta!«
Ich kämpfe mich die Düne hinauf, durch Sand und Erde. Lotta steht oben auf der Düne, die Haarsträhnen kringeln sich um ihr Gesicht. Am Horizont erhebt sich der Leuchtturm, reglos. Reglos wie Lotta.
Ich schlinge die Arme um sie, halte sie fest.
Das Meer brüllt. Die Brecher rollen mit Wucht an den Strand — ich kann die Gischt noch auf der Düne schmecken. Das Salz und den Dreck. Das Wasser reißt ein Stück Holz mit, das am Strand liegt; es verschwindet im weißen Wirbel, wird hochgetragen, auf den Strand geworfen. Sofort wieder zurückgeholt in die wilde See. Nach unten gezogen.
»Wo ist Mama?«, fragt Lotta, das Gesicht an Mamas Parka gepresst.
»Sie ist weg.« Mit zittrigen Fingern fahre ich über ihren Rücken, will sie in den Arm nehmen, in den Arm genommen werden, bin wie gelähmt. Ich starre aufs Meer, tanzende Schaumkronen, Finger aus Sonnenlicht glitzern auf den Wellen. Keine Türme in Sicht, keine Spuren der versunkenen Stadt.
»Lotta?«
Lotta schluchzt. »Was?«
Ein Knoten löst sich in meiner Brust, Schmerz wallt durch meinen Oberkörper, brandet über mich hinweg. »Ich weiß es auch nicht! Ich weiß es nicht!« Ich sinke auf den nassen Sand, lasse den Kopf hängen.
Sie hockt neben mir, schiebt ihre Hand in meine. »Weißt du noch, das Papa-Gedicht?«, flüstert sie in mein Ohr.
Das Papa-Gedicht, das Lotta so nennt, dabei hat Papa es immer aus einem Buch vorgelesen, aus Das Wilde Hänschen und sein Hund.
Ich hole tief Luft und sage:
»Beruhige dich und warte, bis dass es fertig fällt,
Denn niemand fällt ins Nirgendwo, und nichts fällt aus der Welt.«
- Quellenangaben
- "Das wilde Hänschen und sein Hund" von Barbro Lindgren-Enskog (1986)