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Staudemanns Entsetzen

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29.01.2010
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Staudemanns Entsetzen

Die «Neue Zürcher Zeitung» publizierte in der Rubrik «kurz vor Redaktionsschluss eingetroffen», folgende Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur:
«Das seit drei Wochen über den Alpen vermisste Flugzeug der Trans-Airlines wurde gefunden. Einem Sprecher der Bergwacht zufolge hatte das Wrack in einer Vertiefung gelegen. Aus diesem Grund sei es auch zuvor nicht aus der Luft zu erkennen gewesen. Die Rettungsmannschaft entdeckte fünf Überlebende, die der rauen Witterung und der Kälte in diesem Berggebiet trotzen. Nach ersten Angaben kamen die Überlebenden beim Absturz mit relativ glimpflichen Verletzungen davon. Der Absturz forderte das Leben von elf Passagieren und den drei Besatzungsmitgliedern.»

*

Staudemann tobte. «So eine verdammte Schlamperei habe ich in meiner ganzen Karriere noch nie erlebt!»
Seine Mitarbeiter standen schweigend da. So völlig die Haltung verlierend, war er ihnen noch nie begegnet. Als Person strahlte er sonst Ruhe aus, auch war er ein gewissenhafter Pathologe. Unterlief jemandem mal ein Fehler, brauchte er zwar harte Worte, doch blieb er dabei sachlich und war nicht nachtragend. Aber diesmal rötete Zorn sein Gesicht.
«Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist!», brüllte er.
Betretenes Schweigen. Niemand wagte, etwas zu sagen. Dabei wussten alle, dass Leichenteile auch schon mal irrtümlich entsorgt worden waren. Doch diesmal war es anders. Es war kein inneres Organ, kein amputierter Arm oder ein Bein, nein, - ein ganzer Leichnam. Was erschwerend dazukam, war, dass Staudemann die pathologische Untersuchung des Körpers für sich selbst beansprucht hatte.
«Ich gebe dem Betreffenden eine Stunde Zeit, sich bei mir zu melden. Gnade ihm Gott, wenn er es nicht tut. Herausfinden, wer es war, werde ich auf jeden Fall.» Seine Stimme war bei diesen Worten ganz ruhig, aber kalt geworden, sein Gesicht wirkte versteinert.

So unangenehm war es Alice Roessler seit Jahren nicht mehr, ihrem Vorgesetzten gegenüberzutreten. Damals hatte er sie in flagranti erwischt, als sie versuchte, einen alten präparierten Schädel zu entwenden. Es war ein blöder Zufall, da selten jemand das Lager mit den alten Beständen betrat. Er stand plötzlich da, die Situation klar einschätzend, und bat sie mit einer knappen Handbewegung in sein Büro. Die Abkanzlung, welche er ihr zuteilwerden liess, war gnadenlos, doch dann machte er ihr einen Vorschlag, der ihre absolute Loyalität verlangte. Einige Monate später ernannte er sie zu seiner persönlichen Assistentin.
Sie klopfte kurz an die Tür und trat ein. Es war ihm anzusehen, dass die verschwundene Leiche ihn sehr beschäftigte. Die Hände, in denen er einige Papiere hielt, zitterten. Sie hatte über den Verbleib des Toten auch schon alle Möglichkeiten durchdacht. An eine irrtümliche Abführung mit den Sonderabfällen, die zur Verbrennung ins Krematorium gingen, glaubte sie nicht. Sämtliche Kühlfächer waren überprüft worden. Das besagte Objekt blieb unauffindbar.
Er schaute sie wortlos an. Diesen Blick hatte sie bereits erwartet.
«Ich war es nicht», platzte sie heraus und blickte ihm standhaft in die Augen.
«Das habe ich auch nicht angenommen», bemerkte er. «Aber verdammt noch mal, jemand hat es getan. Haben Sie eine Vermutung, wer es sein könnte? Hat jemand von den andern Mitarbeitern Schulden oder einen auffallenden Lebensstil?»
Roessler war erleichtert. Nun, sie sassen im selben Boot. Der Handel mit echten menschlichen Skeletten und Schädeln war äusserst lukrativ, ein schöner Nebenverdienst. Hierbei bedienten sie sich nur an ausgewählten Stücken. Ihr Abnehmer war ein Geschäftsmann in Deutschland, der sich für absolute Diskretion verbürgte. «Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es jemand aus unserem Institut war. Wie sollte jemand von ihnen einen ganzen Leichnam wegschaffen, ohne aufzufallen?»
Darüber habe ich auch lange nachgedacht und sämtliche Ein- und Austrittszeiten unserer Mitarbeitenden geprüft! Nichts Auffälliges, es sei denn, jemand hat den Körper während der Arbeitszeit hinausschaffen und verstecken können. Aber dann fragt sich, wie und wo?»
«Dazu müsste man einen der Wagen verwenden und dies würde auffallen.» Roessler machte ein nachdenkliches Gesicht. «Ausser vielleicht die Putzequipe, die hat doch diese Wagengestelle mit den Säcken. Aber was sollten die Putzfrauen mit einer Leiche tun? Ausserdem haben die ja nur in Gegenwart von Abächerli Zutritt.»
«Jemand pfuscht uns ins Geschäft. Es kann nur jemand sein, der auch Beziehungen zu professionellen Abnehmern hat oder der von Dritten direkt angeworben wurde.» Staudemann klopfte mit einem Finger in gleichmässigem Takt auf den Tisch. Dies tat er zuweilen, wenn er sich stark konzentrierte.
In dem Moment summte das Telefon.

«Ich sagte doch, ich will nicht gestört werden.» … «Ah, der Maegerli. Sehr, sehr dringend meint er, so, so. … Nein. … Ja gut, stellen Sie ihn durch.» Mit der Hand verdeckte Staudemann die Sprechmuschel. «Kennen Sie den Maegerli?»
«Etwa der vom Medizinhistorischen Museum?» Er war der Einzige mit diesem Namen, der Roessler einfiel.
Staudemann nickte.
«Er ist mir schon begegnet, doch kennen, nein.»
«Er geht mir regelmässig damit auf die Nerven, dass er ganz dringend interessante Präparate braucht. Ich werde ihm mal wieder etwas aus unserer Rumpelkammer als Leihgabe zustellen». Dazu grinste er breit.
Alice Roessler war überrascht über seine, für ihn zynisch anmutende Äusserung. Anscheinend gab ihm dies im Moment eine Ablenkung von der heiklen Situation, in der sie steckten.
«Staudemann hier. Hallo Herr Kollege. Ich muss gleich vorausschicken, ich bin in einer wichtigen Besprechung. … Ja doch, ich denke, hierzu kann ich Ihnen ein geeignetes Objekt zur Verfügung stellen. Sie werden Ihre Freude daran haben. … Es ist doch selbstverständlich, dass wir Hand in Hand arbeiten, sofern dies möglich ist. … Also ich werde es Ihnen mit einer kurzen Notiz zustellen. … Ja gut, viel Glück dann mit der neuen Ausstellung.» Er legte den Hörer fest auf.
«Ich habe normalerweise keine Aversionen gegen Menschen, aber diesen Typen mag ich nun gar nicht», bemerkte er grimmig mit herabhängenden Mundwinkeln zu Roessler gewandt. Dabei war seine Mimik während des Telefongesprächs bereits aussagekräftig gewesen.

«Kommen wir wieder zur Sache.» Er wirkte nachdenklich.
«Also mir ist es rätselhaft,» begann Roessler, «ein Dritter kann bei uns ja nicht unbegleitet ein- und ausgehen. Und wer kann was mit einer Leiche anfangen? Dass die Putzfrauen für einen solchen Diebstahl angeworben wurden, kann ich mir nicht vorstellen, da braucht es zumindest einige Kenntnisse, um das richtige Objekt zu wählen. Oder», sie stutzte, «glauben Sie, Maegerli könnte der Auftraggeber sein?»
«Ach Quatsch! Der wäre nicht fähig selbst ein Objekt zu präparieren. Doch, Sie sagten vorhin, Abächerli.» Staudemann überlegte. «Den hatte ich gar nicht ins Visier genommen.»
Roessler machte ein ungläubiges Gesicht. «Aber der versteht doch nicht mal Elementares von Anatomie!»
«Unterschätzen Sie Abächerli nicht.» Staudemann lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. «Er arbeitet bei uns zwar nur als Hauswart. Vor langer Zeit hat er jedoch in Botanik promoviert.»
Roessler schaute Staudemann ungläubig an. «Botaniker … Abächerli.»
«Ich erinnere mich. Als die Personalabteilung mir vor vier Jahren seine Bewerbungsunterlagen vorlegte, verwies man auf seinen tragischen Lebenslauf. Er wurde durch einen Flugzeugabsturz, den er und vier andere Personen überlebten, traumatisiert und war in der Folge zwei Jahre in einer psychiatrischen Klinik. Seinen Beruf hatte er danach nicht mehr aufgenommen. Vielmehr liess er sich umschulen, um künftig einfache, körperliche Arbeiten ausführen zu können.»
«Aber ich sehe da keinen Zusammenhang, weshalb Abächerli den Leichnam entführt haben sollte. Es sei denn, Sie halten ihn einfach für verrückt?»
Staudemann blickte Roessler ernst an. «Verrückt vielleicht. Wer weiss schon, wie beim Menschen die Grenze zwischen Normal und Verrückt exakt verläuft. Ich will ihn nicht auf das Geratewohl hin stigmatisieren, aber er hätte wirklich die Möglichkeit, unbemerkt auch ein grosses Objekt verschwinden zu lassen. Er führt immerhin auch die Überführung der Sonderabfälle aus.»
Roessler war nun verunsichert. «Ja, das stimmt. Aber was macht er denn mit dem Leichnam? Irgendwohin muss er ihn doch gebracht haben? Im Krematorium hätte man die Papiere dazu verlangt. Er wird ihn ja kaum in einem Garten vergraben?»
«Wir beide werden ihm heute Abend einen Besuch abstatten, bei ihm zu Hause. Wir überrumpeln ihn. Möglicherweise begeht er dann einen Fehler und liefert uns ein Indiz. Seine Selbstsicherheit ist ja nicht stark, die lässt sich leicht erschüttern.»
«Sie meinen, wir sollen an der Tür klingeln und sagen, geben Sie uns den Leichnam heraus? Der lacht uns doch glattwegs aus.»
«Nein, nein, ich habe mir da eben einen Gedanken zurechtgelegt. Ein Qualifikationsgespräch ohne Voranmeldung, das klingt doch immer gut. Er wird sich dann sogar geschmeichelt fühlen, dass wir dies zu zweit mit ihm führen wollen, in seiner vertrauten Umgebung. Ich werde mir vorher nochmals seine Personalakte vornehmen, auch den Teil mit den streng vertraulichen Unterlagen.»
Roessler war sich nicht sicher, ob Abächerli auf einen solchen Trick hereinfallen würde. Er hatte auf sie zwar immer eigenartig gewirkt, in seiner stillen, unterwürfigen Art. Intellektuell beschränkt war er dennoch nicht, glaubte sie nun. «Und wenn er gefährlich ist? Gewalttätig wird, weil er sich in die Enge getrieben fühlt?»
«Keine Sorge, wir werden nicht unbewaffnet gehen. Wir nehmen zwei Ordonnanzpistolen mit. Ich habe zu Hause welche aus meiner Zeit im Militärdienst.»
«Sie haben aber nicht vor, ihn umzubringen?» Roessler schaute ihren Vorgesetzten ungläubig an. Der Gedanke war ihr aufgekommen, da ihr Vorgesetzter bei seinen Worten sehr bestimmt klang. Es stand zwar einiges auf dem Spiel. Wenn der Knochentransfer, wie sie es für sich selbst manchmal scherzhaft bezeichnete, rauskäme, wäre es ein arges Fiasko. Doch Mord, nein, dazu wäre sie nie bereit.
«Nein, sicher nicht! Wie ich ihn einschätze, ist er nicht aggressiv. Aber sicher können wir nicht sein. Notfalls zwingen wir ihn mit Waffengewalt zu kooperieren, sollte er sich als der Dieb herausstellen. … Wir selbst könnten ihn ja nicht gut mit den Sonderabfällen im Krematorium abliefern.» Nach den letzten Worten lachte er hämisch.
Roessler lief ein Schauer über den Rücken. Hatte sie ihren Chef unterschätzt, war dieser erheblich skrupelloser, als sie immer gedacht hatte? Bei ihren Nebengeschäften entstand niemandem ein Schaden, darin waren sie sich stets einig gewesen. Hatte der jahrzehntelange Umgang mit Toten ihn etwa entmenschlichen lassen? Ihr war es nicht ganz wohl, aber sie sah auch keine andere Möglichkeit, das Problem anzugehen, als erst mal mit Abächerli zu sprechen. Es war noch nicht gesagt, dass er wirklich damit zu tun hatte oder etwas wusste, beschwichtigte sie sich selbst.

Wie sich herausstellte, war es ein altes Einfamilienhaus mit angebauter Garage, in dem Abächerli wohnte. Auf ihr Klingeln dauerte es nicht lange, bis Abächerli öffnete. Er machte ein überraschtes Gesicht und fing zugleich an zu stottern. «Ich …, ich …»
«Guten Abend, Herr Abächerli! Dürfen wir eintreten?», sagte Staudemann bestimmt.
Abächerli trat widerwillig auf die Seite, er hatte sich noch nicht gefasst, während Roessler sich hinter Staudemann hineindrängte. Staudemann schritt einfach vorwärts, auf die nächste offene Tür zu. Es war das Wohnzimmer, auf dem Tisch stand ein Gedeck mit Essensresten. Sie hatten ihn beim Abendmahl unterbrochen.
«Ich …, ich kann nichts ...» Abächerli war ihnen gefolgt und stand nun verlegen vor dem Tisch.
«Sie wissen, warum wir hier sind?» Staudemann hatte ihn unterbrochen und umgehend seine Taktik geändert, da er das Gefühl bekam, eine Finte sei gar nicht nötig, der direkte Angriff würde hier eher zum Ziel führen.
Abächerli nickte still mit gesenktem Kopf, doch unmittelbar danach presste er trotzig die Lippen zusammen.
«Nun, was haben Sie mir zu sagen?» Staudemanns Stimme klang nicht unfreundlich.
«Ich …, ich weiss nichts.»
«Was wissen Sie nicht?» Die Worte des Pathologen hatten nun einen scharfen Ton.
«Ich habe nur davon gehört. … Ein … ein Toter soll verschwunden sein.»
«Und wie konnte das geschehen? Was denken Sie darüber?»
Abächerli schien krampfhaft zu überlegen, nach Worten zu ringen. «Viel… vielleicht wurde er seziert.»
Diese Aussage liess Staudemann schwanken. Die Vorstellung, der Körper könnte zerlegt und danach entsorgt worden sein, war die ihm untragbarste Antwort, nach der er suchte. … Nein, es konnte nicht sein, dass einer seiner Mitarbeiter einen solchen Fehler beging. Aber Abächerli musste zweifellos etwas wissen, war irgendwie daran beteiligt, darin war es sich nun sicher.
«Hatte es in der Lieferung ans Krematorium Teile, die diesen Rückschluss erlauben? Oder in welcher Form waren Sie daran beteiligt?»
«Bei den Sonderabfällen war keine Leiche, nur das Übliche.» Es war Abächerli anzusehen, dass er log. Schweiss trat ihm auf die Stirn, er verkrampfte sich, die Hände unruhig zusammenballend und wieder öffnend.
Einen Moment herrschte Stille, dann brüllte Staudemann mit wutentbrannter Stimme los.
«Lügen Sie mich nicht so unverschämt an. Ich weiss genau, dass Sie es waren. Ich habe Beweise dafür, dass Sie den Leichnam wegschafften», bluffte er.
Abächerli, der bei diesen Worten zusammengezuckt und aschfahl im Gesicht geworden war, zitterte, wankte. Ein Kollaps schien unmittelbar bevorzustehen.
Staudemann, der das Risiko erkannte, zügelte die aufgekommene Wut und sprach nun mit betont ruhiger Stimme. «Ich bin kein Unmensch, das wissen Sie. Trinken Sie erst mal ein Glas Wasser, und dann erzählen Sie mir, wie es dazu gekommen ist.»
Roessler reichte Abächerli das Glas, welches auf dem Tisch stand, und schob ihm einen Stuhl zu. «Brauchen Sie auch Medikamente?»
Er nickte seufzend. «Dort auf der Anrichte», mit dem Finger dahin deutend.
Staudemann studierte kurz den Beschrieb in der Packung, ein leicht sedierendes Therapeutikum, von dem her ungefährlich. Damit könnte Abächerli sich nicht umbringen.
«Nun, erzählen Sie», wies Staudemann ihn an, als er den Eindruck hatte, Abächerli habe sich soweit erholt.
«Ich kann wirklich nichts dafür. Seit damals, … beim Absturz … wir hatten keine Wahl. Anfänglich dachten wir, es käme schnell Rettung, man würde uns orten. Snacks, die wir aus der Bordküche des Wracks bergen konnten, reichten nur für drei Tage. Doch es war nicht einzig das Hungergefühl, das uns zusetzte. Die Kälte zehrte an unseren körperlichen Energiereserven. Uns wurde klar, dass wir ohne Nahrung in den sicheren Tod abgleiten. Vor Entkräftung einfach daliegen und erfrieren würden. Wir wollten aber leben! So mussten wir davon essen, da es nichts anderes gab. … Noch hofften wir stündlich auf Rettung und warteten, bis es nicht mehr anders ging. Es schmeckte merkwürdig, … erzeugte mir erst einen Brechreiz, doch ich gewöhnte mich daran. … Zuerst schnitten wir kleine Fleischstreifen, die leicht zu kauen waren. Durch die Vereisung der Körper wurde es jedoch zunehmend schwieriger zu schneiden. Irgendwann mussten wir uns an Glieder halten, hackten diese ab und tauten diese an unserem eigenen Körper auf, um dann daran zu nagen. Lange hätten wir wahrscheinlich nicht mehr durchgehalten. …
Später, erst viel, viel später, war es einfach da … ein … Ich weiss nicht, wie ich es nennen soll, ein gieriges, zwingendes Verlangen. Ich musste es beschaffen, zerbrach mir den Kopf, wie ich daran kommen könnte. Kurz dachte ich an Gräber mit frisch Bestatteten. Es war mir aber klar, dass wegen der mikrobiellen Zersetzung das Risiko einer Vergiftung zu hoch ist. Dennoch war ich nah daran, es zu versuchen. Als ich die Stelle ausgeschrieben sah, erschien mir dies wie eine Fügung des Schicksals. Da das Fleisch kühl gehalten wird, und wie ich mir vorstellte, die Körper bereits angeschnitten wären, würde niemand bemerken, wenn ein Stück davon fehlt. Dies erwies sich zwar als Fehleinschätzung, doch da die Überführung der Sonderabfälle auch in meinem Aufgabenbereich lag, war ich gerettet.»
Staudemann verspürte Übelkeit, es würgte ihn im Hals! Er hatte schon faulige, ekelerregende Körper unter den Händen, an denen nichts mehr Ästhetisch wirkte. Aber sich einen solchen Verwendungszweck für menschliche Körperteile vorzustellen, war direkt abscheulich und pervers. Nicht im Entferntesten hatte er eine solche Erklärung erwartet.
Roessler bekam ein flaues Gefühl im Magen, als sie die Tragweite begriff. Mit Widerwillen starrte sie auf den Teller. Da lagen nebst Gemüse auch Fleischreste. Ein kleines angebratenes Stück, das unter gehacktem Kohl hervorragte, erschien ihr nun wie ein Finger. Sie kämpfte einen Augenblick mit einem Brechreiz.
«Das ist Kannibalismus», entfuhr es ihr.
Staudemann hob beschwichtigend die Hand. Bei ihm setzte kaltblütiges Kalkül ein. Sein Verstand arbeitete einwandfrei, den aufgekommenen Schock hatte er bewältigt. «Wo ist der Leichnam?», fragte er ruhig.
«Ich konnte nicht anders.» Abächerli wiederholte es sinngemäss wieder, doch erhob er sich und ging auf eine Tür zu.
Staudemann und Roessler folgten ihm, darauf gewappnet, er könnte versuchen zu flüchten oder versuchen sie auszutricksen. Hinter der Tür führte eine Treppe ins Untergeschoss. Ein dumpfer Geruch schlug ihnen entgegen, als ob sie in eine alte, modrige Gruft abgestiegen wären. Als erstes erblickte Roessler einen mit Knochen gefüllten Drahtkorb. Instinktiv umfasste sie die Pistole in ihrer Manteltasche mit festem Handgriff. Sie war wild entschlossen sofort zu schiessen, wenn Gefahr droht. Der Anblick, der sich ihr bot, versetzte sie in Panik. Eine Katakombe war ihr erster Gedanke. Die Knochenansammlung waren nicht die Überreste eines einzigen Menschen. Mit geübtem Blick machte sie Arm- und Beinknochen aus. Erst jetzt entdeckte sie noch weitere mit Knochen angefüllt Behältnisse. Staudemann war auch sehr erschrocken, als er die Anhäufung an Knochen bemerkte. Instinktiv registrierte er ihre Zuordnung Tibia, Fibula, Pes, Ulna, Radius. Kein Cranium, kein Scalpula, soweit er es überblicken konnte. Nirgends ein Crista iliaca. Er atmete auf, dann lachte er verbittert still. Unglaublich, was Abächerli da zusammengetragen hatte. Es waren Überbleibsel von amputierten Beinen und Armen, die hier lagerten. Demzufolge verspeiste er nicht nur Innereien, die keine wesentlichen Abfälle zurückliessen. Seine Vorliebe musste das gute Fleisch sein, wenn er dessen habhaft wurde.
«Warum zum Teufel, bewahren Sie diese Abfälle hier auf?», herrschte er Abächerli an.
«Ich getraute mich nicht, sie abzuführen. … Ich nahm mir immer wieder vor, einzelne Stücke mitzunehmen und mit den Sonderabfällen zu entsorgen. Doch fehlte mir jeweils der Mut. Man hätte es entdecken und fragen können, woher dies kommt.»
Auf einer Werkbank, die mit einer Marmorplatte überdeckt war, lagen ordentlich ausgerichtet Werkzeuge, verschiedene Messer, eine Säge und ein Hackbeil mit breitflächiger Klinge. Daneben war auch ein Sezierbesteck in einer Schale. Der Boden um die Bank herum wies dunkle Flecken auf, es musste eingezogenes Blut sein.
Staudemann atmete schwer, der Anblick dieser Schlachtbank hatte ihm die letzte Hoffnung geraubt, den Leichnam noch unbeschadet vorzufinden. In seinem Kopf hämmerte es migräneartig. So was Scheussliches hatte er noch nie erlebt. Am Körper spürte er kalten Schweiss, der die unerwartete Situation ihm auslöste. Schleichend kam ihm Furcht auf. Es war doch sinnvoll gewesen, die Waffen mitzunehmen. Eigentlich wollte er damit nur die Roessler beruhigen, da sie, wie er zuvor meinte, eine unsinnige Angst hatte.

«Wo sind die restlichen Teile der Leiche?» Staudemanns Stimme war heiser. Er musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut zu schreien oder seine Wut gar mit Schlägen an Abächerli abzureagieren. Ein elendes Gefühl beherrschte ihn, wie er es an sich bis anhin nicht kannte.
Abächerli hatte eine sich steigernde Angst. Da sie sein Geheimnis nun kannten, fühlte er sich wehrlos und ausgeliefert. Die gereizte Anspannung von Staudemann war ihm bedrohlich spürbar. «Nein, nicht», rief er, als Staudemann einen Schritt auf ihn zumachte, und hob schützend die Arme vor sein Gesicht, wie wenn er damit eine massive Gefahr abwehren könnte. Als nichts geschah, überlegte er krampfhaft, wie er sich noch erklären, ihr Verständnis erlangen könnte.
«Ich hatte nur einmal mit jemandem darüber gesprochen.»
Staudemann blickte ihn entgeistert an. «Sie haben mit jemanden über den Leichnam gesprochen.»
Roessler entfuhr, «Maegerli?»
Abächerli merkte, dass er missverstanden wurde. «Nein, nicht über diesen Toten. Einfach über das Verlangen nach Menschenfleisch, das mir aufgekommen war. … Es war der Psychiater, der meine Nachbehandlung nach der Entlassung aus der Klinik übernahm. Er sah darin nur vorübergehende neurotische Zwangsgedanken, die mir wahrscheinlich ermöglichen, das traumatische Geschehen zu verarbeiten, wie er meinte. Ein Aggressionstest, den er mit mir durchgeführt hatte, brachte keinerlei Hinweise darauf, dass ich für mich selbst oder meine Umwelt eine Gefahr darstelle. Ich könnte wirklich niemandem etwas Böses antun und habe doch nur das Fleisch genommen, das man sonst vernichten würde. Die Begierde löste sich jedoch nicht auf, wie der Doktor meinte, auch wenn sie nur sporadisch auftritt.»
Staudemann wiederholte seine Frage nach dem Verbleib der Überreste der Leiche ungeduldig. Abächerlis weinerliches Geschwafel interessierte ihn nicht. Zum Glück war ja niemand anders in die Sache verwickelt.
Abächerli trat nun mit unsicheren Schritten auf eine der beiden Tiefkühltruhen zu, die an einer Wand standen. «Da drin.»
Staudemann, der den Deckel anhob, erblickte einen nackten, von Plastikbeuteln teilweise zugedeckten Torso. Der Anblick schmerzte ihn. Als er die darum liegenden Beutel zur Seite schob, kam jedoch immer mehr vom Körper zum Vorschein. Der nackte Mann lag da mit einer leichten Eisschicht überzogen. Keine sichtbare Schnittstelle, kein abgesägtes Teil, das ihn verstümmelt hätte. Staudemann verspürte eine Hitzewallung, er atmete schwer, als er erkannte, dass das Skelett noch völlig intakt war, nicht zersägt. Sie waren Abächerlis Absichten zuvorgekommen. Die Spannung, welche ihn seit dem Morgen im Griff hatte, als er den Verlust des Leichnams entdeckt hatte, fiel ab und schlug nun in Erschöpfung um. Er brauchte einige Minuten, diesen Krisenpunkt zu überwinden. Geschäftig untersuchte er den gefrorenen Toten von allen Seiten, damit die andern ihm seine vorübergehend labile Konstitution nicht anmerkten.

Im Wohnzimmer nahm Staudemann sich Abächerli hart vor, quetschte ihn aus. Er gestand, dass er sich seit Jahren an den Sonderabfällen bedient hatte. Im Krematorium nahm man es nicht detailgenau, was er da ablieferte. Er hatte jeweils gewartet, bis alles im Verbrennungsofen war, um sicherzugehen, dass die Listen nicht noch überprüft wurden. Es gab da nie Probleme. Nur wenn er ganze Körper abliefern musste, liess sich nichts deichseln.
«Als ich zufällig bemerkte, dass ein Toter in einem Kühlfach lag, bei dem vermerkt war, dass er keine Angehörigen hat, da dachte ich mir, es wäre meine Chance.»
«Sie Idiot», Staudemann war nun richtig grob. «Sie hatten dabei Ihren Verstand überhaupt nicht eingesetzt? Meinten Sie, ich zucke mit den Schultern, wenn eine Leiche bei uns spurlos verschwindet? Oder glaubten Sie, ich würde denken, der Mann sei selbst hinausspaziert?»
«Ich konnte … nicht mehr logisch denken. … Da war nur dieses übermächtige Verlangen. Ein ganzer Mensch, wie damals. Dies brachte mich einfach von Sinnen. Ich musste es tun.»
«Und was soll ich jetzt mit Ihnen machen?»
Abächerli zuckte die Achseln, den Kopf gesenkt.
«Wenn ich die Polizei verständige, kommen Sie lebenslang in eine Anstalt. Wollen Sie das?»
Der verschüchterte Abächerli wirkte hilflos, verloren. … «Nein», flüsterte er nach langer Pause mit kaum vernehmbarer Stimme.
«Ich gebe Ihnen noch eine Chance, es ist aber die einzige!» Staudemann kalkulierte messerscharf seine Risiken. Aufgrund des Sachverhaltes könnte er Abächerli problemlos den Behörden übergeben. Allerdings käme es dann zu einer minutiösen Untersuchung der Abläufe am Institut, was auch ihn erheblich in Gefahr brachte. So blieb nur, Abächerli in seine absolute Abhängigkeit zu bringen, ähnlich wie Roessler. Nur bei Abächerli musste er sicherstellen, dass seine Triebe stets gestillt blieben. So könnte er ihm sogar von direktem Nutzen sein für die Auslieferung der Objekte.
Abächerli hatte den Kopf gehoben, ungläubig starrte er Staudemann an.
«Sie werden den Leichnam noch heute Nacht wieder zurückschaffen, und zwar unbeschadet. Ich werde es als einen Kommunikationsfehler darstellen, dass der Leichnam irrtümlich an ein anderes Institut überführt wurde.»
Abächerlis Gesicht, das bis anhin totenbleich gewesen war, nahm wieder etwas Farbe an. Seine Augen glänzten, Tränen standen ihm zuvorderst. Er griff nach der Hand von Staudemann und wollte sie küssen, was dieser barsch unterband.
«Im Gegenzug erwarte ich absolute Loyalität von Ihnen. Mit absolut meine ich wirklich Kadavergehorsam, der durch nichts gebrochen werden darf. Ansonsten werde ich persönlich besorgt sein, dass Sie auf ewig in einer geschlossenen Klinik untergebracht werden.»
«Sie können sich auf mich künftig hundertprozentig verlassen, Herr Professor. Ich würde für Sie durch das Feuer gehen.»
«Ich werde Sie ab und zu mit Sonderaufgaben betrauen, von denen ausser mir und Frau Roessler absolut niemand wissen darf.»
Roessler war verblüfft. Ihr Vorgesetzter löste die bisher vorhandenen logistischen Probleme raffiniert und auf einen Schlag.
«Ich werde alles tun, was Sie mir befehlen», warf Abächerli unterwürfig ein.
Staudemann blickte ihn noch einen Moment nachdenklich an, dann lächelte er und sagte gütig: «Im Gegenzug dürfen Sie sich behutsam, aber wirklich nur behutsam, von den Sonderabfällen bedienen. Da hat es nebst Innereien doch immerhin ab und zu auch ein gutes Stück Fleisch dabei. Auch der Leichnam», er deutete in Richtung zu dem Kellergeschoss, «wirft dann ja einige sehr schöne Teile ab. Wir brauchen letztlich nur das unbeschadete Skelett.»

 

Lieber Asterix

Ach was. Würd ich nicht machen, in einer Horrorgeschichte die Gefühlslage des Monsters erklären.

Erklären, nein das werde ich in der Geschichte nicht und würde es auch bei einem Krimi nicht tun. Ich hatte mit der Idee gespielt, ein paar seiner Gedanken und Stimmungslagen einzublenden. Ich habe dies im Manuskript bereits nachvollzogen, doch nicht so weitgehend, nur Letzteres. Dafür kommt noch eine Erinnerung dazu, dass er es seinem Psychiater gegenüber erwähnte, dass er ein solch zwanghaftes Verlangen hat, der es aber negierte.

Das Motiv, das du hartnäckig in Frage stellst, :D ist eben in der Verkupplung verschiedener Störungsbilder (Syndrom) gegeben, die m. E. für die Plausibilität und den Leser so durchaus ausreichend sind. Punktuell geht aus dem Text – nun vielleicht etwas klarer - hervor, dass er traumatisiert war und auch, dass er unter einem inneren Zwang handelt.


+​

Hallo Proof

Ich denke auch nicht, dass mit den Änderungen/Erweiterungen Abächerli entzaubert wird. Er ist ein Opfer, das sich zur Befriedung seines zwanghaften Verlangens andere Opfer unter den Toten wählt. Frankensteins Geschöpf war vergleichsweise ja auch nur ein Opfer seines „Machers“, nicht von Natur aus Böse, es waren die Umstände und sein Äusseres, die ihn zum Monster werden liessen.

Vor allem auch, weil ich es bei längerem Nachdenken rein küchenpsychologisch gefühlt eher als logisch erachte, dass jemand zum Vegetarier wird, weil er mal gezwungen war, Menschenfleisch zu essen.

Ein durchaus denkbarer Reflex, der wohl die meisten Menschen bestimmen würde. Obwohl, ich selbst hätte mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Mühe damit, wenn mein Metzger mir mitteilen würde, versehentlich sei bei ihm Menschenfleisch in den Handel gekommen. Ich sei einer der Betroffenen, denen er davon verkaufte. Das Kalbsplätzchen, welches er zur Entschädigung anbieten würde, nähme ich entgegen. :D
Ganz anders wäre es für mich, wenn hierfür ein Mensch extra getötet worden wäre, das wäre dann auch mir und meiner Verdauung wohl kaum erträglich. Eine Abwägung Vegetarier zu werden, wäre aber nur halbherzig, da ich keineswegs jeden Tag Fleisch esse.

Wie ich vorstehend anmerkte, habe ich die Geschichte bereits überarbeitet und das Geschehen in Abächerlis Haus konfliktreicher ausgeweitet und dämonisiert, eher realistisch zwar, aber dem Ruf danach einigermassen folgend. Bevor ich sie einbringe, feile ich jedoch noch etwas daran. Aber sie folgt dann wohl in einigen Tagen.

Schöne Grüsse euch beiden

Anakreon

 

Gern gelesen, Deine Geschichte. So vieles ist schon gesagt, ich kann beim beste Willen nichts mehr hinzufügen, somit freue ich mich auf die überarbeitete Variante.
Der Schritt zum Vegetarier gelingt vermutlich reibungslos, wenn man sich den Weg seines Schnitzels vor Ort ansieht. An den Zangen gefesselte, seit Stunden ohne Wasser auf Eis liegende Hummer, Krebse und Krabben lassen wenig Appetit auf eine Paella aufkommen ... Menschenfleisch hätte ich jetzt persönlich auch nur Bock, wenn es vielleicht die Herzklappe von Assad wäre ... oder so ...

 

Ciao Nastro

Das gern gelesen freut mich sehr.

Für die neue Version gebe ich mir nochmals 24 Stunden Zeit, um darüber zu schlafen und sie nochmals zwei, dreimal durchzusehen.

Stark Abhängigen von Horror wird sie nicht den ihnen wahren Kick bringen, dazu fehlt dem Makabren die Überdosis, welches ihnen den Boden unter den Füssen entziehen würde. Aber ich denke es reicht aus, dass inspirierte Leser in der folgenden Nacht nicht auf einen Albtraum verzichten müssen.

Danke fürs Lesen und viel Spass dann, bei der neuen, leicht gruseligeren Version.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Überarbeitung:

So, das ist sie, die neue Version. In Teilen erfuhr die Geschichte Kürzungen, Änderungen und Ergänzungen. Insgesamt ist sie um über 300 Wörter angewachsen, wobei ich insbesondere die Szenen im Schlussteil erweiterte. Bei der Überarbeitung zog ich die Kritiken, Hinweise und Anregungen heran, doch – meine Intention wahrend.

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Ana,

Mann, er hat den Zeitungsartikel mit vorgeschlagen, und jetzt muss er noch stänkern. Denkst du gleich wahrscheinlich. :D

Das seit drei Wochen über den Alpen vermisste Flugzeug der Trans-Airlines ist gefunden worden.

Durchs Passiv umgehst du das Wer. Die Traum-Meldung eines Stromkonzerns zu erhöhten Preisen sieht so aus: Die Strompreise sind zum dritten Mal in dieser Woche erhöht worden. Als wenn's einfach so passiert. Alternativloser Sachzwang, wie der Abbau des Sozialstaats.


Da das Wrack in eine Mulde abgestürzt war, erkannte man es aus der Luft kaum.

Mit man verhält es sich ähnlich. Wer ist das? Das klingt auch zu literarisch für eine nachrichtliche Meldung. Die ginge eher so: Einem Sprecher der Bergwacht zufolge hatte das Wrack in einer Vertiefung gelegen. Aus diesem Grund sei es auch zuvor nicht aus der Luft zu erkennen gewesen.


Dass sie der rauen Witterung und der Kälte in diesem Berggebiet trotzen und dies ohne Nahrung durchstehen konnten, ist erstaunlich.

Damit müsste ein Angehöriger des Rettungsteams zitiert werden, sonst ist „erstaunlich“ eine Wertung des Autors.


Trotz der enormen Strapazen machten sie einen gefassten Eindruck.

Dito, oder Konjunktiv, um zu zeigen, dass du weiter indirekt zitierst.


Nenn's Haarspalterei, aber eine glaubwürdige Meldung lässt die Gesichte auf jeden Fall gewinnen.

Da ich keine Lust habe, nochmal sämtliche Kommentare zu lesen, beschränke ich mich mal auf Sachen, die mich echt anspringen, wegen der Gefahr, mich selbst oder andere zu wiederholen.


Niemand wagte, beschwichtigend etwas zu sagen.

Stell dir den Satz mal ohne „beschwichtigend“ vor.


ihm standhaft in die Augen schauend

Für meinen Geschmack partizipierst du etwas zu gerne.


ohne aufzufallen?»
Darüber < fehlen Anführungszeichen


Hatte der jahrzehntelange Umgang mit Toten ihn etwa entmenschlichen lassen?

Du haderst selbst mit der Leichtfüßigkeit, mit der Roessler akzeptiert, dass sie dem Abächerli bewaffnet die Bude stürmen werden. Und du hast recht: Das geht zu schnell und zu locker von der Hand. Das ist eine Ebene von Kriminalität – gehoben nenn ich's mal – auf der sich auch diese Göttinger Organdealer bewegt haben. Ich habe da keine Leute vor Augen, die sagen: Wenn er frech wird, schieß ich halt auf ihn. Auch nicht nur ins Bein oder so, um ihn kampfunfähig zu machen.


«Ich …, ich weiss nichts. Bei den Sonderabfällen war keine ganze Leiche.»

Ist das irgendwo schon einmal erwähnt worden, ihm gegenüber, dass er verdächtigt wird? Wenn nicht und wenn dieses unaufgeforderte Geständnis sein immenses schlechtes Gewissen verbildlichen soll – das geht mir definitiv zu schnell, egal wie schuldgeplagt er da vor sich hin schmatzt.


dass er lüg

log


Abächerli der bei diesen Worten zusammengezuckt und aschfahl im Gesicht worden war

Abächerli, der bei diesen Worten zusammengezuckt und aschfahl im Gesicht geworden war


Ich kann wirklich nichts dafür. Seit damals, … beim Absturz … wir hatten keine Wahl. Wir mussten davon essen, es gab nichts anderes. … Wir warteten, bis es nicht mehr anders ging. Es schmeckte merkwürdig, … erzeugte mir erst einen Brechreiz, doch ich gewöhnte mich daran.

Das geht eleganter. Ich würde Erinnerungen von Leuten recherchieren, die gehungert haben, und mich davon inspirieren lassen. „Nichts anderes“ geht auch wieder zu schnell und das stimmt auch bestimmt nicht. Hast du Überleben gesehen, die filmische Adaption deines Vorbilds? Wie sie sich tagelang von einem Stück Schokolade und einem Schnapsglas Wein pro Tag ernähren, bis es halt wirklich „nichts anderes“ mehr gibt? Dann der ultimative Zivilisationsbruch – als schönes Detail empfände ich zum Beispiel, wenn er die Stücke zu Beginn immer so geschnitten hat, dass es alles Mögliche hätte sein können, bis eben irgendwann nur noch Finger und Zehen zum Abnagen da waren …

Staudemann war entsetzt!

:lol: Das wirkt fast ein bisschen, als wolltest du die Kritiker veräppeln, die moniert haben, dass Staudemanns Entsetzen dem Titel zum Trotz völlig ausbleibt.

Mit Widerwillen starrte sie auf den Teller, da lagen nebst Gemüse auch Fleischreste.

Zwei Sätze.


Sie war wild entschlossen sofort zu schiessen, wenn Gefahr drohte,

drohte.


Die Knochenansammlung deutete darauf hin, dass es nicht die Überreste eines einzigen Menschen waren.

Auch das ginge präziser: Ihr geschultes Auge zählte sechs Schienbeine, mindestens vier Unterkiefer etc.


Instinktiv registrierte er ihre Zuordnung Tibia, Fibula, Pes, Ulna, Radius.

Ja, so, nur weniger akademisch.


Er war sich über die akute Gefahr im Klaren, in die ihn die beiden gebracht hatten.

Jetzt wird’s einer zu viel. Du springst bereits vorher zwischen den Innenansichten von Roessler und Staudemann hin und her, was ich in einer Kurzgeschichte eigentlich nicht so optimal finde. Abächerlis Panik würde ich mit Dialog rüberbringen.


ermöglichen

t


Dieser gestand,

„Er“, auch wegen des weiteren Verlaufs des Satzes kann nur Abächerli gemeint sein.


Nur wenn er ganze Körper abliefern musste, es waren stets Tote, die noch Angehörige hatten, liess sich nichts deichseln.

Der Einschub zerschießt den Satz.


das bis anhin totenbleich war

gewesen war

Wenn ich das richtig sehe, hast du inhaltlich von den Kritikern vor allem den Punkt aufgenommen, dass Abächerli sich zu schnell in sein Schicksal ergibt. Du hast ein oder zwei Absätze mit einer Art innerem Monolog hinzugefügt (Abächerli in Angst, was sollte er jetzt tun usw.). Um ehrlich zu ein, hatte zumindest ich auf ein bisschen Action gehofft, als ich den Vorschlag gemacht hatte. Okay, du sagst, deine Intention soll gewahrt bleiben, geht ja auch klar. Ich mag die Geschichte aber immer noch im Kern, deshalb mäkele ich soviel daran rum. Da geht echt mehr.


Beste Grüße
JC

 

Hallo Proof

In vermeintlich undurchdringliche Nebelschwaden verhüllt, hatte ich mich aus dem Horror verdrückt. Literaturwissenschaftliche Quellen brachten mir die Erkenntnis, dass Schrecken das tragende Element dieses Genre ist, etwas, dem ich nie gerecht zu werden vermag. Ha, und nun gräbst du vor der Verjährungsfrist eine meiner alten Leichen aus. :cry: Aschfahl bin ich nun im Gesicht - der Horror hat mich eingeholt.

Mann, er hat den Zeitungsartikel mit vorgeschlagen, und jetzt muss er noch stänkern. Denkst du gleich wahrscheinlich.

Oh, ich vermerkte dies mit Nachsicht, da aus dir ganz der Zeitungsmann spricht, dem bei Darstellung einer solchen Agenturmeldung das Herz bluten musste. :D Aus Distanz betrachtet sehe ich jetzt aber ein, es klingt völlig unmöglich. Da ich es darüber hinaus der altehrwürdigen NZZ unterstellte, werde ich mich baldmöglichst ans Werk machen, es annähernd fachlich korrekt zu formulieren, bevor die mich der Verleumdung bezichtigen.

beschränke ich mich mal auf Sachen, die mich echt anspringen,

Geknickt sehe ich ein, was ich da hinterlassen habe. Da muss ich sorgfältig nochmals darüber. Dies wird mir allerdings nicht von heute auf morgen gelingen, doch ich denke demnächst.

Ich mag die Geschichte aber immer noch im Kern, deshalb mäkele ich soviel daran rum. Da geht echt mehr.

Das gibt mir einen Kick, mich erneut nochmals daran zu wagen, damit es einen horrorwürdigen Eindruck gewinnt. Ob es mir gar gelingen mag, ein wenig von diesem mysteriösen Schrecken einzufangen, bin ich nun selbst gespannt.

Ich danke dir herzlich für das erneute Lesen, die Mäkelei und die Hinweise, welche mir die Schwächen von Sequenzen vor Augen führten. Diese berücksichtige ich vollumfänglich und sehe mal, an welchen Stellen ansonsten das Skalpell noch zwingend angesetzt werden muss.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Nachbearbeitung

Die Kritik von Proof aufgreifend, habe ich den Stoff erneut nachbearbeitet. Die Zuordnung der Knochen mit medizinischen Namen behielt ich bei, da es sich um einen Gedankengang von Staudemann handelt. Ihre Bedeutung geht aber aus andern Sätzen weitgehend klar hervor. Über die eingebrachten Kritikpunkte hinaus habe ich in weiteren Passagen Änderungen und Erweiterungen vorgenommen. Der Schrecken für die Protagonisten als auch die Leser sollte sich dadurch intensiviert haben.

Also auf ein schreckhaft vergnügliches Lesen.

Anakreon

 

Lieber Anakreon,
das ist es, ein schreckhaft vergnügliches Lesen.
Die Verbesserungen haben gut getan. Ich habe die Geschichte erneut mit großer Spannung gelesen, auch wenn ich schon wusste, wie alles ausgehen wird.
Zuletzt hast du an der Zeitungsmeldung überarbeitet und an der Szene mit Abächerli. Oder?
Die Zeitungsmeldung find ich gut, sie fügt sich nahtlos ein, man sieht ihn vor sich, den kleinen Artikel. Aber heißt das tatsächlich Schweizerische ... und nicht einfach Schweizer ...?
Der Abächerli ist zwar nicht unheimlicher geworden, aber er gibt erst später auf. Das wirkt glaubwürdiger. Überhaupt wirkt seine ganze Person noch echter als vorher. Ich weiß nicht mehr, wieviel du neu hinzugefügt hast, ist ja auch egal, es hat jedenfalls Spaß gemacht, es noch einmal zu lesen.
Hast du gut gemacht. Und ich habe es sehr gern noch einmal gelesen und bin immer noch erstaunt, auf welch abgefahrene Ideen du so kommst.
Viele liebe Grüße von Novak

 

Liebe Novak

Das freut mich sehr, dass du dich nochmals an diese sonderliche Gourmet-Geschichte gewagt hast und die Nachbesserungen als schreckhafte Aufwertung wahrnahmst. Trotz auch vorgenommenen Kürzungen hat sie um eine A4-Seite zugelegt.

Ja, die Zeitungsmeldung habe ich stark gekürzt und umformuliert.

Aber heißt das tatsächlich Schweizerische ... und nicht einfach Schweizer ...?

Hiermit hast du mir wahrhaft einen Schrecken eingejagt. :D Ich hatte es blindlings geschrieben und musste nun erst mal nachsehen, wie der offizielle Titel der SDA lautet. Aber tatsächlich, es heisst Schweizerische Depeschenagentur. Seufz. Wir Helvetier mögen es manchmal eben etwas drollig.

Der Abächerli ist zwar nicht unheimlicher geworden, aber er gibt erst später auf. Das wirkt glaubwürdiger. Überhaupt wirkt seine ganze Person noch echter als vorher.

Wenn es so zum Ausdruck kommt, bin ich vollauf zufrieden. Man soll ihn mit einem unscheinbaren Nachbarn verwechseln können, der immer freundlich grüsst aber eher scheu ist. Niemand käme da auf den Gedanken, der süssliche Duft aus der Bratpfanne, der aus dem Küchenfenster dringt, hätte eine andere Ursache, als dass das Fleisch mit Paprika bestreut wurde. :eek:

bin immer noch erstaunt, auf welch abgefahrene Ideen du so kommst.

Das kommt vielleicht davon, wenn ich museale Bösewichte über andere Leute in übelster Weise zetern höre, und dann überlege, wie könnte ich dem einen Tritt ans Schienbein geben. :D Nein, im Ernst, es sind spontane Einfälle die sich ergeben, wenn ich irgendein Stichwort höre und daraus ein grotesk entfremdetes Bild ableiten kann. Die Geschichte bildet sich dann selbst und will nur noch fantasievoll ausgeschmückt werden. :Pfeif:

Herzlichen Dank für das nochmalige Lesen und Kommentieren, die mir die bald phobische Aussichtslosigkeit, den Schrecken einfangen zu können, nun doch etwas mindert. Ich habe mich darüber sehr gefreut.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Ha!, ich glaube,

lieber Anakreon,

Du willst verhindern, dass ich den Text zum nächsten Festtag hierorts (Altweiberfastnacht) unter der Narrenkappe auswändig vortrage. Aber wären noch ein paar Korrekturen beim Neulernen aufgefallen:

Zeichensetzung​

… Oder», sie stutzte, «glauben Sie[,] Maegerli könnte der Auftraggeber sein?»

Hier nun wäre der abschl. Punkt vors ausl. Gänsefüßchen zu setzen.
Roessler schaute Staudemann ungläubig an. «Botaniker … Abächerli».

«Als ich zufällig bemerkte, dass ein Toter in einem Kühlfach lag[,] bei dem vermerkt war, dass er ...»

Flüchtigkeit (?) und​
Fälle-Falle:​

Besser vllt.
Ein[en] Moment herrschte Stille …

… Innereien, die keine wesentliche[en] Abfälle zurückliessen.

Seine Vorliebe musste das gute Fleisch sein, wenn er dem habhaft wurde.
besser Genitiv:
…, wenn er de[ssen] habhaft wurde.

Da war wohl die Konzentration bissken weg:
Ich könnte wirklich niemanden etwas Böses antun und habe doch nur das Fleisch genommen, dass man sonst vernichten würde.
niemandem …., das …

So, jetzt nehm ich wieder den Grass oder …

Immer wieder gern gelesen vom

Friedel,
der oben natürlich gelogen hat. Tatsächlich nimmt er sich nach der Stunksitzung frei vom jecken Dasein (es sei denn, die Jeckblagen wollen mit ihm Rugby-spielen).

 

Lieber Friedel

Die Vorahnung, jene, die sich vom magischen Denken abhebt, mahnte mich nicht zu stark in diesem „Gourmet-Topf“ zu rühren, da Friedel mit geübtem Blick sicher nicht nur ein Haar in der Suppe finden würde. Doch sass mir der Zwang nach dem Schrecken zu suchen im Genick, was meiner Fahrlässigkeit Vorschub leistete, und oh weh, du die Karnevalsrede nochmals neu einstudieren musst. Damit die Gänsefüsschen dir bei der wörtlichen Rede, in Erinnerung an den geschriebenen Text, nicht ein verflixtes Bein stellen, habe ich all deine lektorierten Punkte schleunigst eingesetzt. Natürlich mit Bückling vor jedem Einzelnen.

So, jetzt nehm ich wieder den Grass oder …

Jetzt sag aber nicht, die Gourmet-Küche von Abächerli habe dich auf den „Butt“ gebracht, er bevorzugt es menschlicher. Dabei hat er natürlich gar nichts gegen Grass, fühlt sich dessen lyrisch menschlicher Regung, als gemeinsamer Nenner, vielmehr verbunden.

Tatsächlich nimmt er sich nach der Stunksitzung frei vom jecken Dasein (es sei denn, die Jeckblagen wollen mit ihm Rugby-spielen).

Jetzt muss ich in der Deutschen Nationalbibliothek doch mal nach einem Buch zum Verständnis des niederrheinischen Dialekts suchen. Oder ist Jecken etwa das, was die rheinabwärtsgeschwemmte Helau Alaaf-Gemeinde für ihre Aktiven als liebkosende Bezeichnung bereithält?

Ich danke dir herzlich für das nochmalige Lesen und die Hervorhebung der noch dunkleren Seiten, deren Makel sich wieder einzig auf das Thema beschränkt.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Die Vorahnung,...

Ach,

Anakreon,

Du brauchst Dich doch nicht entschuldigen und Bücklinge brausts schon überhaupt nicht... und das ich Karnevalsreden hielte ist ja auch erstunken und erlogen, sehn wir mal von meinem Wallensteintext ab. Aber der ist alles andere als jeck (= verrückt, albern, nicht aber dass jeder Jeck "Albert" hieße). Aber wenn ich 355 Tage im Jahr jeck bin, entflieh ich der Tollen Tage.
Und zum Butt, allemal nochmals lesenswert - aber ich studier derzeit die Grimm Bros. und da kommt der letzte Band der Grass'schen Autobiographie - Grimms Wörter - ganz gut hin.

Auch Dir wünsch ich ein gutes neues Jahr, bevor's wieder 'rum ist!

Friedel

 

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