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Stonehenge im November 2057
Ausgerechnet Champagner. Prickelwasser mit Geschmack von kalter Pisse und obendrein Stonehenge im November. Beides verdankte Hansen seinem Chef Dr. Belling und dessen Auffassung, dass eine Legende an einem legendären Ort geboren werden solle.
„Der hätte sich für unseren Triumph auch ein würdigeres Ambiente aussuchen können. Vielleicht einen gut geheizten Saal voller Kronleuchter und mit Buffet inklusive Dienerschaft“, sagte Hansen zu Diane, die neben ihm stand.
„Pscht, nicht so laut“, entgegnete die Maschinenbau-Ingenieurin, und schielte zu Belling hinüber. „Belling hat die acht Milliarden Forschungsgelder ausgespuckt, folglich hat er das Sagen.“
„Also starren wir mitten in der Nacht einen scheiß Megalithen an“, ergänzte Hansen unbeirrt, „stampfen vor Kälte mit den Füßen und saufen Champagner, wo nur Glühwein helfen würde. Verdammt.“
Belling hüstelte. „Noch eine knappe Minute, meine hochverehrten Damen und Herren, dann wird dieses Stück“, er deutete auf eine ungefähr in Hüfthöhe und mit einem Kreidekreis markierte Wölbung in der Kante des Megalithen, „vor unseren Augen verschwinden wie durch Zauberhand.“
Eisiger Nordwest-Wind zerrte an seinen Worten und ließ die kleine Gruppe enger zusammenrücken. Der riesige Megalith gab dem Sturm zwar eine brummende Stimme, bot aber keinerlei Schutz. Wolkenfetzen flohen über den Vollmondhimmel wie eine Schafherde vor einem Rudel Wölfe. Hansen fluchte ihnen still hinterher.
Fünf Jahre hatte er geradezu sklavisch für die Entwicklung und den Bau seiner Zeitmaschine gearbeitet. Jeder Tag in den Laboren von Oil & Engineering war wie ein Gastspiel in der Hölle: Kein Kontakt zur Außenwelt, Arbeit rund um die Uhr, ein Leben im Zölibat. Und jetzt das hier.
Hansen zog seine Hand aus der Manteltasche und wischte sich mit tröstlich warmen Fingern über das Gesicht. Was soll´s, dachte er, nur noch zwei Wochen bis zur öffentlichen Präsentation, dann wird mein Name sich hervorragend für die Geschichtsbücher empfehlen.
„Achtung! Gleich ist es soweit, meine lieben Freunde. Hat jeder noch Sekt?“, tönte Belling gegen das Unwetter an.
Alle nickten stumm.
„Dies ist zwar nur eine Generalprobe ohne Öffentlichkeit, aber dennoch die Premiere der ersten Zeitreise eines Menschen! Unsere Zeitmaschine gibt Wissenschaft und Tourismus die Möglichkeit, in Gefilde vorzudringen, in die sie kein Rad und kein Flügel zu tragen vermag. Dieses Stück Felsen verschwinden zu lassen ist ...“
Seine Worte gingen in Donnergrollen unter. Ein Kältegewitter mit Hagelsturm kündigte sich an.
Nach einer Weile zupfte Diane an Hansens Ärmel. „Roland verspätet sich“, flüsterte sie warmen Atem in sein gefrorenes Ohr.
Sofort ging er in Gedanken die Einstellungen durch. Er hatte einen Zeitsprung von exakt eintausend Jahren eingegeben und die Rückreise auf Manuell geschaltet, damit die Kabine der ZM1 nicht ohne ihren Passagier die Heimreise antrat. Nein, die Programmierung war simpel und der Vorgang so oft erprobt, dass die Technik als Fehlerquelle nicht in Frage kam. Hunderte von Minirobotern und Kaninchen hatten bereits Zeitreisen von Millionen Jahren am Stück heil überstanden. Blieben nur Schwierigkeiten vor Ort, etwa Probleme mit unwegsamem Gelände, der Witterung oder aggressive Handlungen seitens der Einheimischen jener vergangenen Epoche.
„Meine Damen und Herren.“ Bellings Stimme kämpfte gegen den Sturm und Hansen entging nicht, dass sie plötzlich wieder nur Damen und Herren waren, nicht mehr hochverehrt, geschweige denn liebe Freunde.
„Ich gehe davon aus, dass Herrn Rolands Unpünktlichkeit keine technischen Ursachen zugrunde liegen“, sagte er und sein Blick in die Runde blieb an Hansen hängen.
Hansen nickte und fünf Mündern entflohen kleine Dampfwölkchen der Erleichterung. Den Gesichtszügen dagegen blieben Sorge und Anspannung erhalten. Denn Roland steckte trotzdem in Schwierigkeiten.
Es hatte im Vorfeld vor allem über die Bewaffnung, die ein Reisender ins Jahr 1057 mit sich führen sollte, lange Diskussionen gegeben. Erst in letzter Minute hatten Hansen und Diane Hartgummiprojektile anstelle tödlicher Munition durchgesetzt. Schließlich durfte man niemandes Urahn erschießen. Das hätte, einer bekannten Hypothese nach, seine Nachkommenschaft in Luft aufgelöst. Diese Hypothese wurde nie ganz schlüssig begründet; doch selbst wo nun Zeitreisen möglich waren, hatte man immer noch keine bessere gefunden.
Über den Rest der Ausrüstung war man sich schnell einig geworden, hochmoderne Thermowäsche unter einem für das Jahr 1057 zeitgenössischen Fellmantel. Roland in den Winter zu schicken hatte den Vorteil, dass er nur wenigen Menschen begegnen würde. Für die gut drei Kilometer, von seiner Zeitkabine bis zu dem Megalith Nummer dreißig im Nordosten der mystischen Anlage, hatte er Schokoriegel, eine Plastikflasche Mineralwasser, Schmerztabletten und Verbandsmull als Notausrüstung dabei. Des Weiteren natürlich Hammer und Meißel, um das Stück Felskante abzuschlagen, damit er es dann hier, im Jahre 2057, wieder ansetzen konnte.
Die ersten Hagelkörner fielen vom Himmel. Belling gab endlich nach und beorderte seine frierenden Leute in den Kleinbus.
Aus der rechten Fensterreihe konnte jeder die markierte Stelle im Lichtkreis der Scheinwerfer beobachten. Für Hansen stürzte damit das Niveau dieser Veranstaltung, trotz der angenehmen Wärme im Bus, so tief ins Bodenlose, das es faktisch nicht mehr auszumachen war.
Der Hagel und die Sorgen um Roland verdichteten sich mit jeder Minute. Noch hatte es niemand gewagt, Befürchtungen offen auszusprechen. Doch irgendwann spricht immer irgendjemand Dinge aus, die alle anderen bis dahin beflissentlich für sich behalten haben. Diesmal fühlte sich Dr. Kirsti Allan dazu berufen.
„Wenn Ihr meine Meinung hören wollt …“, sie machte eine winzige Anstandspause und wies auf den noch unversehrten Megalithen, „wir sind fünfundzwanzig Minuten über der Zeit. Was nur bedeuten kann, dass Rolands Schwierigkeiten ernster Natur sind. Er wurde entweder von Barbaren gefangen oder hat sich so schwer verletzt, dass er weder den Stein noch die Zeitkapsel aus eigener Kraft erreichen kann.“
„Das stimmt nicht ganz“, entgegnete Hansen. Seine Stimme klang vom Aufenthalt in der Kälte noch etwas rau, aber ruhig. Roland war besser auf seine Mission vorbereitet worden als Neil Armstrong für seinen Mondspaziergang.
„Roland hat für seine zeitplangemäße Rückkehr in unsere Gegenwart noch gut zehn Minuten. Im Moment sieht es also lediglich danach aus, das er den Megalith nicht erreichen konnte. Vielleicht hat dort ausgerechnet jetzt eine Händlerkarawane oder das Heer eines Stammesfürsten ein Lager aufgeschlagen.“
„Nicht im Winter.“ Kirsti stand auf, zog ihre ohnehin tadellos sitzende blauschwarze Kostümjacke noch glatter, und drehte sich zu Hansen.
„Damals fanden alle größeren Auseinandersetzungen im Frühjahr oder Sommer statt. Das haben meine Nachforschungen ergeben. Und Händler kampierten im Winter auf geschützten Dorfplätzen oder quartierten sich in Herbergen ein.“
„Dann braucht er eben nur länger, weil er sich durch hohen Schnee kämpfen muss“, sagte Hansen, immer noch ruhig.
„Sie, Hansen, haben genau wie Diane Schneeschuhe entgegen meinen Rat abgelehnt“, warf Belling ein.
Dieser unqualifizierte Angriff interessierte Hansen wenig. Sein Team hatte alles penibel durchdacht. Diane war es gewesen, die als Erste gegen Schneeschuhe gestimmt hatte. Sie waren zu der Zeit in der betreffenden Gegend noch nicht bekannt und deshalb als sichtbares Ausrüstungsstück nicht akzeptabel. Sie könnten die technische und kulturelle Entwicklung der Menschen im Jahre 1057 beeinflussen.
Es gab hier also nichts zu kritisieren, außer Bellings übertriebener Angst vor Industriespionage, der sie die Funkstille zwischen hier und der drei Kilometer entfernten Basisstation ZM1 zu verdanken hatten. Vielleicht war Roland dort längst eingetroffen.
Belling hatte es wieder mal geschafft, Schweigen um sich zu verbreiten. Schweigen, das in Hansens Gedanken Raum für eine ungute Ahnung schuf. Vielleicht hatte er nicht nur mit seiner Zeitmaschinentheorie recht, sondern auch mit seiner Aussage, die er seinen skeptischen Kollegen entgegengeschleudert hatte. „Die Wahrheit, die uns umgibt und durchdringt, ist von keiner Formel zu erfassen. Die darin verborgenen Möglichkeiten sind somit unendlich.“
Welche ungeahnte Möglichkeit würde hier in Erscheinung treten?
„Da, ist das Rolands Rover?“, rief Ralph Johnson, der Elektroniker.
Alle blinzelten nach draußen und versuchten, durch das chaotische Gewirr rasender weißer Punkte die Umgebung zu entdecken. Zwei helle Lichter bewegten sich aus Richtung der ZM 1 Basiseinheit auf den Bus zu.
„Ist das markierte Felsstück noch da?“, fragte Belling, und Steven Kendal, sein Sicherheitschef, antwortete ihm kleinlaut, dass er seit einiger Zeit kaum noch den Megalith erkennen könne.
„Dann gehen Sie gefälligst raus und schauen nach!“
Er stieg aus und blieb verschwunden, bis zu den näherkommenden Lichtkugeln ein Motorgeräusch zu hören war. Dann fügte sich wie durch ein Wunder seine Gestalt aus den weißen Graupeln wieder zusammen und hastete zur Tür hinein.
„Und?“, blaffte Belling ihn an.
„Ist noch da“, sagte Steven und zitterte vor Kälte.
Gleich darauf klopfte es an der Tür.
„Roland!“ ein vielstimmiger Ausruf, in dem Erleichterung mitschwang, empfing den im Fellmantel Gehüllten. Roland lächelte glücklich in die Runde. Er trug einen in Tuch gewickelten Gegenstand fest an seinen Körper gepresst.
„Hat geklappt wie am Schnürchen!“, verkündete er und wickelte ein Stück Felskante aus dem Tuch.
„Hier Chef, bitte sehr.“
Für einen Moment waren die einzigen Geräusche das Trommeln der Hagelkörner. Belling fand als Erster seine Stimme, wenn auch nur eine kraftlose Version davon.
„Felskante? Wieso hast Du die Felskante?“, flüsterte er.
„Äh, bin ich hier richtig im Jahr 2057 und ist heute der 12. November?“
„Natürlich! Quatsch kein Blödsinn!“ Belling hatte seine laute Stimme wiederentdeckt. Er drehte sich ruckartig nach Steven um und blaffte weiter:
„Mensch Steven, was haben Sie denn da draußen gesehen? Muss ich alles selber machen?“
„Die Felskante war an Ort und Stelle, so wahr ich hier vor Ihnen stehe.“
Für Hansen klang das überraschend sicher. „Dann gehen wir doch nachsehen“, schlug er vor, und alle drängelten ins Freie wie neugierige Bustouristen. Sie versammelten sich vor dem Megalithen und obwohl alle sahen, was es dort zu sehen gab, wagte niemand, es auszusprechen.
Nach schier endlosen Sekunden der allgemeinen Sprachlosigkeit war es Steven, der zuerst etwas zu dem Dilemma sagte. „Sehen Sie, Herr Belling, ich hab doch gesagt, das verdammte Felsstück ist noch an Ort und Stelle.“
„Ja, das sehe ich!“ Belling drehte sich zu Roland. „Geben sie das Ding mal her!“
Roland reichte ihm seine steinerne Version des doppelten Lottchens und Belling hielt sie nebeneinander. Da war auch auf den zweiten Blick kein Unterschied zu entdecken. Lediglich auf Rolands Version befanden sich ein paar unbedeutende Kratzer weniger, sie war schließlich eintausend Jahre jünger.
„Hansen!“ Belling kreischte fast und zerrte ihn am Mantel zu sich ran. „Hansen! Verdammt, erklären sie mir das!“
Hansen befreite sich langsam aus Bellings Griff. „Da muss ich erst mal drüber nachdenken. So aus dem Ärmel geschüttelt würde ich sagen, dass keine Theorie alle Wahrheiten umfassen kann, und deshalb die Praxis manche Überraschung bereithält.“
„Großer Gott, Sie haben Nerven, Sie haben wirklich Nerven! In vierzehn Tagen wollten wir die ZM1 präsentieren!“
„Das können wir auch. Wir haben unbestreitbar eine Zeitmaschine. Um das Problem mit dem doppelten Felsstück kümmere ich mich, sobald wir zurück sind.“
„Kümmern allein nützt uns nichts, spätestens zur Präsentation brauchen wir eine hieb- und stichfeste Erklärung. Wenn ich allein an den Tanz mit der Regierung denke, die müssen doch alles noch genehmigen, und jetzt so eine Lücke!“
„Tja“, sinnierte Hansen, „Wissenslücken und der forschende Mensch, auf immer und ewig eine tückische Kombination, würde ich sagen.“
„Behalten Sie Ihren philosophischen Scheiß gefälligst für sich!“, schnauzte Belling. „Ich will Fakten von Ihnen. Verflucht noch mal Fakten! Verstehen Sie!“
Hansen lieferte die Erklärung vier Tage später. Nach weiteren drei Tagen wurde er in den Konferenzraum bestellt.
Belling starrte aus dem Fenster hinunter auf den verschneiten Firmenparkplatz und kaute den Radiergummi vom Bleistift. Am Tisch saßen sieben Gäste, drei ältere Herren in Militäruniform und vier Anzugträger. In einem der Zivilen erkannte Hansen den Referenten des Energieministers.
„Setzen sie sich bitte, Dr. Hansen“, sagte Belling, drehte sich vom Fenster weg und warf seinen Bleistift in den Papierkorb.
„Ich fasse zusammen“, begann Belling, „es ging darum, unsere Firma wirtschaftlich über das Ende der Erdöl-Ära zu retten. An ihren Vorstellungen, Herr Dr. Hansen, mit Zeittourismus und der Vermietung unserer ZM1 an Archäologen und Geschichtsforscher Geld zu verdienen, war nichts Falsches. Aber unter den neuen Bedingungen gibt es auch neue Möglichkeiten, die ich zu ergreifen habe.“
Belling räusperte sich, und Hansen grübelte, warum man ihm die Gäste nicht vorgestellt hatte.
„Jede Veränderung der Vergangenheit kann nicht schneller in der Zeit Richtung Zukunft voranschreiten, als unsere Gegenwart. Das bedeutet, die Tat in der Vergangenheit und ihre Auswirkungen werden zeitlich zu unserer Gegenwart immer den gleichen Abstand halten.“
Hansen fragte sich, ob nur deswegen herzitiert worden war, um wiedermal Belling dabei zu beobachten, wie er die Lorbeeren für sich beanspruchte.
„Ich begründe diese Erkenntnis mit dem Energieerhaltungsgesetz, der elektromagnetischen Kraft in den Atomen und damit, dass Makro-Objekte keine quantenmechanischen Superpositionszustände einnehmen können. Zur Sicherung dieser Hypothese führten wir Experimente zur Dekohärenz durch und solche, die bewiesen, dass die Quantenrealität keine zeitbedingten Kausaleigenschaften aufweist. Deshalb, so meine Schlussfolgerung, sind Kausaleffekte unweigerlich in der Makrowelt gefangen und die physikalische Stabilität unserer Gegenwart gewährleistet.“
Belling setzte sich Hansen gegenüber und fuhr lächelnd fort:
„Aber, Dr. Hansen, hier und heute wollen wir über die Zukunft reden. Wenn man der Vergangenheit ein Felsstück entreißen kann, ohne Konsequenzen in der Gegenwart zu spüren, dann ebenso Erdöl. Ja, sogar Genies, deren Talent und Intelligenz man für den technologischen Fortschritt und Vorsprung unserer Nation nutzen kann. Man könnte wählen wie aus einem Katalog. Geben Sie zu, wer hätte nicht gern Einstein in seinem Team? Dank Ihnen ist das für uns nun kein Problem mehr!“
Hansen stand auf und wandte sich zum Ausgang. „Solange wir die Lücke zwischen Theorie und Wirklichkeit nicht erforscht haben, halten wir sie für das Paradies. Doch manchmal verbirgt sich in der Lücke der Eingang zur Hölle“, murmelte er und verließ den Raum mit der Gewissheit, dass sein Name von nun an wie ein Fluch klingen würde.