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Stiefsöhne
Mein Halbbruder Phillip lehnt gegen das Drahtgitter des Lüftungsschachtes und erwartet rauchend den Ausgang einer Wette. Daneben hockt Joris der Möchtegernfreund und nimmt ihm die Zigarette ab, zieht tief, hustet verhalten. Am Rand des Wohnhausdaches stehe übrigens ich, Joris der Träumer, Joris der leibhaftige Trottel, wie üblich meterweit neben mir selbst. Meterweit? Eigentlich sind Joris und ich durch Millionen Neuronen aneinandergekettet, gefangen in demselben Kopf. Noch – ich sprenge nun diese leidige Bande, schlage sozusagen zwei Fliegen mit einer Klatsche.
Ich stelle mir vor, wie wir über die Steppe reiten. Lucky Phook und Joris, sein Möchtegernsidekick.
»Sieh ihn dir an, den Versager!«, sagt letzterer und sein Esel schnaubt. Blinzelt vor der Abendröte.
»Pass auf, der springt nicht, vielleicht segelt er über den Canyon, zu doof die Schwerkraft zu nutzen!« – Beide lachen auf ihre dreckigste Art.
Und dabei ist es die Gewitterfront, vor der der Versager mit dem krummen Rücken zu ihnen steht, sein Selbstmitleid, seinen Weltschmerz auf den Feierabendverkehr gießt und die Menschheit von oben als Schimmelpilz betrachtet. Sie warten beide darauf, dass er springt. Die Polizei ist noch nicht da. Jeder sieht den doch und denkt, für so einen Versager ruft man sie gar nicht erst, der bringt es nicht, nachher heißt es noch Alarmierung aus Jux, ein saftiges Bußgeld, so etwas.
Leute stehen in einer Traube auf dem Bürgersteig und schauen zu mir empor. Ob sie es schaffen, dem spritzenden Fett auszuweichen?
Phillip und Joris, der Möchtegernbassist von Phillip’s No to Crime, nicken einander zu. Sie stehen auf und hängen sich ihre Luftgitarren um. Die dunklen Wolken über uns scheinen bei den ersten Akkorden zu erzittern.
Grollen.»Spring, und sie wein’n dir nicht hinterher
Papa holte mich einmal mit dem Streifenwagen von der Schule ab, an meinem zwölften Geburtstag. Da lief dieser miserable Metalsong von Kassette, hin und wieder unterbrochen von Funksprüchen. Er pfiff mit und ich versuchte vergeblich, belustigt zu sein.
Spring, und sie feiern doch nur noch mehr
Spring, du bekommst auch Applaus, jaaa—
Applaus für deinen Salto mortale ...«
Papa sah zu mir und zwinkerte. »Schon gut, nicht gerade was für'n Geburtstag, gell?«, sagte er, lachte und hieb mir fest auf die Schulter.
Ich fragte mich damals nicht, ob er bei dem Lied an Phillip dachte, so wenig er ihn ausstehen konnte. Stattdessen wunderte ich mich, dass er mich so von der Schule abholen durfte. Ein paar Jahre später erzählte er mir, sein Chef hätte beide Augen zugedrückt, es sich danach aber anders überlegt: die Beförderung kassiert, ihm eine disziplinarische Maßnahme aufgebrummt und seitdem wäre irgendwie alles auseinandergebrochen, »die übliche Familienscheiße halt – tschuldige«. Dabei hatte ich den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und traktierte die PC-Tastatur, um bei abgestelltem Ton irgendwelche Feindscharen zu verblutsumpfen.»... Spring doch, acht’ der Hölle
Mein Leben: fürs Ende prädestiniert. Schuld daran ist Karina. Dass sie mich ausgerechnet wegen Phillip verlassen hat, wollte ich eine Zeit lang nicht wahrhaben. Für sie ist der Schulhof eben auch nur ein Strich. Kann gern mein zerfetztes Hirn persönlich vom Gehsteig schrubben, mit einer Zahnbürste am besten.
strenge Öffnungsstunden ...«»... Spring – Summer – Fall in Hell
Vor meinem Auge im Hinterkopf fliegt die Stahltür auf. Karina kommt wippenden Schrittes auf uns zu, jubelt, lacht, klatscht über dem Kopf wie auf einem Konzert. Doch als hätte sie den Ernst der Lage erkannt, schreit sie plötzlich dramatisch, klischeehaft und falsch: »NEIINN!! Joris! Spring nicht! Was soll ich ohne dich nur machen? Ich liebe dich. Spring nicht«, fleht sie billig. Und setzt sich doch zu Phillip, der sie an sich zieht und ihr die Tränen von den Wangen leckt. »Bitte, geh da weg! Lass uns neu anfangen, spring nicht, ich liebe dich doch, ich liebe nur dich!«
Winter forever in Paaaradise ...«
Die ersten Tropfen fallen, über den Dächern zucken vereinzelt Blitze. Karina trägt nur noch Socken. Diese Schlampe lässt sich doch tatsächlich stechen, federt in verdammter Anmut auf und ab. »Spring nicht!«, ruft sie, »Spring nicht!«, stöhnt sie, »Springicht! Springicht! Springich!, aah, oh hmm, hspringch!, hsprngch!, hschrngch! –«
Eine heftige Böe fegt mich beinahe vom Dach. Ich wende den Kopf und sehe Phillip kühl an. Joris, Dr. Phillips Möchtegernpatient, hat sich soeben für gesundet erklärt.
Justus hat es schon immer gewusst. Phillip wird seinen Sohn verderben. Wird Joris irgendwann ...
»Hier EK19-A, ich wiederhole: Ich interveniere am Mann, gehe aufs Dach, verstanden?«
Die Tachonadel wischt über die Neunzig, die Sirene vor ihnen scheucht die Autos beiseite.
»Verstanden. Zivil 2, Sie alle bleiben unten und quatschen dem Lebensmüden gut zu. Der Funkwagen fährt weiter und meldet sich wieder bereit.«
»Du«, meint Justus zum Kollegen am Steuer, »hak dich doch mit der Stoßstange ein bei uns'rem Vordermann.«
»Ja, willst du, dass sich einer zwischenschiebt? Ich fahr, du funkst, gleich ersaufen wir sowieso ...«
Justus hasst diese Mischung aus Erleichterung und Furcht. Hat er es nicht gewusst? Nein, sagt er sich, sagt es sich demonstrativ. Er hatte die Gelegenheit genutzt, einfach mal den Kurs zur psychosozialen Notfallhilfe absolviert, eine gute Tat fürs Weiterbildungskonto, nichts weiter.
»Dass Sie es können, weiß ich, aber es wäre mir lieber, wenn ein Unbeteiligter aufs Dach geht, falls ... ja, falls eben.«
»Prima, trinken wir am besten noch ein Tässchen Kaffee, bis sich ein Psychiater in die Spur setzt. Joris und Phillip sind nur zwei von fünfzig, sechzig Kindern in dem ganzen Block, und wenn die eines nicht machen, dann so was!« Eine Lüge, wird sich Justus nun klar. Wenn dieser Einsatz mal nicht sein allerletzter ist.
Die Kilian hob die Brauen. »Lassen Sie wenigstens Ihre Dienstwaffe hier, diesmal, das ist nur ein Suizid.« – Denn du weißt aus Erfahrung, das wäre besser so.
»Was, wenn ein Überredungskünstler auf dem Dach ist? Außerdem weiß ich aus Erfahrung, dass es nicht falsch ist, Dienstvorschriften zu beachten. Die Waffe steck ich in den Innenbund, so.«
»Ts, Überredungskünstler ...«
Er nimmt frühzeitig das Blaulicht vom Dach, noch bevor sie in die Parkgasse des Blocks einbiegen, und spürt ein wenig Genugtuung, dass er sich bei der Einsatzbesprechung durchgesetzt hat. Dem Leiterfahrzeug der Feuerwehr stünden allerhand Autos im Weg und Platz für einen Sprungteppich – Fehlanzeige. Ein flaues Gefühl breitet sich in seinem Magen aus. Die Türen haben mittlerweile engmaschige Gitter bekommen, aber schon längst kein Glas mehr.
Im Treppenhaus stinkt wie üblich Kerberos’ Kot aus irgendeiner Ecke, die Steinplatten kleben. Justus würgt, geht hindurch, am ständig kaputten Aufzug vorbei, mit schmatzenden Schritten sowie der klammen Ahnung, dass das Megafon der Kollegen für diese Höhe zu schwach ist, und das bei diesem Wetter, Jungs, vergesst das mit dem Hinhalten.
Wär Karina doch von Anfang an nur Einbildung gewesen, nur ein Pin-up am Kleiderschrank! Dicke Tropfen platschen auf den Teer. Phillip steht auf, ich gehe langsam auf ihn zu. Er knackt mit den Fingergelenken, bereit zu einem Angriff, doch da ist Joris der Möchtelieberfeind längst bei ihm. Mit einer Kraft, wie sie Phillip bei ihm nie für möglich gehalten hätte, stößt er ihn zu Boden. Kniet sich auf ihn nieder, rammt die Fäuste in sein Staunen, bekommt jeden Schlag von Blitz und Donner untermalt. Joris ist in einer sonderbaren Trance. Jetzt hat er es in der Hand, er hat die Macht. Er wundert sich, dass es so schön leicht geht, so mechanisch und servogelenkt. Wieso hat er es nicht schon früher versucht, es Phillip heimzuzahlen, ihm zu zeigen, dass er kein verhätscheltes Nesthäkchen war, mit dem »Phillip der Erste« umspringen konnte nach Lust und Laune, gewisse Spiele spielen konnte unter brüderlichem Geheimhaltungseid, dem sogenannten »Indianerehrenwort«? Ihm einzuhämmern, dass er nicht alles mit sich machen lässt, er, wenn auch polizeiväterliches Erziehungsprojekt unter dem Motto »Liebevoll und gewaltfrei erzogen wird eben niemand zum Verbrecher, sieh doch hin, Juliane!«, Papas »eigen Fleisch und Blut« und dann trotzdem allein. Dass Phillip sich seine Eifersucht, seinen Neid oder was auch immer sonst wohin stecken soll. Joris, ja, gib es ihm, Papa wird ganz bestimmt stolz auf dich sein und Mama wird bloß wieder weinen.
»Weißt du, Alter«, rufe ich im Takt gedachter Hiebe, »mein – Vater – hätte wirk–lich ab–drücken sol–len!«
Phillip spitzt die Lippen, als wolle er mir Rauch ins Gesicht blasen, und schnippt die nasse Zigarette weg. »Wer hat ihn denn damals daran gehindert, hä? Bist nicht nur so ’ne Memme wie der, zu feige für diese Scheißwelt, bist auch noch zu fett für den Wind! Da muss ich wohl nachhelfen, dreh dich um, da geht’s lang!«
Er schiebt mich unter Aufgebot all seiner mickrigen Kräfte zur Kante. Und hat recht. Manchmal ist er nett. Endlich können wir unsere Geschichte vollenden, nennen wir sie doch die Geschichte von einem, der mich zog, ihn den salto mortale zu lehren. So nehme ich das Angebot an, fresse es, ja, zerre es ihm aus den Fingern. Renne los, ziehe ihn zur Kante und sehe zu, dass er nicht genau hinter mir ist. Dann schleudere ich meinen Arm mit ihm vor wie ein Olympionike beim Diskuswurf. – Nennt mich Meister im Versagen! Dank dem nassen Metallgitter auf der eingesenkten Regentraufe gleite ich seitwärts weg und knalle mit der Stirn voll gegen das Simsblech. Etwas stößt mich gegen den Fußknöchel und ich höre quietschende Stahlscharniere, das heißt, ein irgendwie mehrstimmiges Nein in die Tiefe stürzen …
»Der Suizid ist weg vom Rand, komm runter, das Haus hat schon einen Blitzableiter«, hört Justus ein paar Treppen tiefer über Funk. Umso schneller jagt er die Stufen hinauf. Hechtet durch die aufgebrochene Tür zum Dach und — sieht erstarrt, was einfach nicht sein kann.
Aus dem Funkgerät dringt lautes Knistern und Knacksen, Stimmen, ein Schrei, unverständliche Worte. Sein Sohn kniet vor dem Rand und schaut hinunter.
»Joris ...«
Der blickt auf, wie durch ihn hindurch, stumm formen seine Lippen »P–p–«. Nein. Soll er ihn doch fortan besser Justus nennen oder ›Stiefel‹, was solls, um sich wie Phillip zuverlässig Ohrfeigen einzufangen.