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Still Leben
Er blickte vorsichtig nach links und rechts. An einem runden, hölzernen Tisch, auf dem sich 10 Bier- und 8 Schnapsgläser befanden, saßen also typische Jugendliche, die sich nach dem nun folgenden Alkoholgenuß auf dem Weg zur 'Disco' machen werden.
Aber im Moment saßen sie noch im Haus und hörten Musik.
Das Haus gehörte Markus oder vielmehr seinen Eltern, die ausgegangen waren. Markus kümmerte sich um die Getränke und um die Musik und war meistens deshalb beschäftigt.
Er beneidete ihn.
Er betrachtete nochmals intensiv die Gesichter seine Mitschüler. Viele hatten sich augenscheinlich Mühe gegeben, die richtige Kleidung für einen Disco-Abend zu wählen. Manche Mädchen waren sogar vorher noch beim Friseur gewesen.
"Was für eine Geldverschwendung", dachte er.
Er hob sein Glas mit Bier an und nippte vorsichtig daran. Eigentlich hasste er Alkohol, und Bier hasste er noch viel mehr.
So nahm er zaghaft ein paar Schlücke und setzte das Bierglas gleich wieder auf die Kante des hölzernden Tisches.
Es hingen Bilder an der Wand. Gemälde, Ölmalereien.
Ihn überraschte nicht, dass sie nur flüchtig wahrgenommen wurden. Niemand schien sich für blühenden Nelken, Rosen, Tulpen in einer Vase auf einem Küchentisch stehend zu interessieren.
Er fing an zu lachen, denn die anderen taten es auch. Tanja hatte gerade von ihren Erlebnissen mit ihren Cousins erzählt, welche irgendwie unglaublich uninteressant waren, aber natürlich war er froh, dass sie redete.
Doch das war jetzt vorbei und eine erneute Stille setzte ein. Er hasste die Stille. Solange es still war, musste irgendjemand die Stille brechen und von weiteren Erlebnissen erzählen.
Um die Stille damit dauerhaft verbannen zu können, mussten alle mitmachen. Alle. Er überlegte, ob er jetzt nicht vielleicht auch mal etwas sagen sollte.
Dummerweise musste es lustig sein, denn wenn es nicht lustig ist, ist es langweilig.
Es wurde mal wieder Zeit für einen Schluck Bier; das Gute daran war, je mehr man trank, desto besser schmeckte es.
Seine Gedanken wurden unterbrochen.
"Was hörst du eigentlich für Musik?", fragte Stefanie ihn.
Stefanie war ein schönes Mädchen, redselig und lebhaft.
Doch diese Frage ist kein Problem mehr für ihn. Er hatte sie schon oft genug beantworten müssen. Er wusste, welche Antworten 'falsch' und welche 'richtig' waren.
"Ähm. Blink 182 und sowas."
"Hey Markus, hast du eigentlich die neue CD von 'Blink 182' da?"
Sie hatte es geschafft, das Gespräch auf eine globale Eben zu heben. Je globaler die Gespräche, desto weiter wurde er entfernt.
Mehrere Stimmen kreuzten die Bahnen, die Runde erwachte zu neuem Leben, Vokale und Konsonanten, geformt zu Wörtern, die Sätze ergeben, manchmal mit Sinn, manchmal ohne Sinn, flogen durch den Raum.
Er wollte sich ducken, sie schienen ihn angreifen zu wollen. Auf einmal hatte jeder etwas zu sagen und alle darauf nur aus, ihn weiter zu isolieren.
Er war der einzige Schweiger. Wie kommt es eigentlich dazu, dass alle scheint´s ohne Probleme frei reden können und es immer wieder solche Ausnahme wie ihn gab?
Ihm fiel auf, dass alle Bilder in diesem Zimmer als Motiv in Vasen stehende Blumen hatten. Alle Blumen blühen, obwohl sie sich doch eigentlich so weit fern der Sonne in einem Raum befinden.
Ihm gefielen die Bilder, sie erzeugten eine wohlige, angenehme Stimmung.
Während er dachte, wechselte das Thema zu Kinofilmen. Man schenkte sich neu ein.
"Kinofilme", so dachte er, "alles, nur das nicht". Er war überhaupt kein Kinofreund und kannte sich mit den neuen Filmen nicht im Geringsten aus. So wandte er seine Augen auf den derzeitigen Sprecher.
Er überlegte sich, dass es verschiedene Menschentypen geben müsse. Von Anfang an werden zwei Arten von Menschen geboren.
Die geselligen, redseligen Menschen stellte er sich als herumfliegende Schlüssel vor.
Introvertierte Menschen waren dann eher Schlösser, stillstehend im Raume, darauf wartend, von den passenden Schlüssel geöffnet zu werden.
Eine kleine Pause wurde eingelegt, die jedoch nicht lange hielt. Jennifer berichtete von ihrem neuen Auto; bekanntermaßen bieten derartige Geschichten willkommende Anlässe zu Grundsatzdiskussionen bezüglich der mobilen Gefährten.
"Autos", so dachte er, "da kann ich wieder nicht mitreden."
Er war schon froh, überhaupt einen Führerschein zu besitzen. Doch kannte er den Unterschied zwischen einem Benziner und einem Diesel nicht. Seine Augen wechselten zu Jennifer.
Er stellte fest, dass der Künstler alles mögliche hätte malen können. Doch er entschied sich für gewöhnliche, blühende Blumen. Blumen, die auf ewig blühen werden.
Er muss wohl ein schwer zu knackendes Schloss sein oder aber der richtige Schlüssel ist einfach noch nicht vorbeigeflogen.
Er überlegte sich, wie es wohl sein würde, wenn er endlich geöffnet werde.
Wahrscheinlich würde er dann nicht mehr so viel denken, denn er wird gar nicht mehr denken müssen.
Sein Herz wird sprechen und sein Mund ihm lediglich als Artikulationsinstrument dienen.
Plötzlich erhaschte er einen Blick auf eine welke Blume; sie verfault, obwohl sie auf einer Wiese aufwächst; die Sonne scheint doch regelmäßig und verdursten muss sie auch nicht.
So muss wohl die Liebe funktionieren, so können sich die richtigen Partner finden.
Es passen nur Schlüssel und Schloß zusammen, und, um die Sache noch komplizierter zu machen, nur der richtige Schlüssel zum richtigen Schloß.
Er hatte schon oft gehörte, dass die Menschen heutzutage gar nicht mehr zuhören können.
"Wahrscheinlich existieren viel zu viele Schlüssel und viel zu wenige Schlösser", dachte er bei sich, "da ist es kein Wunder, dass soviele Beziehungen in die Brüche gehen".
Es war mitten in der Nacht, er war schon längst nach Hause gegangen und hatte einen merkwürdigen Traum: Er träumte von Bienen, die Blumen in einer Vase bestäuben.
Die welken Blumen, die sich draußen auf der Wiese befanden, mieden sie.