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Stiefsöhne

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18.08.2002
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Stiefsöhne

Mein Halbbruder Phillip lehnt gegen das Drahtgitter des Lüftungsschachtes und erwartet rauchend den Ausgang einer Wette. Daneben hockt Joris der Möchtegernfreund und nimmt ihm die Zigarette ab, zieht tief, hustet verhalten. Am Rand des Wohnhausdaches stehe übrigens ich, Joris der Träumer, Joris der leibhaftige Trottel, wie üblich meterweit neben mir selbst. Meterweit? Eigentlich sind Joris und ich durch Millionen Neuronen aneinandergekettet, gefangen in demselben Kopf. Noch – ich sprenge nun diese leidige Bande, schlage sozusagen zwei Fliegen mit einer Klatsche.

Ich stelle mir vor, wie wir über die Steppe reiten. Lucky Phook und Joris, sein Möchtegernsidekick.
»Sieh ihn dir an, den Versager!«, sagt letzterer und sein Esel schnaubt. Blinzelt vor der Abendröte.
»Pass auf, der springt nicht, vielleicht segelt er über den Canyon, zu doof die Schwerkraft zu nutzen!« – Beide lachen auf ihre dreckigste Art.
Und dabei ist es die Gewitterfront, vor der der Versager mit dem krummen Rücken zu ihnen steht, sein Selbstmitleid, seinen Weltschmerz auf den Feierabendverkehr gießt und die Menschheit von oben als Schimmelpilz betrachtet. Sie warten beide darauf, dass er springt. Die Polizei ist noch nicht da. Jeder sieht den doch und denkt, für so einen Versager ruft man sie gar nicht erst, der bringt es nicht, nachher heißt es noch Alarmierung aus Jux, ein saftiges Bußgeld, so etwas.

Leute stehen in einer Traube auf dem Bürgersteig und schauen zu mir empor. Ob sie es schaffen, dem spritzenden Fett auszuweichen?

Phillip und Joris, der Möchtegernbassist von Phillip’s No to Crime, nicken einander zu. Sie stehen auf und hängen sich ihre Luftgitarren um. Die dunklen Wolken über uns scheinen bei den ersten Akkorden zu erzittern.
Grollen.

»Spring, und sie wein’n dir nicht hinterher
Spring, und sie feiern doch nur noch mehr
Spring, du bekommst auch Applaus, jaaa—
Applaus für deinen Salto mortale ...«
Papa holte mich einmal mit dem Streifenwagen von der Schule ab, an meinem zwölften Geburtstag. Da lief dieser miserable Metalsong von Kassette, hin und wieder unterbrochen von Funksprüchen. Er pfiff mit und ich versuchte vergeblich, belustigt zu sein.
Papa sah zu mir und zwinkerte. »Schon gut, nicht gerade was für'n Geburtstag, gell?«, sagte er, lachte und hieb mir fest auf die Schulter.
Ich fragte mich damals nicht, ob er bei dem Lied an Phillip dachte, so wenig er ihn ausstehen konnte. Stattdessen wunderte ich mich, dass er mich so von der Schule abholen durfte. Ein paar Jahre später erzählte er mir, sein Chef hätte beide Augen zugedrückt, es sich danach aber anders überlegt: die Beförderung kassiert, ihm eine disziplinarische Maßnahme aufgebrummt und seitdem wäre irgendwie alles auseinandergebrochen, »die übliche Familienscheiße halt – tschuldige«. Dabei hatte ich den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und traktierte die PC-Tastatur, um bei abgestelltem Ton irgendwelche Feindscharen zu verblutsumpfen.
»... Spring doch, acht’ der Hölle
strenge Öffnungsstunden ...«
Mein Leben: fürs Ende prädestiniert. Schuld daran ist Karina. Dass sie mich ausgerechnet wegen Phillip verlassen hat, wollte ich eine Zeit lang nicht wahrhaben. Für sie ist der Schulhof eben auch nur ein Strich. Kann gern mein zerfetztes Hirn persönlich vom Gehsteig schrubben, mit einer Zahnbürste am besten.
»... Spring – Summer – Fall in Hell
Winter forever in Paaaradise ...«
Vor meinem Auge im Hinterkopf fliegt die Stahltür auf. Karina kommt wippenden Schrittes auf uns zu, jubelt, lacht, klatscht über dem Kopf wie auf einem Konzert. Doch als hätte sie den Ernst der Lage erkannt, schreit sie plötzlich dramatisch, klischeehaft und falsch: »NEIINN!! Joris! Spring nicht! Was soll ich ohne dich nur machen? Ich liebe dich. Spring nicht«, fleht sie billig. Und setzt sich doch zu Phillip, der sie an sich zieht und ihr die Tränen von den Wangen leckt. »Bitte, geh da weg! Lass uns neu anfangen, spring nicht, ich liebe dich doch, ich liebe nur dich!«
Die ersten Tropfen fallen, über den Dächern zucken vereinzelt Blitze. Karina trägt nur noch Socken. Diese Schlampe lässt sich doch tatsächlich stechen, federt in verdammter Anmut auf und ab. »Spring nicht!«, ruft sie, »Spring nicht!«, stöhnt sie, »Springicht! Springicht! Springich!, aah, oh hmm, hspringch!, hsprngch!, hschrngch! –«

Eine heftige Böe fegt mich beinahe vom Dach. Ich wende den Kopf und sehe Phillip kühl an. Joris, Dr. Phillips Möchtegernpatient, hat sich soeben für gesundet erklärt.

*​

Justus hat es schon immer gewusst. Phillip wird seinen Sohn verderben. Wird Joris irgendwann ...
»Hier EK19-A, ich wiederhole: Ich interveniere am Mann, gehe aufs Dach, verstanden?«
Die Tachonadel wischt über die Neunzig, die Sirene vor ihnen scheucht die Autos beiseite.
»Verstanden. Zivil 2, Sie alle bleiben unten und quatschen dem Lebensmüden gut zu. Der Funkwagen fährt weiter und meldet sich wieder bereit.«
»Du«, meint Justus zum Kollegen am Steuer, »hak dich doch mit der Stoßstange ein bei uns'rem Vordermann.«
»Ja, willst du, dass sich einer zwischenschiebt? Ich fahr, du funkst, gleich ersaufen wir sowieso ...«
Justus hasst diese Mischung aus Erleichterung und Furcht. Hat er es nicht gewusst? Nein, sagt er sich, sagt es sich demonstrativ. Er hatte die Gelegenheit genutzt, einfach mal den Kurs zur psychosozialen Notfallhilfe absolviert, eine gute Tat fürs Weiterbildungskonto, nichts weiter.

»Dass Sie es können, weiß ich, aber es wäre mir lieber, wenn ein Unbeteiligter aufs Dach geht, falls ... ja, falls eben.«
»Prima, trinken wir am besten noch ein Tässchen Kaffee, bis sich ein Psychiater in die Spur setzt. Joris und Phillip sind nur zwei von fünfzig, sechzig Kindern in dem ganzen Block, und wenn die eines nicht machen, dann so was!«
Eine Lüge, wird sich Justus nun klar. Wenn dieser Einsatz mal nicht sein allerletzter ist.
Die Kilian hob die Brauen. »Lassen Sie wenigstens Ihre Dienstwaffe hier, diesmal, das ist nur ein Suizid.« – Denn du weißt aus Erfahrung, das wäre besser so.
»Was, wenn ein Überredungskünstler auf dem Dach ist? Außerdem weiß ich aus Erfahrung, dass es nicht falsch ist, Dienstvorschriften zu beachten. Die Waffe steck ich in den Innenbund, so.«
»Ts, Überredungskünstler ...«

Er nimmt frühzeitig das Blaulicht vom Dach, noch bevor sie in die Parkgasse des Blocks einbiegen, und spürt ein wenig Genugtuung, dass er sich bei der Einsatzbesprechung durchgesetzt hat. Dem Leiterfahrzeug der Feuerwehr stünden allerhand Autos im Weg und Platz für einen Sprungteppich – Fehlanzeige. Ein flaues Gefühl breitet sich in seinem Magen aus. Die Türen haben mittlerweile engmaschige Gitter bekommen, aber schon längst kein Glas mehr.
Im Treppenhaus stinkt wie üblich Kerberos’ Kot aus irgendeiner Ecke, die Steinplatten kleben. Justus würgt, geht hindurch, am ständig kaputten Aufzug vorbei, mit schmatzenden Schritten sowie der klammen Ahnung, dass das Megafon der Kollegen für diese Höhe zu schwach ist, und das bei diesem Wetter, Jungs, vergesst das mit dem Hinhalten.

*​

Wär Karina doch von Anfang an nur Einbildung gewesen, nur ein Pin-up am Kleiderschrank! Dicke Tropfen platschen auf den Teer. Phillip steht auf, ich gehe langsam auf ihn zu. Er knackt mit den Fingergelenken, bereit zu einem Angriff, doch da ist Joris der Möchtelieberfeind längst bei ihm. Mit einer Kraft, wie sie Phillip bei ihm nie für möglich gehalten hätte, stößt er ihn zu Boden. Kniet sich auf ihn nieder, rammt die Fäuste in sein Staunen, bekommt jeden Schlag von Blitz und Donner untermalt. Joris ist in einer sonderbaren Trance. Jetzt hat er es in der Hand, er hat die Macht. Er wundert sich, dass es so schön leicht geht, so mechanisch und servogelenkt. Wieso hat er es nicht schon früher versucht, es Phillip heimzuzahlen, ihm zu zeigen, dass er kein verhätscheltes Nesthäkchen war, mit dem »Phillip der Erste« umspringen konnte nach Lust und Laune, gewisse Spiele spielen konnte unter brüderlichem Geheimhaltungseid, dem sogenannten »Indianerehrenwort«? Ihm einzuhämmern, dass er nicht alles mit sich machen lässt, er, wenn auch polizeiväterliches Erziehungsprojekt unter dem Motto »Liebevoll und gewaltfrei erzogen wird eben niemand zum Verbrecher, sieh doch hin, Juliane!«, Papas »eigen Fleisch und Blut« und dann trotzdem allein. Dass Phillip sich seine Eifersucht, seinen Neid oder was auch immer sonst wohin stecken soll. Joris, ja, gib es ihm, Papa wird ganz bestimmt stolz auf dich sein und Mama wird bloß wieder weinen.

»Weißt du, Alter«, rufe ich im Takt gedachter Hiebe, »mein – Vater – hätte wirk–lich ab–drücken sol–len!«
Phillip spitzt die Lippen, als wolle er mir Rauch ins Gesicht blasen, und schnippt die nasse Zigarette weg. »Wer hat ihn denn damals daran gehindert, hä? Bist nicht nur so ’ne Memme wie der, zu feige für diese Scheißwelt, bist auch noch zu fett für den Wind! Da muss ich wohl nachhelfen, dreh dich um, da geht’s lang!«
Er schiebt mich unter Aufgebot all seiner mickrigen Kräfte zur Kante. Und hat recht. Manchmal ist er nett. Endlich können wir unsere Geschichte vollenden, nennen wir sie doch die Geschichte von einem, der mich zog, ihn den salto mortale zu lehren. So nehme ich das Angebot an, fresse es, ja, zerre es ihm aus den Fingern. Renne los, ziehe ihn zur Kante und sehe zu, dass er nicht genau hinter mir ist. Dann schleudere ich meinen Arm mit ihm vor wie ein Olympionike beim Diskuswurf. – Nennt mich Meister im Versagen! Dank dem nassen Metallgitter auf der eingesenkten Regentraufe gleite ich seitwärts weg und knalle mit der Stirn voll gegen das Simsblech. Etwas stößt mich gegen den Fußknöchel und ich höre quietschende Stahlscharniere, das heißt, ein irgendwie mehrstimmiges Nein in die Tiefe stürzen …

*​

»Der Suizid ist weg vom Rand, komm runter, das Haus hat schon einen Blitzableiter«, hört Justus ein paar Treppen tiefer über Funk. Umso schneller jagt er die Stufen hinauf. Hechtet durch die aufgebrochene Tür zum Dach und — sieht erstarrt, was einfach nicht sein kann.

Aus dem Funkgerät dringt lautes Knistern und Knacksen, Stimmen, ein Schrei, unverständliche Worte. Sein Sohn kniet vor dem Rand und schaut hinunter.
»Joris ...«
Der blickt auf, wie durch ihn hindurch, stumm formen seine Lippen »P–p–«. Nein. Soll er ihn doch fortan besser Justus nennen oder ›Stiefel‹, was solls, um sich wie Phillip zuverlässig Ohrfeigen einzufangen.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 
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Lieber floritiv

Die beiden vorgehenden Fassungen hatte ich tatsächlich nicht gelesen, in der Absicht mich zu der Vorliegenden nicht ablenken zu lassen. Ich war auch der Meinung, vorgängige Fassungen dienten mehr dazu, die Steigerung durch den Autor und im Inhalt allenfalls nachvollziehen zu können.

Wenn ich die Geschichte unter der Prämisse betrachte, dass der Junge dies in Form von Tagträumen erlebt, er Depersonalisations- und Derealisationserlebnisse durchmacht, gewinnt es natürlich eine andere, mir verständliche Lesart.
Ich hatte solches bewusst nicht ins Auge gefasst, da ich einem mir fremden Verhalten nicht zwingend eine pathologische Ursache unterstelle. So manche Macken bewegen sich in einem Bereich, den der Spielraum „Normalität“ durchaus zulässt. Jugendliche unterziehen sich manchmal auch höchst fahrlässig Mutproben sowie erfahren sie verschiedene Entwicklungskrisen.
Für das genannte Syndrom müssten mehrere Indizien transparent werden, um es zuordnen zu können. Dies machte m. E. in einer Kurzgeschichte aus verschiedenen Gründen kaum Sinn. Vordergründig präsentiert es sich ja mit Identitätsproblemen, manchmal in Beziehung zu Pubertätshypochondrie, und kann im Vorfeld von Schizophrenien und Zyklothymien, aber auch im Rahmen von Neurosen sowie erlebnisaktiv auftreten. In einer Geschichte eingebunden bedingte es einer gewissen Weitläufigkeit, um es dem Leser nur anhand von Indizien verständlich zu machen.
Dennoch scheint es mir nicht verfehlt, dass du es in einer Kurzgeschichte eingebunden hast. Nur meine ich, müsste es für den Leser klar zum Durchbruch kommen, in welchem Zustand der Junge sein Erlebnis hat. Ansonsten bleibt es zu sehr in einem vagen Bereich.

Mir hat dieses Überdenken den Anstoss ausgelöst, dass ich selbst eine alte Pendenz in einer Geschichte habe, in der dem Leser die Lösung sich nicht auf dem Silbertablett präsentiert. Dort sollte ich längst ergänzen, wieso der Prot. sein Erleben hat. Werde ich nun wohl demnächst nachholen.

Deine Ausführungen haben mir auf die Sprünge geholfen, das Puzzle zu einem vollständigen Bild zu schliessen, das mir aus dieser Sicht vergnüglich ist. Vielleicht können dir meine Bedenken zeigen, warum sich bornierte Leser wie ich ( :D ), eben schon ein sich rundendes Bild wünschen, das nicht restlos geklärt sein muss, aber dem Verständnis sich mehr erschliesst.

Schöne Grüsse

Anakreon


PS: Eine Off-topic-Frage hätte ich noch. Wie bringst du es fertig, einen durchgestrichenen Text (Rechtfertigung) hier einzusetzen? Ich hatte es schon versucht, aber nie geschafft. :cry:


Nachtrag/Korrigenda:
Geleitet durch einen auf das Wesentliche konzentrierten Minimalismus, hatte ich nicht beachtet, dass die prominent an erster Stelle stehende Geschichte nicht die überarbeitete neue Version ist, sondern sich diese und nur eine zwischen den Kommentaren verbirgt. Diese habe ich nachträglich gelesen. Durch diesen Umstand ist der erste Absatz von meinem Kommentar missverständlich und als nichtig anzusehen.
Die teilweisen Überarbeitungen des Autors berücksichtigend, tangiert es an den weiteren Absätzen meines Kommentars jedoch nichts.

 

Hallo floritiv,

ok, deine Geschichte stammt aus März diesen Jahres und seitdem ist sie nicht mehr hervorgeholt worden, aber ich möchte dir trotzdem gern ein Feedback geben.
Ich habe die aktuelle Fassung gelesen, kenne die Kritiken zur ersten Fassung nicht und habe diejenigen zur aktuellen Fassung nur schnell überflogen.

Die Geschichte hat mir sehr, sehr gut gefallen. Ich fand sie in vielen Formulierungen treffend und erfrischend formuliert. Mir kam es so vor, als sei dir eine hohe Verdichtung gelungen, ohne dass es an Klarheit mangelt bis auf ein paar Punkte, zu denen ich gleich komme.

Es sind sehr viele Formulierungen drin, die ich gelungen fand, weil sie oft einen anderen Blickwinkel haben. Gut gemacht!

Jetzt zu den Punkten:

Ich musste den Anfang zweimal lesen und verstehe nicht, wieso du ihn so und nicht anders geschrieben hast. Ich weiß bis jetzt nicht, weshalb es am Anfang zwei Jungen namens Joris gibt. Der eine, der grad an der Zigarette von Philip zieht und zusammen mit ihm darauf wartet, dass der zweite Joris vom Dach springt. Danach taucht der zigarettenrauchende Joris nicht mehr auf. Versteh ich nicht. Ich habe den Eindruck, ich habe etwas übersehen oder nicht begriffen. Aber was?

Dann finde ich die Szene wirr, in welcher es um den, ja was eigentlich geht:


»Weißt du, Alter«, rufe ich im Takt gedachter Hiebe, »mein – Vater – hätte wirk–lich ab–drücken sol–len!«
Phillip spitzt die Lippen, als wolle er mir Rauch ins Gesicht blasen, und schnippt die nasse Zigarette weg. »Wer hat ihn denn damals daran gehindert, hä? Bist nicht nur so ’ne Memme wie der, zu feige für diese Scheißwelt, bist auch noch zu fett für den Wind! Da muss ich wohl nachhelfen, dreh dich um, da geht’s lang!«
Er schiebt mich unter Aufgebot all seiner mickrigen Kräfte zur Kante. Und hat recht. Manchmal ist er nett. Ich nehme das Angebot an, fresse es, ja, zerre es ihm aus den Fingern. Renne los, ziehe ihn zur Kante und sehe zu, dass er nicht genau hinter mir ist. Dann schleudere ich meinen Arm vor wie ein Olympionike beim Diskuswurf. Nennt mich Meister im Versagen! Dem nassen Metallgitter sei Dank gleite ich seitwärts weg und knalle mit der Stirn voll gegen das Simsblech. Etwas stößt mich gegen den Fußknöchel und ich höre quietschende Stahlscharniere, das heißt, ein irgendwie mehrstimmiges Nein in die Tiefe stürzen …

Ich habe da jede Menge Fragen. Weshalb hätte der Vater abdrücken sollen? Bei welcher Gelegenheit denn?

Dann schiebt Philip Joris zur Kante und Joris denkt Seltsames: er hat recht , er ist nett. Wieso? Ich rätsele rum, ob er lieber gestoßen werde möchte von Philip? Empfindet er diese Gewalttätigkeit als Wohltat? Da zieht sich meine Stirn kraus.

Ich bin sicher, dass du mit ein bis maximal zwei weiteren Dialogsätzen Aufklärung für den Leser schaffen könntest.

Wieso schleudert er seinen Arm wie beim Diskuswerfen in die Luft? Was genau ist der Sinn dahinter? Will er nun doch springen? Reizt er das Schicksal?

Dann schaffe ich es einfach nicht, mir dir Örtlichkeit vorzustellen. Worauf rutscht er aus? Wo ist denn dieses Simsblech? Wo exakt befindet er sich jetzt? Ist er abgestürzt? Nein, kann ja nicht sein, denn die Polizisten weisen ja den Vater daraufhin, dass der Suizid von der Kante weg ist. Liegt er jetzt zwischen was weiß ich Kante und Dach?
Aus der Geschichte geht hervor, Joris ist nicht unten aufgeschlagen. Philip aber auch nicht bei dem Gerangel, denn sonst hätte der Polizist etwas anderes ins Funkgerät gesprochen.
Und trotzdem wirkt die letzte Szene auf mich als sei etwas Schlimmes mit Philip passiert. Und schlimm kann ja dann nur ein Absturz sein.

Du siehst, ich hake an diesen Stellen fest.

Ich bin absolut davon überzeugt, dass dir durch kleine Umformulierungen gelingt, der Geschichte einen logischen Ablauf zu geben. Sie ist echt gut geworden, aber ihr fehlt eben dieser Rest an Verständlichkeit.

Ich hoffe, ich kenne die anderen Kritiken ja nicht, dass ich nicht die einzige bin, die Verständnisprobleme hat. Mal abgesehen davon, dass ich mich gerne nicht so allein fühlen möchte beim Doofsein :D , würden dich ja vielleicht ein zwei Kritiker mehr, die ebenfalls Probleme hatten, aufrütteln können, nicht wahr?

Auf jeden Fall, um mal wieder etwas Positives zum Schluss zu bringen, habe ich deine Geschichte, die spannend war, gern gelesen.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo floritiv,

ok, deine Geschichte stammt aus März diesen Jahres und seitdem ist sie nicht mehr hervorgeholt worden, aber ich möchte dir trotzdem gern ein Feedback geben.


Wenn Leser ältere Geschichten von mir ausgraben, gefällt mir das, vor allem wenn es eine im Grunde positive Kritik ist natürlich ;). Das kann natürlich auch ein kleines Bisschen lästig sein, wenn es viele neuere Texte gibt, aber das ist hier nicht der Fall. Die lange Zeit, die ich die Geschichte vergessen habe, dient hervorragend dazu Distanz zu gewinnen. Dumm ist nur, dass ich mich dadurch nicht mehr traue, größere Änderungen zu machen, vielleicht habe ich dazu noch nicht genug gewartet, vielleicht schon zu lange. Deine Vorkritiker bezweifeln nicht zu unrecht, dass ich es mit der Dichte hier übertrieben habe. Mich spornt das an, weiter zu lernen und zu probieren, wie extreme Dichte mit Verständlichkeit in Einklang gebracht werden kann. Ich fasel nunmal nicht gern.

Ich habe die aktuelle Fassung gelesen, kenne die Kritiken zur ersten Fassung nicht und habe diejenigen zur aktuellen Fassung nur schnell überflogen.
Das ist gut, so habe ich das bezweckt. Was Versionsverwaltung betrifft, habe ich noch keine Lösung gefunden, die für alle Leser wirklich eindeutig ist, für manche immerhin. Wenn tatsächlich mal KG.de eine Wiedergeburt hinlegt und was dies betrifft innovativ ist, das wär schon schön, aber gespannt sein.

Die Geschichte hat mir sehr, sehr gut gefallen. Ich fand sie in vielen Formulierungen treffend und erfrischend formuliert. Mir kam es so vor, als sei dir eine hohe Verdichtung gelungen, ohne dass es an Klarheit mangelt bis auf ein paar Punkte, zu denen ich gleich komme.
Mit diesen Punkten legst du die Finger derart in die Wunde, dass ich das »sehr, sehr gut gefallen« ... ach, was solls, einfach danke. ;)


Ich musste den Anfang zweimal lesen und verstehe nicht, wieso du ihn so und nicht anders geschrieben hast. Ich weiß bis jetzt nicht, weshalb es am Anfang zwei Jungen namens Joris gibt. Der eine, der grad an der Zigarette von Philip zieht und zusammen mit ihm darauf wartet, dass der zweite Joris vom Dach springt. Danach taucht der zigarettenrauchende Joris nicht mehr auf. Versteh ich nicht. Ich habe den Eindruck, ich habe etwas übersehen oder nicht begriffen. Aber was?
Da ichs dir schon kurz per PN erklärt habe, haftet doch öffentlichen Erklärungen immer auch etwas Verrat am Text an: Hab eine minimalinvasive Änderung im ersten Absatz vorgenommen, die hoffentlich etwas Klarheit schafft, ohne dass er an Dichte verliert. Ich finde das einen guten Kompromiss, es kann aber auch sein – befürchte ich – dass die Wirkung der Worte eher hömoöpathischer Natur oder unfreiwillig komisch ist, ich werds evtl. erfahren.

Dann finde ich die Szene wirr, in welcher es um den, ja was eigentlich geht:

»Weißt du, Alter«, rufe ich im Takt gedachter Hiebe, »mein – Vater – hätte wirk–lich ab–drücken sol–len!«
Phillip spitzt die Lippen, als wolle er mir Rauch ins Gesicht blasen, und schnippt die nasse Zigarette weg. »Wer hat ihn denn damals daran gehindert, hä? Bist nicht nur so ’ne Memme wie der, zu feige für diese Scheißwelt, bist auch noch zu fett für den Wind! Da muss ich wohl nachhelfen, dreh dich um, da geht’s lang!«
Er schiebt mich unter Aufgebot all seiner mickrigen Kräfte zur Kante. Und hat recht. Manchmal ist er nett. Ich nehme das Angebot an, fresse es, ja, zerre es ihm aus den Fingern. Renne los, ziehe ihn zur Kante und sehe zu, dass er nicht genau hinter mir ist. Dann schleudere ich meinen Arm vor wie ein Olympionike beim Diskuswurf. Nennt mich Meister im Versagen! Dem nassen Metallgitter sei Dank gleite ich seitwärts weg und knalle mit der Stirn voll gegen das Simsblech. Etwas stößt mich gegen den Fußknöchel und ich höre quietschende Stahlscharniere, das heißt, ein irgendwie mehrstimmiges Nein in die Tiefe stürzen …

Ich habe da jede Menge Fragen. Weshalb hätte der Vater abdrücken sollen? Bei welcher Gelegenheit denn?

Dann schiebt Philip Joris zur Kante und Joris denkt Seltsames: er hat recht , er ist nett. Wieso? Ich rätsele rum, ob er lieber gestoßen werde möchte von Philip? Empfindet er diese Gewalttätigkeit als Wohltat? Da zieht sich meine Stirn kraus.


Okay, man darf doch mal schwach werden: Es geht im ersten Teil um einen nicht näher bezeichneten Vorfall, auf den es Hinweise im Text gibt, vielleicht nicht deutlich genug, ich schau mal, wie ich sie elegant verklipp-und-klären kann. Der Vater im Dienst wurde dahin zum Einsatz gerufen und zog gegenüber dem Stiefsohn die Waffe. Habe bei der Recherche nicht im Polizeigesetz geschmökert, doch meines Ahnwissens darf das nur zur Notwehr oder bei ernster akuter Gefahr mit möglicher Gegenbewaffnung geschehen bei der Polizei, ob bzw. welche formalen Konsequenzen das hatte, steht nicht im Text, wohl aber wird angedeutet, dass Sohn und Vater hinterher nur noch telefonieren konnten.

Im zweiten Teil wollte ich darstellen, dass es anfangs Phillip ist, der Joris zum Rand des Daches zieht, was sich dann aber ganz schnell umkehrt. Auch hier hab ich etwas eingeschoben, von dem ich zuversichtlich denke, dass es der Klarheit zuträglich ist.

Ich bin sicher, dass du mit ein bis maximal zwei weiteren Dialogsätzen Aufklärung für den Leser schaffen könntest.
Dialogsätze sind mir leider keine eingefallen. Zumal die Geschichte tatsächlich auf so wenig Dialog wie möglich ausgelegt war. Das Rohmaterial in meinem Kopf wahr eher filmischer Natur, das schlichte Erleben aus der gespaltenen Ich/Er-Perspektive stand im Vordergrund.

Wieso schleudert er seinen Arm wie beim Diskuswerfen in die Luft? Was genau ist der Sinn dahinter? Will er nun doch springen? Reizt er das Schicksal?
Er will nicht seinen Arm, sondern am Arm seinen Halbbruder vom Dach schleudern.

Dann schaffe ich es einfach nicht, mir dir Örtlichkeit vorzustellen. Worauf rutscht er aus? Wo ist denn dieses Simsblech? Wo exakt befindet er sich jetzt? Ist er abgestürzt? Nein, kann ja nicht sein, denn die Polizisten weisen ja den Vater daraufhin, dass der Suizid von der Kante weg ist. Liegt er jetzt zwischen was weiß ich Kante und Dach?
Das Simsblech schließt die Kante nach oben ab. Direkt vor der Kante ist die Regentraufe eingelassen, darüber ein Metallgitter gelegt. Nun weiß ich nicht so recht, ob mir die Synchronisierung zwischen der Polizei da unten und dem Geschehen auf dem Dach gelungen ist, deine Kritik verstärkt meine Zweifel, und mit dem letzten Absatztrenner (Mittelstern) dem Leser so mir nichts, dir nichts nebenbei zu verklickern, hey, spul noch mal ein paar Treppen zurück, also das ist schon ulkig, kein Wunder, dass mir da einige ausgestiegen sind. Der Funkspruch, dass der Suizid weg von der Kante ist, bezog sich jedenfalls auf Joris, der eigentlich nur zurück ging, um mit Phillip zu duellieren und ihn etwas später vom Dach zu schleudern.

Hm, also, das erscheint mir gerade ziemlich vermaledeit :dozey:. Statt dem Mittelstern irgendwas zu schreiben wie »Treppenhaus. Noch 4 Etagen«, hm, weiß nicht, wirkt wie die Schriftzüge in Schreibmaschinentempo, die oft in US-Krimis/Thrillern Kontextschnitte kennzeichnen, kennst du bestimmt. So nah am Ende wirkt das unbeholfen. Hoffentlich fällt mir da noch etwas ein.

Aus der Geschichte geht hervor, Joris ist nicht unten aufgeschlagen. Philip aber auch nicht bei dem Gerangel, denn sonst hätte der Polizist etwas anderes ins Funkgerät gesprochen.
Und trotzdem wirkt die letzte Szene auf mich als sei etwas Schlimmes mit Philip passiert. Und schlimm kann ja dann nur ein Absturz sein.
Genau, daher auch der Lärm aus Justus' Funkgerät am Schluss.

Auf jeden Fall, um mal wieder etwas Positives zum Schluss zu bringen, habe ich deine Geschichte, die spannend war, gern gelesen.
Das freut mich, dass dir die Geschichte trotz der unverständlichen Stellen gefallen hat.


viele Grüße
-- floritiv.

 

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