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Strandgut
Mia befand sich auf der Schwelle zum Erwachen. Der Wind brachte Salzgeruch vom Meer und ließ die alten Fensterrahmen klappern, gab einfach keine Ruhe. Nur einen Moment noch, dachte Mia. Sie lag still mit geschlossenen Augen. Hinter den Lidern lächelte Papa ihr zu.
˶Wir sehen uns, Papa“, flüsterte Mia, ˶bis bald. Jetzt muss ich aufstehen.“ Sie öffnete die Augen und sah Wolken über den Himmel fliegen.
In der Küche hantierte Mama mit dem Geschirr.
˶Mia, das Frühstück ist fertig, nun komm!“ Mamas Stimme hörte sich fest an, fast munter.
˶Und noch was, Mia: heute machen wir unseren Großeinkauf!“
Mit nackten Füßen schlich Mia ins Bad, sie wollte noch eine Weile allein sein. Morgens brauchte sie ein bisschen Zeit, um all die kleinen Dinge zu tun, die sie in den Tag brachten. Sie putzte ihre Zähne und aß wie immer ein winziges Stück von der Zahnpasta. Mama sollte auch nicht wissen, dass Mia sich mit lauwarmem Wasser wusch, obwohl kaltes Wasser doch gut für die Gesundheit ist. Mia fand lauwarmes Wasser so freundlich, fast wie ein Streicheln über ihre schlafwarme Haut.
Zurück in ihrem Zimmer zog sie den dicken blauen Pullover mit dem weißen Segelschiff an. Er war schon ein wenig kurz, doch Mia liebte ihn. Mama hatte ihn gestrickt, als Mia und Papa jeden Morgen in aller Frühe zum Strand gelaufen waren, um die großen Schiffe zu sehen und die schönste Muschel des Tages zu suchen. Papa hatte Holz gesammelt, alte Bretter, die das Meer ausgespuckt hatte. Strandgut hatte er das genannt. Daraus kann man etwas basteln, vielleicht eine kleine Truhe für dich Mia, für deine geheimen Schätze! Das hatte er gesagt und Mia mit lachenden Augen zugeblinzelt. Und er hatte ihr tatsächlich eine Truhe gemacht, mit dicken Nägeln zusammengezimmert, Mia konnte sogar darauf sitzen.
Irgendwann im vorletzten Jahr, am Ende der Ferien, war ihr aufgefallen, dass Papa abends müde aussah und manchmal im Sessel einschlief. Das ist die Seeluft, hatte er gemeint und Mama hatte seine Haare verwuschelt und lachend gesagt, dass es ja typisch für einen Lehrer sei, am Ende der Ferien bereits müde zu werden. Mia hatte ebenfalls gelacht, doch sie hatte sich auf Papas Schoß gesetzt, seine Wange gestreichelt und ihm ins Ohr geflüstert, dass er sich gut ausruhen soll.
Mias Eltern hatten die alte Fischerkate am Meer vor vier Jahren gekauft. Mia war damals sechs und gerade in die Schule gekommen. Wie schön, hatte Papa gesagt, jetzt haben wir immer gemeinsam Ferien und können in unser Strandhaus fahren. Papa hatte viele Wochenenden und die gesamten Ferien an der Hütte gezimmert, gestrichen, das Dach ausgebessert und neue Böden gelegt, bis es ein gemütliches Zuhause am Meer geworden war. Die große Stadt, in der sie wohnten, war schnell vergessen, dabei war sie gar nicht so weit weg. Papa und Mama hatten buntes Geschirr, gemütliche Kissen und Flickenteppiche für das Wohnzimmer gekauft. Es wird immer schöner, hatte Mama lachend gesagt, Papa an den Händen genommen und sich mit ihm im Kreis gedreht.
Mia setzte sich an den Küchentisch. Ein rascher Blick in Mamas Gesicht zeigte ihr, dass es heute morgen nicht verquollen aussah, also hatte Mama wahrscheinlich gut geschlafen und nicht geweint. Das machte Mia froh. Es machte sie auch froh, dass sie wieder ins Ferienhaus fuhren, fast ein Jahr nach Papas Tod. Mia war Papa besonders nahe, wenn sie hier waren. Dann fühlte sie sich leichter als zuhause und wusste ganz sicher, dass Papa in ihrer Nähe war. Die Traurigkeit, die sie zuhause noch so oft überfiel, hier fegte der Wind sie einfach weg.
Mia hatte versucht, Mama das zu erklären, doch Mama hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, bei ihr sei es ganz anders: hier würde sie Papa ganz besonders vermissen.
Doch es wurde langsam besser. Mama ging ab und zu mit Mia an den Strand, sie pflückte Blumen auf den Wiesen am Dorfrand und stellte sie auf die Anrichte im Wohnzimmer.
Mia hatte eine Riesenangst um Mama gehabt. Nach der Beerdigung wollte sie nicht mehr aufstehen, sich um nichts mehr kümmern. Mia war zu ihr ins Bett gekrochen und hatte leise und verzweifelt mit Mama geweint.
Dann war Oma mit einem riesigen Koffer gekommen und hatte viele Wochen bei ihnen gewohnt. Sie hat von Papa erzählt, von seiner Schulzeit, seinen Streichen, sie hat Suppen gekocht und Spiegeleier gebraten, und mit Mia und Mama geweint. Sie hat Mia zur Schule gebracht, mit der Lehrerin lange geredet, und nachmittags hat sie Mia zum Spielen zu ihren Freundinnen geschickt. Mama war bei Oma gut behütet. Doch irgendwann musste Mama wieder in die Apotheke gehen, dort arbeitete sie jetzt nur noch vormittags. Oma war nach Hause gefahren, und Mia und Mama begannen ihr Leben ohne Papa zu meistern. Es ist, als würdet ihr eine Straße pflastern, hatte Oma zum Abschied gesagt, manchmal legt ihr ein paar neue Steine, dann wieder stolpert ihr über alte. Sie stolperten noch oft, doch sie schafften auch eine neue Wegstrecke.
Mia schreckte aus ihren Gedanken hoch.
˶Nach dem Frühstück fahren wir in den Ort“, sagte Mama, ˶oder willst du vorher noch kurz an den Strand?“
Oh ja, das wollte Mia! Jeden Morgen rannte sie los, den Dünenweg entlang, hinauf zum Leuchtturm. Dort blieb sie atemlos stehen. Das Meer breitete sich vor ihr aus, als habe es auf Mia gewartet. Manchmal lag es glitzernd und ruhig vor ihr, manchmal hörte sie sein Brausen schon von Weitem, sah die schaumgekrönten Wellen tosend auf den Strand zurollen und der Wind riss an ihren Haaren. Oh, hatte Papa dann gesagt, das ist der Wind, der die Sehnsüchtigen aufs Meer locken will, alle die, die zu neuen Ufern aufbrechen wollen, mit dem Segelschiff oder dem Ozeanriesen, glaubst du nicht auch, Mia? Nein, eigentlich glaubte Mia das nicht, doch vorsichtshalber hatte sie Papas Hand genommen und sich enger an ihn gekuschelt. Jetzt musste sie immer daran denken, wenn sie ans Meer ging. Und an Papa. Einmal hatte er Mia die aufgetürmten Wolkenberge gezeigt und gefragt, ob sie auch das Segelschiff da oben am Himmel erkennen könne, und tatsächlich, Mia war ganz aufgeregt gewesen.
Ja, ja, du hast Recht, ich sehe ein Segelschiff! Genau so eines wie auf meinem Pullover, findest du nicht auch, Papa?
Denkst du vielleicht, was ich gerade denke, Mia?, hatte Papa gefragt und sie dabei mit dem Zeigefinger am Kinn gekitzelt.
Was denkst du denn?,wollte Mia wissen.
Na ja, sagte Papa, vielleicht dass wir mal eine Reise mit einem Segelschiff machen!
Aber Papa, das können wir nicht, Mama wird doch schon im Bus übel.
Da hatte Papa Mia beide Hände auf die Schultern gelegt. Dann müssen wir zwei wohl mal eine Reise mit einem Segelschiff machen, meine Mia und ich!
Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Papas Müdigkeit hatte zugenommen, manchmal schlief er schon vormittags wieder ein, er konnte bald nicht mehr arbeiten gehen und dann stellten die Ärzte im Krankenhaus fest, dass Papas Blut nicht in Ordnung war. Er bekam viele Medikamente, musste unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen und sie fuhren nicht mehr oft ins Ferienhaus. Nur noch selten ging er mit Mia an den Strand, es dauerte ewig, bis er den Dünenweg hinaufgelaufen war. Mia hielt seine Hand und trug immer eine Muschel in ihrer Tasche.
Papa schaute lange aufs Meer, und je länger er schaute, desto glatter wurde sein Gesicht, fast wie vor seiner Krankheit. Manchmal drückte Mia ihm die Muschel in die Hand und sie lächelten sich verschwörerisch zu.
Zuhause musste er immer öfter ins Krankenhaus, er bekam Blutkonserven, die kurzzeitig halfen, doch Papa wurde immer schwächer. Mama verstummte und saß stundenlang an seinem Bett, Mia und Oma kamen jeden Abend. Papa schlief sehr viel, doch ab und zu sah Mia ein Lächeln in seinen Augen, das war nur für sie.
Dann starb Papa, er schlief einfach immer weiter und wurde nicht mehr wach. Mia betrachtete ihn lange und wusste, dass hier jemand lag, der Papa entfernt ähnelte, doch ihr lachender, windzerzauster Papa war schon längst weggeflogen, vielleicht wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. Ob er jetzt allein die Reise mit einem unsichtbaren Segelschiff machte? Mia legte ihm eine Muschel in die Hände und stellte sich vor, dass Papa riesige, weiße Segel hisste und die Hand über die Augen legte, wenn er in Richtung Küste schaute. Ganz sicher wusste er, dass Mia dort stand, jeden Morgen.
Und so lief sie nach dem Frühstück ans Meer, der Wind spielte mit ihren Haaren und die Wellen kräuselten sich wie Papas Lippen, wenn er zu lächeln begann. Mia schickte stumme Grüße hinaus, hob die Tagesmuschel auf und rannte zurück.
˶Mama“, rief sie keuchend, ˶schreibst du noch Honig auf den Einkaufszettel?“
˶Habe ich schon“, sagte Mama und nahm Mia fest in die Arme.