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Strohhalm
Die Gummibärchen lagen auf dem Beifahrersitz. Emily sah sie sofort. Ihre Mutter auch.
„Das war anders abgesprochen.“
„Was?“ Ihr Vater warf Emilys Tasche in den Kofferraum.
„Kein Zucker, haben wir gesagt“, zischte ihre Mutter.
„Du hast das gesagt.“ Er wandte sich an Emily. „Steig schon mal ein, Mäuschen.“
Emily riss die Hintertür auf und Rico schoss heraus.
Ihr Vater stöhnte. „Lass doch den Hund im Auto. Ihr könnt heute noch den ganzen Tag toben.“ Aber Emily ließ sich von Rico umwerfen und mit der Schnauze ins Gesicht stupsen. „Rico!“, quietschte sie und vermied den Blick zu ihrer Mutter, die mit verschränkten Armen dabei stand.
„Was ist?!“ Ihr Vater ging einen Schritt auf ihre Mutter zu.
„Du stopfst sie wieder mit Süßigkeiten voll und ich hab ab Montag ein total hibbeliges Kind. Emily, du sollst dich schon mal reinsetzen, hat der Papa gesagt.“
„Guck mal, Mama, der Rico freut sich ganz doll!“
Doch ihre Eltern waren ein paar Schritte weiter gegangen. Ihre Mutter sprach von Abmachungen und ihr Vater von Weihnachten, dabei war es Sommer. Er trat nach einem Stein.
„Stell dir vor, meine Eltern würden sie auch gerne mal wieder Heiligabend dabei haben.“
„Vergiss es. Das lass ich nicht zu, dass du mit ihr Weihnachten durch halb Deutschland gurkst.“
Emily stürzte sich auf Rico und nahm ihn in der Schwitzkasten. Er bellte begeistert, und sie kugelte sich mit ihm auf dem Rasen, hörte ihre Mutter erst, als sie sie an den Schultern zu sich herumriss und ihr in die Augen sah. „Emily, jetzt ist mal gut! Ich möchte, dass du aufhörst so rumzuschreien.“ Ihr Vater schob Rico ins Auto. „Na, dann woll'n wir mal.“
„Emily.“ Jetzt zog ihre Mutter sie sanft an sich, küsste sie auf den Kopf und flüsterte ganz dicht an ihrem Ohr, “Hab ein schönes Wochenende mit Papa, ja? Und denk an die Kügelchen abends. Der Papa vergisst das bestimmt, aber denk du dran. Ja?“
„Ja, klar. Tschüss, Mama.“ Sie umarmte ihre Mutter so fest sie konnte, während ihr Vater sich ins Auto setzte und die Scheibe herunterließ. Dann stieg sie hinten ein, kletterte auf die Sitzerhöhung und schnallte sich an. Rico legte seinen Kopf auf ihren Schoß.
„Bis Sonntag!“, rief der Vater aus dem Fenster.
Was ihre Mutter antwortete, ging im Aufheulen des Motors unter.
„Jaja“, murmelte ihr Vater.
Er drehte sich zu ihr um und strahlte.
„Und, wie geht’s in der Schule?“
„Gut.“
„Super. Ich hab einen Mordshunger. Weißt du, was wir beide jetzt machen? Wir fahren zum Bäcker und gehen schön frühstücken. Was meinst du?“
„Können wir.“ Eigentlich hatte sie schon mit ihrer Mutter gefrühstückt.
„Danach muss ich noch ein halbes Stündchen an den Schreibtisch und dann ...“
„Och nee, nicht an den Schreibtisch.“
„Echt nur kurz. Ich hab so'n paar Sachen, die müssen heute noch raus. Und zwei Telefonate. Wir finden da schon was für dich. Und heute Nachmittag geht’s zu Tante Steffi.“
„Darf ich das Tablet haben, wenn du arbeitest?“
Es klingelte, und ihr Vater nahm sein Handy vom Beifahrersitz.
„Ja? … Andy! … Nee, ich hab Emily gerade abgeholt … ach komm, wie immer, Madam Borderline macht Zicken … nee, das ist noch nicht geklärt … war gestern auch wieder Post vom Anwalt, ich hab so ne Krawatte, das sag ich dir, aber lass uns später … ja, ist jetzt schlecht … ja, nächstes Wochenende kann ich wieder … Tschö.“
Er fuhr beim Bäcker vor.
„Also in der Schule geht’s gut?“
„Ja.“
„Oh Mist. Geschlossen.“ Ein Zettel hing an der Tür.
„Wir brauchen gar nicht auszusteigen. Betriebsferien. Na, die können sich das ja anscheinend leisten.“ Er setzte mit Schwung zurück. „Dann fahren wir halt zu Franzens. Wo wir früher immer waren. Nehmen wir die.“
Sie hatten mal alle zusammen mit Rico in einem Haus gewohnt. Da war sie noch ganz klein gewesen. Die Gegend kam ihr bekannt vor.
„Kann ich nachher auf den Spielplatz?“
„Wird heute ein bisschen knapp. Ein andermal. Guck mal, die haben auf. Die hatten immer diese leckeren Schokocroissants, mmh, und einen schönen Kaffee hatten die.“ Er machte schlürfende Geräusche und Emily lachte, während er ihr die Hintertür aufriss. Sie ließen Rico im Auto zurück und liefen die drei Stufen hinauf.
„Ist sogar noch dieselbe Frau wie damals. Kennst du die noch?“
Durch die Glastür sah sie die Bäckerin hinter dem Tresen stehen.
„Nein.“
Aber als sie eintraten, bimmelte die Ladenglocke so vertraut, dass Emily wie aufgezogen zur Kuchentheke lief und ein Knie auf die Umrandung schob. Ihr Vater hielt sie fest.
„Stopp Mäuschen, da stellen die Leute ihre Taschen drauf. Da bist du jetzt zu groß für.“
Ein Mann drängelte sich mit einer Tüte Brötchen in der Hand an ihnen vorbei.
„Einen schönen Tag noch!“ Die Bäckerin schob mit ihrem Bauch die Kasse zu, wischte sich mit einem Tuch über die Stirn und strahlte Emily an.
„Mensch, dich kenn ich doch noch. Soo groß bist du geworden. Wer hätte das gedacht! Du warst ja lange nicht hier.“
„Wir wohnen nicht mehr in der Gegend“, sagte ihr Vater.
„Och, das ist ja schade. Wo wohnen Sie denn jetzt?“
„Weiter weg.“ Er deutete mit der Hand Richtung Tür.
„Und du, gehst du schon zur Schule?“
„Ja. In die 1b.“
„Toll!“
Die Bäckerin griff nach einer Brötchentüte.
„Was darf's denn sein?“
„Wir setzen uns da an den Tisch“, sagte ihr Vater. „Ich nehme erst mal einen Kaffee und du ...“
Sein Handy klingelte. Er stöhnte, als er die Nummer sah.
„Passt grad nicht … nein, wir sind beim Bäcker … sie hatte aber noch Hunger … also was willst du? … “ Dann wandte er sich an Emily, „Such dir was aus.“ Machte der Bäckerin ein Zeichen, bevor er rausging. Die Tür schlug bimmelnd hinter ihm zu.
„Hui.“ Die Bäckerin legte die Tüte zurück. „Also ihr wollt heute hier frühstücken.“
„Ich nehme ein Schokocroissant.“ Emily zuckte zusammen, als ihr Vater draußen „Geht's noch?!“, brüllte.
„Dein Papa ist aber sauer.“
„Und eine Dose Fanta, bitte“, sagte Emily.
Jetzt lachte er, aber es klang nicht lustig. Dann wurde es leiser, weil er vor der Bäckerei auf und ab lief.
„Weißt du noch, als ihr das letzte Mal da wart?“, kicherte die Bäckerin plötzlich und Emily drehte sich wieder zu ihr um.
„Da warst du so wütend, weißt du das noch?“
„Nein.“
„Was warst du wütend! Du hast geschrien, meine Güte, dein Papa war nicht mehr zu verstehen. Unsere Fensterscheiben haben geklirrt. So eine kräftige Stimme! Und dann hat dein Papa dich ins Auto gebracht und ist wiedergekommen, und dann ist die Alarmanlage von eurem Auto angegangen, kannst dich echt nicht mehr erinnern?“
„Nein.“
„Naja, du warst auch noch ganz klein. Gott, was hast du geschrien!“
Emily sagte nichts, und die Bäckerin wurde auf einmal ganz ernst. „Und weißt du, warum du so geschrien hast?“
„Nein.“
„Aber ich weiß es noch!“
Wie ein Zauberer hielt die Bäckerin mit der einen Hand die Fanta und mit der anderen den Strohhalm in die Luft.
„Weil dein Papa ... den Strohhalm schon für dich abgeknickt hatte!“
Emily sah die Bäckerin an. Die begann wieder zu glucksen.
„Du wolltest ihn unbedingt selber abknicken und du wolltest auch keinen neuen. Du warst nicht zu beruhigen. Kannst du dir das vorstellen?“
„Nein.“
„Was hast du geschrien. Und getreten hast du, meine Güte! Hier bitte. Heute darfst du ganz alleine abknicken.“ Sie kicherte. Emily lachte nicht und die Bäckerin hörte auch auf zu lachen.
„Ich stell dir das Croissant auf den Tisch“, sagte sie und Emily nickte. „Danke.“
Ihr Vater kam zurück, atmete tief durch, fummelte an seiner Zigarettenschachtel und steckte sie wieder ein. Die Bäckerin drückte auf den Knopf an der Kaffeemaschine.
„Ich habe Ihrer Kleinen gerade erzählt, wie doll sie letztes Mal geschrien hat, wegen dem Strohhalm, aber sie kann sich gar nicht mehr erinnern.“
„Ja.“ Ihr Vater griff ihr in den Nacken. “Madämchen hat mächtig getrotzt. Mh, Schokocroissant!“
Sie zog die Schultern hoch.
Im Auto war ihr schlecht, und sie sprach nicht viel, als ihr Vater sie nach der Schule fragte.
„Ich mach mal Radio an“, sagte er. Es kam was über Amerika. Emily richtete sich auf.
„Der Trump ist ein Arschloch.“
Ihr Vater prustete.
„Nanana.“
Aber sie hatte ganz genau gehört, dass er gelacht hatte, und kicherte.
„Mama sagt das auch.“ Dann hielt sie die Luft an.
„Na“, murmelte er. „Wo sie recht hat ...“
Sie lachte so laut, dass sie Schluckauf bekam.
„Trump ist aber wirklich ein Arschloch, nicht Papa? Trump ist ein Arschloch.“
„So, jetzt ist mal gut.“
„Trump ist ein Arschloch!“, kicherte sie, und ihr Vater bremste scharf.
„Emily, hallo, es reicht, hörst du? Ich muss hier mal tanken.“
Jetzt sagten sie im Radio, dass ein Mann seine Exfrau mit einem Hammer erschlagen hatte. Und dass er bisher als unauffällig gegolten hatte.
„Bleib du solange im Auto“, sagte ihr Vater und stellte den Motor ab. “Das dauert nicht lang. Soll ich dir was mitbringen?“
„Ich will mit.“
„Komm, das geht wirklich schnell. Pass gut auf Rico auf, der fühlt sich sonst so alleine.“
Er sprang aus dem Auto, und sie kraulte Rico am Kopf, weil es im Auto jetzt nach Benzin stank und weil Hunde eine sehr feine Nase haben. Wieder zurück, reichte ihr Vater ein Milkyway nach hinten.
„Uli hat mir auch Milkyway gekauft“, sagte sie.
„Uli? Wer ist das denn?“
Sie überlegte. Seit Uli kam, trug ihre Mutter Hackenschuhe.
„Der hat Mamas Auto repariert.“
„Aha. Na, da hat er sicher noch mehr repariert bei Mama, was?“ Er lachte rau.
„Ja“, sagte sie. “Die Lampe im Flur.“
„Wie oft ist der denn bei euch, der Uli?“
„Wo soll ich das Papier von dem Milkyway hin tun?“
„Stopf es in den Aschenbecher.“
„Wann fahren wir denn zu Tante Steffi?“
„Wenn ich fertig bin. Jeden Tag?“
„Was?“
„Der Uli, kommt der jeden Tag?“
„Manchmal“, sagte sie leise.
Ihr Vater lachte und fuhr schneller.
„Na ist doch schön für Mama, dass sie jetzt einen Freund hat.“
Er suchte ihren Blick im Rückspiegel.
„Findste sicher auch. Kann der mal mit dir spielen. Bringt dir Milkyway mit. Ist doch schön.“
„Ja. Ist die Lena auch da?“
„Da geh ich mal von aus. Die freut sich sicher schon auf dich.“
Die Wände in Lenas Kinderzimmer waren bemalt mit Meereswellen, in denen Regenbogenfische, Delphine und Wale schwammen. Wellen, die sich durch den Flur zogen bis in Lukas' Zimmer, Lenas älterem Bruder, der sich U-Boote und Taucher ausgesucht hatte, und noch weiter um zwei Ecken bis in das Elternschlafzimmer, wo sich über dem Bett das Segel eines riesigen Schiffes im Wind blähte. Aus den Bullaugen schauten Tante Steffi und Onkel Christian, Lukas und Lena. Alles gemalt von Tante Steffi. Früher hatten ihre Mutter und Tante Steffi zusammen Emilys altes Kinderzimmer angemalt. Jetzt, in der neuen Wohnung, wollte Mama, dass die Wände weiß blieben, und Tante Steffi war noch nie zu Besuch gewesen.
„Was wollen wir sein?“, fragte Emily. Sie saßen auf Lenas Bett und kraulten Rico in ihrer Mitte, der träge mit dem Schwanz schlug.
Lena überlegte. „Ich weiß schon. Wir sind ... Emojis!“
„Die aus dem Handy?“
„Ja, die von dem Film.“
„Was machen die?“
„Die erleben ganz viele Abenteuer.“
„Au ja.“
Emily lief aus dem Zimmer und rief nach unten.
„Papa, wir sind Emojis!“
Er saß unten bei Tante Steffi in der Küche und trank Kaffee.
„Na toll! Geht mal raus, die Sonne scheint.“
Tante Steffi lachte, und Emily hörte, wie sie zu ihrem Vater sagte:
„Beim letzten Mal waren sie noch die Minions und wollten uns dienen.“
Er kicherte. „Ja, voll das Dream-Team, die beiden.“
„Jetzt lacht Emily auch wieder mehr.“
„Klar, die ist gut drauf.“
„Und schulisch läuft's auch gut?“
„Sag ich doch. Die macht das ganz prima. Sag mal, ist das okay für dich, wenn ich gleich mal kurz einkaufen fahre?“
Es war einen Moment still, dann sagte Tante Steffi:
„Meinetwegen. Aber bleib nicht wieder so lange. Wenn Christian und Lukas kommen, wollen wir auch noch mal los.“
„Ne halbe Stunde?“
„Ja, auch eine.“
„Super … danke.“ Ein Stuhl wurde gerückt.
„Emily!“, rief er hoch. “Ich bin mal kurz weg. Sei schön brav, ja?“
„Jaaaa.“
Lena zog sie zurück ins Zimmer.
„Was willst du denn nun für ein Emoji sein?“
„Weiß nicht.“
„Komm, sag. Du darfst dir was aussuchen. Erst sagst du, dann sag ich.“
„Ist mir egal.“ Emily steckte ihre Nase in Ricos Fell. Lena schnaufte ungeduldig.
„Du bist langweilig! Dann ich zuerst.“
„Gibt's auch Prinzessinnen-Emojis?“
„Alles, was du willst. Wir können sein, was wir wollen. Was wir uns ausdenken, das können wir einfach sein. Einfach alles.“
Mit aufgerissenen Augen lauschte Lena ihren eigenen Worten nach. Bis Emily sie schubste.
„Kann man auch der Kackhaufen sein?“
Lena schlug die Hände vor den Mund und beide prusteten los.
Als sie abends im Bett lag, musste sie an den Strohhalm denken und wie sie wohl geschrien hatte und dass die Alarmanlage angegangen war und auf einmal dachte sie, dass das genau dann gewesen war, als ihre Eltern angefangen hatten zu streiten, und ihr ganzer Körper wurde heiß, als ihr klar wurde, dass es bestimmt wegen ihr gewesen war, dass sie gestritten hatten, wegen dem Strohhalm und weil sie so bockig gewesen war, dass ihre Eltern sich nicht mehr vertragen konnten, und dass alle das wussten, die Verkäuferin, Tante Steffi, Mama, alle wussten, dass es wegen ihr war, und keiner sagte ihr das, und ihr Körper war heiß und brannte und juckte, sie schwitzte unter der Bettdecke, und da, wo Rico auf ihren Beinen lag, da waren ihre Beine hart und gelähmt, und sie dachte an ihren Vater, wie er im Auto gelacht hatte, und an ihre Mutter, wie sie sie gedrückt hatte zum Abschied, an ihren Blick. Morgen und für immer würde sie das beste Kind der Welt sein.