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Staudemanns Entsetzen
Die «Neue Zürcher Zeitung» publizierte in der Rubrik «kurz vor Redaktionsschluss eingetroffen», folgende Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur:
«Das seit drei Wochen über den Alpen vermisste Flugzeug der Trans-Airlines wurde gefunden. Einem Sprecher der Bergwacht zufolge hatte das Wrack in einer Vertiefung gelegen. Aus diesem Grund sei es auch zuvor nicht aus der Luft zu erkennen gewesen. Die Rettungsmannschaft entdeckte fünf Überlebende, die der rauen Witterung und der Kälte in diesem Berggebiet trotzen. Nach ersten Angaben kamen die Überlebenden beim Absturz mit relativ glimpflichen Verletzungen davon. Der Absturz forderte das Leben von elf Passagieren und den drei Besatzungsmitgliedern.»
*
Staudemann tobte. «So eine verdammte Schlamperei habe ich in meiner ganzen Karriere noch nie erlebt!»
Seine Mitarbeiter standen schweigend da. So völlig die Haltung verlierend, war er ihnen noch nie begegnet. Als Person strahlte er sonst Ruhe aus, auch war er ein gewissenhafter Pathologe. Unterlief jemandem mal ein Fehler, brauchte er zwar harte Worte, doch blieb er dabei sachlich und war nicht nachtragend. Aber diesmal rötete Zorn sein Gesicht.
«Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist!», brüllte er.
Betretenes Schweigen. Niemand wagte, etwas zu sagen. Dabei wussten alle, dass Leichenteile auch schon mal irrtümlich entsorgt worden waren. Doch diesmal war es anders. Es war kein inneres Organ, kein amputierter Arm oder ein Bein, nein, - ein ganzer Leichnam. Was erschwerend dazukam, war, dass Staudemann die pathologische Untersuchung des Körpers für sich selbst beansprucht hatte.
«Ich gebe dem Betreffenden eine Stunde Zeit, sich bei mir zu melden. Gnade ihm Gott, wenn er es nicht tut. Herausfinden, wer es war, werde ich auf jeden Fall.» Seine Stimme war bei diesen Worten ganz ruhig, aber kalt geworden, sein Gesicht wirkte versteinert.
So unangenehm war es Alice Roessler seit Jahren nicht mehr, ihrem Vorgesetzten gegenüberzutreten. Damals hatte er sie in flagranti erwischt, als sie versuchte, einen alten präparierten Schädel zu entwenden. Es war ein blöder Zufall, da selten jemand das Lager mit den alten Beständen betrat. Er stand plötzlich da, die Situation klar einschätzend, und bat sie mit einer knappen Handbewegung in sein Büro. Die Abkanzlung, welche er ihr zuteilwerden liess, war gnadenlos, doch dann machte er ihr einen Vorschlag, der ihre absolute Loyalität verlangte. Einige Monate später ernannte er sie zu seiner persönlichen Assistentin.
Sie klopfte kurz an die Tür und trat ein. Es war ihm anzusehen, dass die verschwundene Leiche ihn sehr beschäftigte. Die Hände, in denen er einige Papiere hielt, zitterten. Sie hatte über den Verbleib des Toten auch schon alle Möglichkeiten durchdacht. An eine irrtümliche Abführung mit den Sonderabfällen, die zur Verbrennung ins Krematorium gingen, glaubte sie nicht. Sämtliche Kühlfächer waren überprüft worden. Das besagte Objekt blieb unauffindbar.
Er schaute sie wortlos an. Diesen Blick hatte sie bereits erwartet.
«Ich war es nicht», platzte sie heraus und blickte ihm standhaft in die Augen.
«Das habe ich auch nicht angenommen», bemerkte er. «Aber verdammt noch mal, jemand hat es getan. Haben Sie eine Vermutung, wer es sein könnte? Hat jemand von den andern Mitarbeitern Schulden oder einen auffallenden Lebensstil?»
Roessler war erleichtert. Nun, sie sassen im selben Boot. Der Handel mit echten menschlichen Skeletten und Schädeln war äusserst lukrativ, ein schöner Nebenverdienst. Hierbei bedienten sie sich nur an ausgewählten Stücken. Ihr Abnehmer war ein Geschäftsmann in Deutschland, der sich für absolute Diskretion verbürgte. «Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es jemand aus unserem Institut war. Wie sollte jemand von ihnen einen ganzen Leichnam wegschaffen, ohne aufzufallen?»
Darüber habe ich auch lange nachgedacht und sämtliche Ein- und Austrittszeiten unserer Mitarbeitenden geprüft! Nichts Auffälliges, es sei denn, jemand hat den Körper während der Arbeitszeit hinausschaffen und verstecken können. Aber dann fragt sich, wie und wo?»
«Dazu müsste man einen der Wagen verwenden und dies würde auffallen.» Roessler machte ein nachdenkliches Gesicht. «Ausser vielleicht die Putzequipe, die hat doch diese Wagengestelle mit den Säcken. Aber was sollten die Putzfrauen mit einer Leiche tun? Ausserdem haben die ja nur in Gegenwart von Abächerli Zutritt.»
«Jemand pfuscht uns ins Geschäft. Es kann nur jemand sein, der auch Beziehungen zu professionellen Abnehmern hat oder der von Dritten direkt angeworben wurde.» Staudemann klopfte mit einem Finger in gleichmässigem Takt auf den Tisch. Dies tat er zuweilen, wenn er sich stark konzentrierte.
In dem Moment summte das Telefon.
«Ich sagte doch, ich will nicht gestört werden.» … «Ah, der Maegerli. Sehr, sehr dringend meint er, so, so. … Nein. … Ja gut, stellen Sie ihn durch.» Mit der Hand verdeckte Staudemann die Sprechmuschel. «Kennen Sie den Maegerli?»
«Etwa der vom Medizinhistorischen Museum?» Er war der Einzige mit diesem Namen, der Roessler einfiel.
Staudemann nickte.
«Er ist mir schon begegnet, doch kennen, nein.»
«Er geht mir regelmässig damit auf die Nerven, dass er ganz dringend interessante Präparate braucht. Ich werde ihm mal wieder etwas aus unserer Rumpelkammer als Leihgabe zustellen». Dazu grinste er breit.
Alice Roessler war überrascht über seine, für ihn zynisch anmutende Äusserung. Anscheinend gab ihm dies im Moment eine Ablenkung von der heiklen Situation, in der sie steckten.
«Staudemann hier. Hallo Herr Kollege. Ich muss gleich vorausschicken, ich bin in einer wichtigen Besprechung. … Ja doch, ich denke, hierzu kann ich Ihnen ein geeignetes Objekt zur Verfügung stellen. Sie werden Ihre Freude daran haben. … Es ist doch selbstverständlich, dass wir Hand in Hand arbeiten, sofern dies möglich ist. … Also ich werde es Ihnen mit einer kurzen Notiz zustellen. … Ja gut, viel Glück dann mit der neuen Ausstellung.» Er legte den Hörer fest auf.
«Ich habe normalerweise keine Aversionen gegen Menschen, aber diesen Typen mag ich nun gar nicht», bemerkte er grimmig mit herabhängenden Mundwinkeln zu Roessler gewandt. Dabei war seine Mimik während des Telefongesprächs bereits aussagekräftig gewesen.
«Kommen wir wieder zur Sache.» Er wirkte nachdenklich.
«Also mir ist es rätselhaft,» begann Roessler, «ein Dritter kann bei uns ja nicht unbegleitet ein- und ausgehen. Und wer kann was mit einer Leiche anfangen? Dass die Putzfrauen für einen solchen Diebstahl angeworben wurden, kann ich mir nicht vorstellen, da braucht es zumindest einige Kenntnisse, um das richtige Objekt zu wählen. Oder», sie stutzte, «glauben Sie, Maegerli könnte der Auftraggeber sein?»
«Ach Quatsch! Der wäre nicht fähig selbst ein Objekt zu präparieren. Doch, Sie sagten vorhin, Abächerli.» Staudemann überlegte. «Den hatte ich gar nicht ins Visier genommen.»
Roessler machte ein ungläubiges Gesicht. «Aber der versteht doch nicht mal Elementares von Anatomie!»
«Unterschätzen Sie Abächerli nicht.» Staudemann lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. «Er arbeitet bei uns zwar nur als Hauswart. Vor langer Zeit hat er jedoch in Botanik promoviert.»
Roessler schaute Staudemann ungläubig an. «Botaniker … Abächerli.»
«Ich erinnere mich. Als die Personalabteilung mir vor vier Jahren seine Bewerbungsunterlagen vorlegte, verwies man auf seinen tragischen Lebenslauf. Er wurde durch einen Flugzeugabsturz, den er und vier andere Personen überlebten, traumatisiert und war in der Folge zwei Jahre in einer psychiatrischen Klinik. Seinen Beruf hatte er danach nicht mehr aufgenommen. Vielmehr liess er sich umschulen, um künftig einfache, körperliche Arbeiten ausführen zu können.»
«Aber ich sehe da keinen Zusammenhang, weshalb Abächerli den Leichnam entführt haben sollte. Es sei denn, Sie halten ihn einfach für verrückt?»
Staudemann blickte Roessler ernst an. «Verrückt vielleicht. Wer weiss schon, wie beim Menschen die Grenze zwischen Normal und Verrückt exakt verläuft. Ich will ihn nicht auf das Geratewohl hin stigmatisieren, aber er hätte wirklich die Möglichkeit, unbemerkt auch ein grosses Objekt verschwinden zu lassen. Er führt immerhin auch die Überführung der Sonderabfälle aus.»
Roessler war nun verunsichert. «Ja, das stimmt. Aber was macht er denn mit dem Leichnam? Irgendwohin muss er ihn doch gebracht haben? Im Krematorium hätte man die Papiere dazu verlangt. Er wird ihn ja kaum in einem Garten vergraben?»
«Wir beide werden ihm heute Abend einen Besuch abstatten, bei ihm zu Hause. Wir überrumpeln ihn. Möglicherweise begeht er dann einen Fehler und liefert uns ein Indiz. Seine Selbstsicherheit ist ja nicht stark, die lässt sich leicht erschüttern.»
«Sie meinen, wir sollen an der Tür klingeln und sagen, geben Sie uns den Leichnam heraus? Der lacht uns doch glattwegs aus.»
«Nein, nein, ich habe mir da eben einen Gedanken zurechtgelegt. Ein Qualifikationsgespräch ohne Voranmeldung, das klingt doch immer gut. Er wird sich dann sogar geschmeichelt fühlen, dass wir dies zu zweit mit ihm führen wollen, in seiner vertrauten Umgebung. Ich werde mir vorher nochmals seine Personalakte vornehmen, auch den Teil mit den streng vertraulichen Unterlagen.»
Roessler war sich nicht sicher, ob Abächerli auf einen solchen Trick hereinfallen würde. Er hatte auf sie zwar immer eigenartig gewirkt, in seiner stillen, unterwürfigen Art. Intellektuell beschränkt war er dennoch nicht, glaubte sie nun. «Und wenn er gefährlich ist? Gewalttätig wird, weil er sich in die Enge getrieben fühlt?»
«Keine Sorge, wir werden nicht unbewaffnet gehen. Wir nehmen zwei Ordonnanzpistolen mit. Ich habe zu Hause welche aus meiner Zeit im Militärdienst.»
«Sie haben aber nicht vor, ihn umzubringen?» Roessler schaute ihren Vorgesetzten ungläubig an. Der Gedanke war ihr aufgekommen, da ihr Vorgesetzter bei seinen Worten sehr bestimmt klang. Es stand zwar einiges auf dem Spiel. Wenn der Knochentransfer, wie sie es für sich selbst manchmal scherzhaft bezeichnete, rauskäme, wäre es ein arges Fiasko. Doch Mord, nein, dazu wäre sie nie bereit.
«Nein, sicher nicht! Wie ich ihn einschätze, ist er nicht aggressiv. Aber sicher können wir nicht sein. Notfalls zwingen wir ihn mit Waffengewalt zu kooperieren, sollte er sich als der Dieb herausstellen. … Wir selbst könnten ihn ja nicht gut mit den Sonderabfällen im Krematorium abliefern.» Nach den letzten Worten lachte er hämisch.
Roessler lief ein Schauer über den Rücken. Hatte sie ihren Chef unterschätzt, war dieser erheblich skrupelloser, als sie immer gedacht hatte? Bei ihren Nebengeschäften entstand niemandem ein Schaden, darin waren sie sich stets einig gewesen. Hatte der jahrzehntelange Umgang mit Toten ihn etwa entmenschlichen lassen? Ihr war es nicht ganz wohl, aber sie sah auch keine andere Möglichkeit, das Problem anzugehen, als erst mal mit Abächerli zu sprechen. Es war noch nicht gesagt, dass er wirklich damit zu tun hatte oder etwas wusste, beschwichtigte sie sich selbst.
Wie sich herausstellte, war es ein altes Einfamilienhaus mit angebauter Garage, in dem Abächerli wohnte. Auf ihr Klingeln dauerte es nicht lange, bis Abächerli öffnete. Er machte ein überraschtes Gesicht und fing zugleich an zu stottern. «Ich …, ich …»
«Guten Abend, Herr Abächerli! Dürfen wir eintreten?», sagte Staudemann bestimmt.
Abächerli trat widerwillig auf die Seite, er hatte sich noch nicht gefasst, während Roessler sich hinter Staudemann hineindrängte. Staudemann schritt einfach vorwärts, auf die nächste offene Tür zu. Es war das Wohnzimmer, auf dem Tisch stand ein Gedeck mit Essensresten. Sie hatten ihn beim Abendmahl unterbrochen.
«Ich …, ich kann nichts ...» Abächerli war ihnen gefolgt und stand nun verlegen vor dem Tisch.
«Sie wissen, warum wir hier sind?» Staudemann hatte ihn unterbrochen und umgehend seine Taktik geändert, da er das Gefühl bekam, eine Finte sei gar nicht nötig, der direkte Angriff würde hier eher zum Ziel führen.
Abächerli nickte still mit gesenktem Kopf, doch unmittelbar danach presste er trotzig die Lippen zusammen.
«Nun, was haben Sie mir zu sagen?» Staudemanns Stimme klang nicht unfreundlich.
«Ich …, ich weiss nichts.»
«Was wissen Sie nicht?» Die Worte des Pathologen hatten nun einen scharfen Ton.
«Ich habe nur davon gehört. … Ein … ein Toter soll verschwunden sein.»
«Und wie konnte das geschehen? Was denken Sie darüber?»
Abächerli schien krampfhaft zu überlegen, nach Worten zu ringen. «Viel… vielleicht wurde er seziert.»
Diese Aussage liess Staudemann schwanken. Die Vorstellung, der Körper könnte zerlegt und danach entsorgt worden sein, war die ihm untragbarste Antwort, nach der er suchte. … Nein, es konnte nicht sein, dass einer seiner Mitarbeiter einen solchen Fehler beging. Aber Abächerli musste zweifellos etwas wissen, war irgendwie daran beteiligt, darin war es sich nun sicher.
«Hatte es in der Lieferung ans Krematorium Teile, die diesen Rückschluss erlauben? Oder in welcher Form waren Sie daran beteiligt?»
«Bei den Sonderabfällen war keine Leiche, nur das Übliche.» Es war Abächerli anzusehen, dass er log. Schweiss trat ihm auf die Stirn, er verkrampfte sich, die Hände unruhig zusammenballend und wieder öffnend.
Einen Moment herrschte Stille, dann brüllte Staudemann mit wutentbrannter Stimme los.
«Lügen Sie mich nicht so unverschämt an. Ich weiss genau, dass Sie es waren. Ich habe Beweise dafür, dass Sie den Leichnam wegschafften», bluffte er.
Abächerli, der bei diesen Worten zusammengezuckt und aschfahl im Gesicht geworden war, zitterte, wankte. Ein Kollaps schien unmittelbar bevorzustehen.
Staudemann, der das Risiko erkannte, zügelte die aufgekommene Wut und sprach nun mit betont ruhiger Stimme. «Ich bin kein Unmensch, das wissen Sie. Trinken Sie erst mal ein Glas Wasser, und dann erzählen Sie mir, wie es dazu gekommen ist.»
Roessler reichte Abächerli das Glas, welches auf dem Tisch stand, und schob ihm einen Stuhl zu. «Brauchen Sie auch Medikamente?»
Er nickte seufzend. «Dort auf der Anrichte», mit dem Finger dahin deutend.
Staudemann studierte kurz den Beschrieb in der Packung, ein leicht sedierendes Therapeutikum, von dem her ungefährlich. Damit könnte Abächerli sich nicht umbringen.
«Nun, erzählen Sie», wies Staudemann ihn an, als er den Eindruck hatte, Abächerli habe sich soweit erholt.
«Ich kann wirklich nichts dafür. Seit damals, … beim Absturz … wir hatten keine Wahl. Anfänglich dachten wir, es käme schnell Rettung, man würde uns orten. Snacks, die wir aus der Bordküche des Wracks bergen konnten, reichten nur für drei Tage. Doch es war nicht einzig das Hungergefühl, das uns zusetzte. Die Kälte zehrte an unseren körperlichen Energiereserven. Uns wurde klar, dass wir ohne Nahrung in den sicheren Tod abgleiten. Vor Entkräftung einfach daliegen und erfrieren würden. Wir wollten aber leben! So mussten wir davon essen, da es nichts anderes gab. … Noch hofften wir stündlich auf Rettung und warteten, bis es nicht mehr anders ging. Es schmeckte merkwürdig, … erzeugte mir erst einen Brechreiz, doch ich gewöhnte mich daran. … Zuerst schnitten wir kleine Fleischstreifen, die leicht zu kauen waren. Durch die Vereisung der Körper wurde es jedoch zunehmend schwieriger zu schneiden. Irgendwann mussten wir uns an Glieder halten, hackten diese ab und tauten diese an unserem eigenen Körper auf, um dann daran zu nagen. Lange hätten wir wahrscheinlich nicht mehr durchgehalten. …
Später, erst viel, viel später, war es einfach da … ein … Ich weiss nicht, wie ich es nennen soll, ein gieriges, zwingendes Verlangen. Ich musste es beschaffen, zerbrach mir den Kopf, wie ich daran kommen könnte. Kurz dachte ich an Gräber mit frisch Bestatteten. Es war mir aber klar, dass wegen der mikrobiellen Zersetzung das Risiko einer Vergiftung zu hoch ist. Dennoch war ich nah daran, es zu versuchen. Als ich die Stelle ausgeschrieben sah, erschien mir dies wie eine Fügung des Schicksals. Da das Fleisch kühl gehalten wird, und wie ich mir vorstellte, die Körper bereits angeschnitten wären, würde niemand bemerken, wenn ein Stück davon fehlt. Dies erwies sich zwar als Fehleinschätzung, doch da die Überführung der Sonderabfälle auch in meinem Aufgabenbereich lag, war ich gerettet.»
Staudemann verspürte Übelkeit, es würgte ihn im Hals! Er hatte schon faulige, ekelerregende Körper unter den Händen, an denen nichts mehr Ästhetisch wirkte. Aber sich einen solchen Verwendungszweck für menschliche Körperteile vorzustellen, war direkt abscheulich und pervers. Nicht im Entferntesten hatte er eine solche Erklärung erwartet.
Roessler bekam ein flaues Gefühl im Magen, als sie die Tragweite begriff. Mit Widerwillen starrte sie auf den Teller. Da lagen nebst Gemüse auch Fleischreste. Ein kleines angebratenes Stück, das unter gehacktem Kohl hervorragte, erschien ihr nun wie ein Finger. Sie kämpfte einen Augenblick mit einem Brechreiz.
«Das ist Kannibalismus», entfuhr es ihr.
Staudemann hob beschwichtigend die Hand. Bei ihm setzte kaltblütiges Kalkül ein. Sein Verstand arbeitete einwandfrei, den aufgekommenen Schock hatte er bewältigt. «Wo ist der Leichnam?», fragte er ruhig.
«Ich konnte nicht anders.» Abächerli wiederholte es sinngemäss wieder, doch erhob er sich und ging auf eine Tür zu.
Staudemann und Roessler folgten ihm, darauf gewappnet, er könnte versuchen zu flüchten oder versuchen sie auszutricksen. Hinter der Tür führte eine Treppe ins Untergeschoss. Ein dumpfer Geruch schlug ihnen entgegen, als ob sie in eine alte, modrige Gruft abgestiegen wären. Als erstes erblickte Roessler einen mit Knochen gefüllten Drahtkorb. Instinktiv umfasste sie die Pistole in ihrer Manteltasche mit festem Handgriff. Sie war wild entschlossen sofort zu schiessen, wenn Gefahr droht. Der Anblick, der sich ihr bot, versetzte sie in Panik. Eine Katakombe war ihr erster Gedanke. Die Knochenansammlung waren nicht die Überreste eines einzigen Menschen. Mit geübtem Blick machte sie Arm- und Beinknochen aus. Erst jetzt entdeckte sie noch weitere mit Knochen angefüllt Behältnisse. Staudemann war auch sehr erschrocken, als er die Anhäufung an Knochen bemerkte. Instinktiv registrierte er ihre Zuordnung Tibia, Fibula, Pes, Ulna, Radius. Kein Cranium, kein Scalpula, soweit er es überblicken konnte. Nirgends ein Crista iliaca. Er atmete auf, dann lachte er verbittert still. Unglaublich, was Abächerli da zusammengetragen hatte. Es waren Überbleibsel von amputierten Beinen und Armen, die hier lagerten. Demzufolge verspeiste er nicht nur Innereien, die keine wesentlichen Abfälle zurückliessen. Seine Vorliebe musste das gute Fleisch sein, wenn er dessen habhaft wurde.
«Warum zum Teufel, bewahren Sie diese Abfälle hier auf?», herrschte er Abächerli an.
«Ich getraute mich nicht, sie abzuführen. … Ich nahm mir immer wieder vor, einzelne Stücke mitzunehmen und mit den Sonderabfällen zu entsorgen. Doch fehlte mir jeweils der Mut. Man hätte es entdecken und fragen können, woher dies kommt.»
Auf einer Werkbank, die mit einer Marmorplatte überdeckt war, lagen ordentlich ausgerichtet Werkzeuge, verschiedene Messer, eine Säge und ein Hackbeil mit breitflächiger Klinge. Daneben war auch ein Sezierbesteck in einer Schale. Der Boden um die Bank herum wies dunkle Flecken auf, es musste eingezogenes Blut sein.
Staudemann atmete schwer, der Anblick dieser Schlachtbank hatte ihm die letzte Hoffnung geraubt, den Leichnam noch unbeschadet vorzufinden. In seinem Kopf hämmerte es migräneartig. So was Scheussliches hatte er noch nie erlebt. Am Körper spürte er kalten Schweiss, der die unerwartete Situation ihm auslöste. Schleichend kam ihm Furcht auf. Es war doch sinnvoll gewesen, die Waffen mitzunehmen. Eigentlich wollte er damit nur die Roessler beruhigen, da sie, wie er zuvor meinte, eine unsinnige Angst hatte.
«Wo sind die restlichen Teile der Leiche?» Staudemanns Stimme war heiser. Er musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut zu schreien oder seine Wut gar mit Schlägen an Abächerli abzureagieren. Ein elendes Gefühl beherrschte ihn, wie er es an sich bis anhin nicht kannte.
Abächerli hatte eine sich steigernde Angst. Da sie sein Geheimnis nun kannten, fühlte er sich wehrlos und ausgeliefert. Die gereizte Anspannung von Staudemann war ihm bedrohlich spürbar. «Nein, nicht», rief er, als Staudemann einen Schritt auf ihn zumachte, und hob schützend die Arme vor sein Gesicht, wie wenn er damit eine massive Gefahr abwehren könnte. Als nichts geschah, überlegte er krampfhaft, wie er sich noch erklären, ihr Verständnis erlangen könnte.
«Ich hatte nur einmal mit jemandem darüber gesprochen.»
Staudemann blickte ihn entgeistert an. «Sie haben mit jemanden über den Leichnam gesprochen.»
Roessler entfuhr, «Maegerli?»
Abächerli merkte, dass er missverstanden wurde. «Nein, nicht über diesen Toten. Einfach über das Verlangen nach Menschenfleisch, das mir aufgekommen war. … Es war der Psychiater, der meine Nachbehandlung nach der Entlassung aus der Klinik übernahm. Er sah darin nur vorübergehende neurotische Zwangsgedanken, die mir wahrscheinlich ermöglichen, das traumatische Geschehen zu verarbeiten, wie er meinte. Ein Aggressionstest, den er mit mir durchgeführt hatte, brachte keinerlei Hinweise darauf, dass ich für mich selbst oder meine Umwelt eine Gefahr darstelle. Ich könnte wirklich niemandem etwas Böses antun und habe doch nur das Fleisch genommen, das man sonst vernichten würde. Die Begierde löste sich jedoch nicht auf, wie der Doktor meinte, auch wenn sie nur sporadisch auftritt.»
Staudemann wiederholte seine Frage nach dem Verbleib der Überreste der Leiche ungeduldig. Abächerlis weinerliches Geschwafel interessierte ihn nicht. Zum Glück war ja niemand anders in die Sache verwickelt.
Abächerli trat nun mit unsicheren Schritten auf eine der beiden Tiefkühltruhen zu, die an einer Wand standen. «Da drin.»
Staudemann, der den Deckel anhob, erblickte einen nackten, von Plastikbeuteln teilweise zugedeckten Torso. Der Anblick schmerzte ihn. Als er die darum liegenden Beutel zur Seite schob, kam jedoch immer mehr vom Körper zum Vorschein. Der nackte Mann lag da mit einer leichten Eisschicht überzogen. Keine sichtbare Schnittstelle, kein abgesägtes Teil, das ihn verstümmelt hätte. Staudemann verspürte eine Hitzewallung, er atmete schwer, als er erkannte, dass das Skelett noch völlig intakt war, nicht zersägt. Sie waren Abächerlis Absichten zuvorgekommen. Die Spannung, welche ihn seit dem Morgen im Griff hatte, als er den Verlust des Leichnams entdeckt hatte, fiel ab und schlug nun in Erschöpfung um. Er brauchte einige Minuten, diesen Krisenpunkt zu überwinden. Geschäftig untersuchte er den gefrorenen Toten von allen Seiten, damit die andern ihm seine vorübergehend labile Konstitution nicht anmerkten.
Im Wohnzimmer nahm Staudemann sich Abächerli hart vor, quetschte ihn aus. Er gestand, dass er sich seit Jahren an den Sonderabfällen bedient hatte. Im Krematorium nahm man es nicht detailgenau, was er da ablieferte. Er hatte jeweils gewartet, bis alles im Verbrennungsofen war, um sicherzugehen, dass die Listen nicht noch überprüft wurden. Es gab da nie Probleme. Nur wenn er ganze Körper abliefern musste, liess sich nichts deichseln.
«Als ich zufällig bemerkte, dass ein Toter in einem Kühlfach lag, bei dem vermerkt war, dass er keine Angehörigen hat, da dachte ich mir, es wäre meine Chance.»
«Sie Idiot», Staudemann war nun richtig grob. «Sie hatten dabei Ihren Verstand überhaupt nicht eingesetzt? Meinten Sie, ich zucke mit den Schultern, wenn eine Leiche bei uns spurlos verschwindet? Oder glaubten Sie, ich würde denken, der Mann sei selbst hinausspaziert?»
«Ich konnte … nicht mehr logisch denken. … Da war nur dieses übermächtige Verlangen. Ein ganzer Mensch, wie damals. Dies brachte mich einfach von Sinnen. Ich musste es tun.»
«Und was soll ich jetzt mit Ihnen machen?»
Abächerli zuckte die Achseln, den Kopf gesenkt.
«Wenn ich die Polizei verständige, kommen Sie lebenslang in eine Anstalt. Wollen Sie das?»
Der verschüchterte Abächerli wirkte hilflos, verloren. … «Nein», flüsterte er nach langer Pause mit kaum vernehmbarer Stimme.
«Ich gebe Ihnen noch eine Chance, es ist aber die einzige!» Staudemann kalkulierte messerscharf seine Risiken. Aufgrund des Sachverhaltes könnte er Abächerli problemlos den Behörden übergeben. Allerdings käme es dann zu einer minutiösen Untersuchung der Abläufe am Institut, was auch ihn erheblich in Gefahr brachte. So blieb nur, Abächerli in seine absolute Abhängigkeit zu bringen, ähnlich wie Roessler. Nur bei Abächerli musste er sicherstellen, dass seine Triebe stets gestillt blieben. So könnte er ihm sogar von direktem Nutzen sein für die Auslieferung der Objekte.
Abächerli hatte den Kopf gehoben, ungläubig starrte er Staudemann an.
«Sie werden den Leichnam noch heute Nacht wieder zurückschaffen, und zwar unbeschadet. Ich werde es als einen Kommunikationsfehler darstellen, dass der Leichnam irrtümlich an ein anderes Institut überführt wurde.»
Abächerlis Gesicht, das bis anhin totenbleich gewesen war, nahm wieder etwas Farbe an. Seine Augen glänzten, Tränen standen ihm zuvorderst. Er griff nach der Hand von Staudemann und wollte sie küssen, was dieser barsch unterband.
«Im Gegenzug erwarte ich absolute Loyalität von Ihnen. Mit absolut meine ich wirklich Kadavergehorsam, der durch nichts gebrochen werden darf. Ansonsten werde ich persönlich besorgt sein, dass Sie auf ewig in einer geschlossenen Klinik untergebracht werden.»
«Sie können sich auf mich künftig hundertprozentig verlassen, Herr Professor. Ich würde für Sie durch das Feuer gehen.»
«Ich werde Sie ab und zu mit Sonderaufgaben betrauen, von denen ausser mir und Frau Roessler absolut niemand wissen darf.»
Roessler war verblüfft. Ihr Vorgesetzter löste die bisher vorhandenen logistischen Probleme raffiniert und auf einen Schlag.
«Ich werde alles tun, was Sie mir befehlen», warf Abächerli unterwürfig ein.
Staudemann blickte ihn noch einen Moment nachdenklich an, dann lächelte er und sagte gütig: «Im Gegenzug dürfen Sie sich behutsam, aber wirklich nur behutsam, von den Sonderabfällen bedienen. Da hat es nebst Innereien doch immerhin ab und zu auch ein gutes Stück Fleisch dabei. Auch der Leichnam», er deutete in Richtung zu dem Kellergeschoss, «wirft dann ja einige sehr schöne Teile ab. Wir brauchen letztlich nur das unbeschadete Skelett.»