Sterbehilfe (neu)
Da saß ich also, bald würde es soweit sein. Wie ein Priester hielt ich die Hand des jungen Mannes, der vor mir kraftlos in einem großen Bett lag, in meiner. Das Licht habe ich auf seinen stummen Wunsch hin abgedreht, nur der beinahe volle Mond beleuchtete durch ein Fenster schwach den Raum, das Licht diffus reflektiert am frischen weißen Bettzeug.
Es war das erste Mal, dass ich jemanden auf seinen letzten Weg begleite. Still lag er vor mir, seine Hand kühl und schweißnass, mit jedem Luftzug wurde sein Atem flacher, ich sein letzter Vertrauter, sein letzter Freund in dieser kalten Welt. Eine tiefe Traurigkeit umgab uns, zurückgehalten nur von der Wärme, die von der Berührung unserer Handflächen ausging, wie ein fremdes Licht das die trüben Schatten um uns vertrieb. Langsam, beinahe ein wenig verschlafen, schlug der Mann seine Augen auf und sah mich in einer Art an, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ein Blick von einer unfassbaren Schönheit. Er hatte begriffen, dass es zu Ende ging. Er wußte es und er bedauerte es nicht länger, er hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Eine Reinheit, eine unendliche Weisheit lag in diesen Augen und ich beneidete ihn darum. Keine Zweifel, keine Sorgen und kein Leid war darin zu sehen, nur eine große Güte und ewige Dankbarkeit.
Plötzlich spürte auch ich, dass es gleich passieren wird, und mir wurde bewusst, dass der erste wahrlich bedeutende Moment meines Lebens kurz bevor stand, es war der letzte Moment eines anderen. Um mich verschwamm alles, eine Sekunde der Wahrheit kündigte sich an. Der Brustkorb des Mannes hob sich langsam, und wir beide wussten, dass er sich nur noch ein einziges Mal senken würde; dann tat das Herz seinen letzten Schlag. Ein Wunder geschah. Für einen zeitlosen Augenblick war alles klar, unsere Welt war nicht weiter von Belang, Leben und Tod fügten sich wie selbstverständlich zu einem Ganzen. Ein tiefes Verständnis, eine bisher unbemerkte Liebe durchflutete mich und ich verstand. Mein Leben hatte von nun an einen Sinn, eine Bedeutung. Eine höhere Ordnung tat sich auf, nahm etwas mit, berührte mich dabei und ließ mich zufrieden lächeln.
Dann ging ein Zucken durch den Mann, ein schwaches Aufbäumen, eine letzte mechanische Regung der fleischlichen Hülle. Die am Ende krampfhaft zurückgehaltene Atemluft verließ wie ein sanfter Windhauch die Lunge und der Körper erschlaffte endlich.
Er war tot.
Ich saß noch einige Minuten gedankenversunken neben dem Bett und versuchte zumindest kleine Teile des gerade Geschehenen zu fassen, zu behalten, aber mein Geist schien zu klein dafür. Die Realität holte mich langsam wieder ein.
Ich musste die Leiche noch rechtzeitig loswerden.
War ich ein Mörder!? Nein. Aber das Anderen anschaulich zu machen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, sie würden nichts verstehen, nichts begreifen. Nicht, dass ich mich für etwas Besseres hielt als den Rest der Menschheit, nein; ich war nur nicht so mit Blindheit geschlagen wie sie. Blind waren sie. Alle. Mit verschlossen Augen, die Hände gegen die Ohren gepresst, rennen sie durch ihr Leben, verachten die Schönheit die sie umgibt, schaden ihr, vernichten sie. Unfähig auch nur zu erahnen, welche Geschenke ihnen gegeben wurden, ihr Verstand zu klein, um Buntes von Farbe zu unterscheiden. Bunt treiben sie es, aber geben nichts eine Farbe, fristen ihr klägliches Dasein mit sinnloser Arbeit; fressen, saufen, und ficken sich durch die Weltgeschichte, mit billigem Vergnügen betäuben sie ihre Sinne, verkleben und verstopfen sie, verweigern sich einfacher Erkenntnisse, schalten ihr Hirn und ihr Gefühl ab, wenn die Gefahr besteht, dass ihr Innerstes berührt wird. Sie streben nach wertlosen Werten, nach Größe und langem Leben, nach Stärke, Macht und Geld. Sie suchen nach Zielen ohne Vorstellung davon, wo die Anfänge sind.
Das, was sie Leben nennen, ist in Wahrheit nichts anderes als ein langer, qualvoller Tod. Das was sie Freiheit nennen, ein Käfig, den sie selbst versperren. Das, was sie Wille nennen, ihre eigene Dummheit, die sich verselbstständigt hat. Das, was sie Schönheit nennen, abgrundtief häßlich in dem Licht, das sie nicht sehen. Das, was sie Tod nennen, der vollendende Teil dessen, das sie nicht verstehen. Ihre Intelligenz messen sie daran, wie schnell sie Schönheit durch Berechnung und Erklärung zerstören können. Ihre Ordnungen sind Chaos, ihre Leistungen Zerstörung, ihr Sinn Unsinn, die Zeit ihr größter Feind. Der Mensch ist die Fleisch gewordene Verneinung der Wahrheit.
Aber die Frage, ob ich den Menschen hasse, muss ich verneinen. Ich hasse ihn nicht. Ich hasse, was er ist, aber ich liebe, was er sein könnte. Ich liebe die Unschuld, die er in jungen Jahren besitzt und ich liebe die Kraft in seinen alten Augen, kurz vor dem Tod. Aber was ich hasse, das bin ich. Ich hasse mich wegen meines bisherigen Unvermögens, Augen zu öffnen, Zuhörer verstehen zu lassen, Wahrheiten aufzuzeigen. Oh, was habe ich alles versucht, um sie aufzurütteln, was habe ich getan, um ihnen zu helfen. Ich habe jahrelang gegrübelt, geforscht, natürliche Ordnungen offengelegt, ihr Leben vereinfacht. In der Hoffnung, sie würden verstehen, ihre Sinne öffnen. Aber sie gaben mir keine Möglichkeit dazu, meine Errungenschaften, all meine Weisheiten, die Geist und Natur verbinden hätten können, wurden oberflächlich ausgeschlachtet, um mit dem finanziellen Gewinn weiteren geistigen Verlust zu ermöglichen. Mein Ruf, meine Anerkennung als Genius, wurde gegen mich verwendet, um nicht zuhören zu müssen. Die kleine Angst, mir nicht folgen zu können, war ihre geheuchelte Entschuldigung dafür, Ohren und Herzen zu verschliessen; die große Frucht, doch zu verstehen, der wahre Grund.
Aber das ist Vergangenheit, ab heute wird alles anders.
Ich habe etwas bewirkt, ich habe einem verlorenen Menschen etwas geschenkt, die letzte große Erkenntnis. Ich habe etwas erreicht, ich war nicht weiter klein und unwichtig, ich habe geholfen. Ich hasste mich nicht länger, der Anfang war gefunden, ein Beginn, ein Weg, der sich zu lohnen schien.
Ich konnte endlich etwas schaffen, aber ein großes Werk lag noch vor mir.
[Beitrag editiert von: franzl am 30.03.2002 um 11:35]