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Staub zu Staub
Nein! Nicht schon wieder. Will nicht sehen. Nicht das. Nein! Diese Bilder. Tod. Überall. Schreiben. Ich muss das aufschreiben!
Es war ungewöhnlich heiß für Anfang Oktober. Die Luft stand. Babette und Xaver atmeten eine Mischung aus Kuhmistgestank und Staub ein, während sie Werkzeug, Farbeimer und Tapetenrollen in ihr neues Haus schleppten, ein typisches altes Bauernhaus im bayerischen Alpenvorland am Rande eines kleinen Dorfes.
»Wenn die Fenster sauber sind, alles frisch gestrichen ist, dann wird das super schön «, sagte Xaver.
»Schaffst du das bis Dezember?«, fragte Babette.
Xaver legte seine Hand zärtlich auf Babettes Bauch: »Nicola ist aber aktiv!«
»Johanna«, sagt Babette und strahlte ihn an.
Zwei Wochen später war das Untergeschoss fertig. Xaver war im Schlafzimmer und stand mit einem Stückchen Karton in der Hand vor dem Bauernschrank.
»Schatz! Hilf mal mit dem alten Ding!«
Xaver hörte die Stufen knarzen und lachte, als Babette schnaufend wie nach einer Bergtour ankam.
»Lach … nur. Trag … du mal … Medizinball … herum.«
Gemeinsam schoben sie den Schrank zur Seite. Statt der erwarteten Wand kam eine Türe zum Vorschein.
Babette stemmte die Hände in die Seiten und Xaver rüttelte an der Klinke. Dann warf er sich dagegen.
»Ich hol mal einen Schraubenzieher.«
»Willst Du das etwa aufmachen? Oh Gott, das ist bestimmt kein gutes Omen.«
»Ach, du und dein Aberglaube!«
Nach einem kräftigen Ruck am Schraubenzieher gab das Schloss nach. Ein Lichtkeil fiel in den dahinterliegenden Flur und beleuchtete dichten Staub auf dem Boden, zerfaserte Spinnweben, ein paar zerknüllte Papierblätter und zwei gegenüberliegende Türstöcke. Feuchtkalte Luft schlug ihnen entgegen.
»Klasse«, sagte Xaver. Er ging einen Schritt in den Flur. Eine Staubwolke waberte um seine Beine. »Da sind zwei Zimmer. Mist, seh‘ nichts.« Er stürmte an Babette vorbei und kam mit einer Taschenlampe zurück. »Was schaust du so?«.
»Es stinkt!« Babette verschränkte die Arme. »Außerdem gibt es bestimmt einen Grund …«
»Ach quatsch!« Er schaltete die Taschenlampe an und stampfte mit angespanntem Oberkörper in den Gang. Nach wenigen Schritten war der Flur zu Ende. »Das sieht aus wie ein Durchgang!«
»Komm raus da!«
»Linke oder rechte Tür zuerst?«
»Dass du nie tust, was ich sage. Rechts!«
»Dein Wunsch ist mir Befehl!« Es quietschte. Nach einem Stück blockierte die Tür. »Da liegt was!« Xaver schob mit aller Kraft, dann krachte es und er stolperte in den Raum. »Ich werd‘ verrückt! Ein Badezimmer. Das ist ja super.«
»Hm.« Babette streckte den Kopf in den Gang. »Und auf der andern Seite?«
Xaver drehte sich um und drückte die verrostete Klinke. Türkisfarbene Farbreste klebten an der Kassette und tiefe, lange Risse hatten sie im Laufe der Zeit brüchig gemacht. »Gib mal den Schraubenzieher!«.
»Da geh ich nicht rein.«
Xaver sah sie an: »Dann eben nicht!« Mit einem kräftigen Tritt zerbarst das Innere der Tür. Er jaulte auf und kam humpelnd nach draußen.
Babette nahm ihm am Arm.
»Lass. Nicht schlimm!« Xaver zog das rechte Hosenbein nach oben und legte einen fingerlangen Riss am Unterschenkel frei.
»Toller Supermann. Ich habe unten Verbandszeug.« Babette kam nach einer Weile wieder und verarztete die Wunde.
»Komm schon!« Xaver zog Babette zur zerbrochenen Tür, die in der Mitte eine Öffnung wie ein Haifischmaul hatte, nur mit Holzsplittern statt Zähnen. Er entfernte die Reste und leuchtete in ein kleines Zimmer. Gegenüber war ein zugemauertes Fenster, davor ein Holzschreibtisch. Seine Platte war bedeckt mit fingerdickem Staub, durchbrochen von einem Stückchen Kreide. An der linken Wand stand ein Bettrahmen. Xaver leuchtete nach rechts, wo ein Loch im Putz klaffte, das rote Ziegel freigab.
»Was ist das«, sagte Xaver.
»ENDE 2016 WIRD«, riefen Xaver und Babette im Chor, blickten sich an und dann wieder zurück zu den Worten an der Wand, die in weißer Kreide prangten, mit kraftvollen Strichen geschrieben, als ob jemand sichergehen wollte, dass die Zeit sie nicht auslöschen würde.
Babette legte die Hände auf den Mund: »Was wird Ende 2016 …?«
»Nichts. Das ist bestimmt nur ein Streich. Vielleicht vom Vorbesitzer?« Xaver leuchtete das Zimmer ab.
»Hier war jahrzehntelang keiner drin«, sagte Babette und sah Xaver von der Seite an. Er ignorierte diesen Blick, der immer kam, wenn er im Unrecht war.
»Egal. Das ist super. Hier können wir ein Kinder…«
»Kinderzimmer? Bist Du verrückt? Mit dem da an der Wand?« Babette schleuderte ihren Arm in Richtung Putzloch, drehte sich um und stürmte raus.
»Warte! Nur wegen drei Kreidewörtern an der Wand … jetzt warte doch!«
»Nein!«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch!«
»Selbst die Fensterstürze sind noch da!«
Im Schlafzimmer hatte er sie eingefangen und spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Seine Lippen waren dicht an ihrem Ohr. Ihre Haare kitzelten die Nase.
»Wir müssen nur die Ziegel raushauen, neue Fenster rein, ein wenig verputzen, frische Farbe an die Wand. Das wird super. Versprochen.«
Fünf Wochen später hatte Xaver sein Versprechen wahrgemacht und die Zimmer waren frisch renoviert. Xaver duschte sich gerade, sang ein Lied und strahlte durch die Glaskabine Babette an, die ein Lavendelbad nahm.
»Ist das herrlich«, sagte Xaver. »Sobald wir fertig sind, zeige ich dir das Kinderzimmer. Bärentapete, Bärenlampe, Fahrzeugteppich, Bärengardinen. Egal, ob Junge oder Mädchen. Unser Baby wird in einem Bärenland wohnen!«
»Morgen will ich in den Gottesdienst!«
»Muss das sein? Dieser Weihrauch, die lange Predigt, das Gesinge …«
»Du hast es mir versprochen. Außerdem ist danach Kirchenkaffee. Ich möchte unter Leute.«
»Na gut, aber ich singe nicht mit!«
Xaver dachte die ganze Predigt darüber nach, was er noch tun wollte, wunderte sich kurz über den Brauch, zwischendurch zu knien und wachte erst wieder aus seinen Gedanken auf, als das Lied Großer Gott erklang, das er lauthals mitsang, nachdem Babette ihm einen harten Rippenstoß verabreicht hatte. Der Kirchenkaffee war weniger schlimm, als erwartet. Es gab jede Menge Kuchen. Junge, Alte, Wichtige, Unwichtige und Familien mit Kindern verteilten sich um kleine Tische im Pfarrsaal, der gefüllt war mit Kaffeeduft, Klatsch und Tratsch des Dorfes und ein paar wuselnden Kindergartenzwergen, die um die Wette aßen.
»Ihr seids also die Neuen vom Huberhof?«, fragte plötzlich eine alte Frau, die ihnen gegenübersaß. Sie trug einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse mit großen Rüschen an der Knopfleiste, einen grauen Dutt und eine große Goldrandbrille. Ihre Finger waren dick und voller Schwielen.
»Huberhof? Nein, der Vorbesitzer hieß Müller«, antworte Xaver.
»Ja, schon. Aber wisst‘s, die alten Höfe ham Hausnamen. Euer Haus hat der Huber gebaut. Des ist scho über hundert Jahr her.«
»Achso«, sagte Babette. »Kannten Sie ihn?«
»Freilich. War ein Netter. Als mir jung waren, ham wir immer im Stadl heimlich geraucht.« Die alte Frau blickte in die Ferne.
»Wir haben beim Renovieren zwei Räume gefunden …«, sagte Xaver.
»Des hat er verschwiegen? Kein Wunder net. Der arme Hansi hat Alzheimer gehabt. War ganz wirr zum Schluss. Ich weiß schon was.« Die alte Frau steckte ein großes Stück Apfelkuchen in den Mund und rückte näher an den Tisch.
»Damals, so in den fünfziger Jahren, da wohnte ein Hellseher …«
Babette rutschte mit dem Stuhl nach vorne: »Ein Hellseher?«
»Ja, ein Hellseher, der Irlbacher Sepp. Komischer Vogel. Hat immer was vom dritten Weltkrieg gefaselt. Unheimlich war der, richtig gruselig!«
»Maria, lass die oiden Gschichten!«, krächzte eine weißhaarige Frau mit tiefen Falten zwei Plätze weiter. »Du machst dene Jungen no Angst. Der Irlbacher war harmlos. I bin übrigens die Elsbeth!« Sie winkte und zeigte unten drei und oben zwei Zähne.
»Is ja gut«, sagte Maria. »War net dabei. Als der Hansi des erzählt hat, war der Irlbacher schon tot.« Maria beugte sich weit nach vorne. »Ich glaub‘, der ist da gestorben.«
Xaver sah Babette von der Seite an und ahnte, was nun folgen würde. Babette hatte schon immer einen Hang zum Aberglauben. Vor fünf Jahren, kurz bevor sie geheiratet haben, musste er mit ihr sogar zu einer Hellseherin gehen, die dann etwas von einer glücklichen Zukunft erzählt hat. Damals war er sehr froh darüber, denn er war sich nicht sicher, ob sie sonst geheiratet hätten. Er beobachtete, wie sie Maria mit großen Augen anstierte, nach vorne gebeugt, so als ob sie die Informationen wie ein Vampir aus ihr raussaugen könnte.
»Gestorben? Oh mein Gott, wie furchtbar!«, sagte Babette.
»Was ist furchtbar?«, brummte der Pfarrer hinter ihnen. »Werden hier etwa wieder Geschichten vom Irlbacher erzählt?«
»Finde das sehr spannend«, sagte Babette.
»Ich kannte ihn nicht«, sagte der Pfarrer, »aber so, wie ich die Menschen hier kenne, ist das bestimmt alles die Wahrheit, die reine Wahrheit!«, sagte der Pfarrer, zwinkerte Babette zu und ging weiter.
Damit war das Thema Irlbacher gestorben und Maria, Elsbeth und die anderen am Tisch sprachen über das zu warme Wetter und die schlechte, staubgefüllte Luft in letzter Zeit.
»Das Kinderzimmer muss woanders hin!«, war das Erste, was Babette sagte, kaum, dass Xaver die Haustür geschlossen hatte.
»Ach komm! Nur wegen des alten Dorfklatsches? Sogar der Pfarrer hat süffisant die Wahrheit dazu gesagt.«
»Er ist dort gestorben, verstehst du? Gestorben!«
Xaver seufzte und fiel gegen die Flurwand. Er hatte sich so gefreut, dass endlich alles fertig war. Jede Tapetenbahn im Kinderzimmer saß millimetergenau an der richtigen Stelle.
»Vielleicht war das seine letzte Vision«, sagte Babette. »Ich sehe es vor mir. Das Grauen vor Augen. Mit letzter Kraft schrieb er die Worte und fiel tot um.«
Xaver schüttelte den Kopf und schaute an die Decke. »Es sind nur Geschichten. Wie am Lagerfeuer. Da haben wir uns auch Gruselmärchen …«
»Märchen? Was für Märchen?« Babette stellte sich vor ihn, die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihm in die Augen.
Xaver spürte die Kälte der Flurwand an den Schulterblättern. »Das kann nur ein Scherz sein!«
»Mit sowas spaßt man nicht. Und hier schon dreimal nicht!«
»Das Zimmer bleibt!« Xaver schüttelte den Kopf und ging nach oben.
»Wie Du meinst!« Babette stapfte ins Wohnzimmer.
Sie war noch lange sauer und abends gab sie ihm nicht einmal einen Kuss vorm Einschlafen. Zwei Wochen später kam Xaver nach Hause und fand Internetausdrucke über Sepp Irlbacher auf dem Wohnzimmertisch. Er ist 1959 gestorben und hatte seine seherischen Fähigkeiten, seit er im ersten Weltkrieg mehrere Tage in einem Schützengraben verschüttet war. Einige Geschichten gaben Xaver zu denken. Dass der dritte Weltkrieg bevorstünde, konnte und wollte sich Xaver nicht vorstellen. Aber der Irlbacher hatte sogar einen Gerichtsprozess wegen Gaukelei gewonnen, weil er in der Verhandlung ›sehen‹ konnte, dass die Frau des Richters gerade im roten Kleid mit einem Herrn im weißen Anzug zusammen sei. Nachdem eine Überprüfung gezeigt hatte, dass das zutreffend war, konnte der Richter nicht anders, als ihn freisprechen.
»Interessant?«, riss Babette ihn aus dem Studium der Unterlagen. »Märchen, was? Tolle Märchen sind das. Bist du eigentlich sicher, dass da nicht mehr stand?«
»Ganz sicher. Da war nichts«, sagte Xaver in die Unterlagen vertieft.
Es klopfte an der Tür.
»Grüß Gott«, sagte eine Frau in einer blauen Kittelschürze, olivgrünen Gummistiefeln.
»Grüß Gott«, sagte Babette, drückte sich neben Xaver in den Türeingang.
»Tschuldigens die Störung. Ich bin die Nachbarin. Die Schmidt Annemarie. Mei, der Bub, der hat beim Ackern Ihren Zaun kaputt gemacht. Des bringen mir natürlich in Ordnung.«
Xaver atmete tief durch.
»Kommen Sie doch bitte rein. Ich bin übrigens die Babette und das ist mein Mann Xaver. Jetzt sind wir schon so lange hier und haben uns noch nie gesehen.«
»Ach, schee habt ihr des hergerichtet. Sieht ganz anderst aus«, sagte Frau Schmidt und zeigte ein zahnloses Grinsen.
»Wissen Sie vielleicht was über den Irlbacher?«, platzte es aus Babette heraus.
»Ach, der Irlbacher. Mei der war hier a Zeitlang, bevor er dann nach Freilassing is, wo er gestorben is«, antwortete Frau Schmidt.
»Also nicht hier im Haus gestorben? Das ist ja super!«, rief Xaver dazwischen und hob kurz die Hände, als ob er zwei Siegesfäuste machen wollte.
»Na, net da herin!«
»Setzen Sie sich doch und erzählen noch ein wenig über den Irlbacher«, sagte Babette.
»Entschuldigen Sie, aber meine Frau interessiert das brennend«, sagte Xaver.
»Mei, was wollt ihr wissen?«, fragte Frau Schmidt.
Babette löcherte Frau Schmidt so lange mit Fragen, bis der Sohn kam und fragte, ob alles in Ordnung sei und sie zum Mittagessen mitnahm. Babette und Xaver erfuhren, dass es Alois war, Hansis Vater, der die Zimmer verschlossen hatte, um das Andenken an den Irlbacher zu bewahren. Alois meinte, dass derjenige, der das Gekritzel an der Wand wegmacht, sterben würde, was Babette leichenblass werden ließ. Außerdem erzählte Frau Schmidt, dass der Irlbacher jemanden richtig vorhergesagt hatte, dass er in drei Wochen sterben werde. Zu der Prophezeiung im Zimmer konnte Frau Schmidt nichts sagen. Aber sie erzählte eine Geschichte von ihrer besten Freundin Heidi, die verschwunden war. Heidis Eltern haben dann den Irlbacher gefragt, der sie mit großen Pupillen ansah, stocksteif wurde und so etwas sagte wie: »Gelbes Haus. Josef. Ich sehe einen Stall, Heu. Sie lebt. Hat gebrochenes Bein.« Heidi fand man dann tatsächlich beim Josef, dem Bruder von Heidis Vater. Sie war beim Spielen im Stall vom Heuboden gefallen und hatte sich dabei das Bein gebrochen.
Xaver und Babette sprachen lange nur über den Irlbacher und die Prophezeiungen, die sie gehört hatten, wobei Babette fasziniert war und Xaver sich schon ein neues Kinderzimmer herrichten sah. Später, am Nachmittag, gingen sie in den Garten, um sich den kaputten Zaun anzusehen. Frau Schmidt war auch draußen, winkte und kam näher.
»I hob vorhin was vergessen«, sagte sie. »Heidis Eltern haben ein Kreuz hingestellt. Bei Maria Eck, da bei den schwarzen Franziskanern.«
»Was für ein Kreuz?«, fragte Babette.
»So ein Kreuz, mit Rad drin.«
»Und was hat es damit auf sich?«, fragte Xaver.
»Ach, die Heidi hat erzählt, der Irlbacher hätt‘ eine Prophezeiung immer wiederholt. Die hat er in das Kreuz geritzt, als Heidi ihm des zeigt hat.«
»Dann steht die Prophezeiung vielleicht da drauf!« Babette sah Xaver an.
»Ko sein. Wenige Tage drauf ist der Irlbacher dann nach Freilassing. I muss jetzt.«
Babette wollte sofort aufbrechen, aber es wurde schon dunkel. Xaver verspürte keine Lust, diesem Hirngespinst nachzujagen. Andererseits wollte er die Sache endlich zu Ende bringen. Er versprach, den Montag freizunehmen und, das war die Voraussetzung, nach einem gemütlichen Frühstück nach Maria Eck zu fahren.
An diesem Abend bekam Xaver wieder einen Kuss, seit langem. Er hatte einen Alptraum, von Kreuzen, die nachts ins Haus eindringen, von außerirdischen Botschaften und von einer Hellseherrasse, die kleine Kinder fraß. Daran konnte er sich noch erinnern, als er morgens aufwachte. Er ärgerte sich über diesen Traum, der so absurd war, dass er lächelte, auch wenn die Aussicht darauf, das Sonnenkreuz und die Prophezeiung darauf zu finden, eine für ihn unerklärliche Nervosität erzeugte.
»Du hast wohl zu viel gefrühstückt«, schnaufte Babette, als sie den kleinen Weg vom Kloster zur Wallfahrtskirche nach oben stürmte, wo die Kreuze waren.
»Und du bist unter die Rennkugeln gegangen, oder?«
Als sie die Hinterseite der Wallfahrtskirche erreichten schlug Xaver die Hände über den Kopf zusammen: »Wie sollen wir es finden? Das sind hunderte! Dran komm ich auch nicht. Kann ja schlecht über die Absperrung steigen.«
Nach einer Weile stellten sie fest, dass es nur drei Sonnenkreuze gab, wovon eines viel zu alt war und das andere zu klein. Xaver und Babette blickten sich verstohlen um, aber am Montagvormittag waren kaum Gläubige unterwegs. Auch von den Mönchen war nichts zu sehen.
»Kommst du dran?«, fragte Babette.
»Nein, siehst Du doch!« Xaver hob das Absperrband an, glitt drunter hindurch und zog es vorsichtig unter vier anderen hervor.
»Lass mal sehen«, sagte Babette, riss es Xaver aus der Hand und drehte es herum. Auf der Rückseite war auf dem Sonnenkreis deutlich eingeritzt:
ENDE 2016 WIRD DER STAUBTOD KOMMEN
Sie sahen sich an und Xaver erspähte aus dem Augenwinkel eine Person den Weg hochlaufen, stellte das Sonnenkreuz schnell zurück, machte Babette mit einem Kopfnicken auf den Besucher aufmerksam und sie eilten von der Kirche weg, wie zwei Kinder, die etwas ausgefressen hatten.
Außer Atem stiegen sie ins Auto ein. Babette erinnerte sich an eine der Prophezeiungen Irlbachers über eine Umweltkatastrophe. Danach sollte Staub vom Himmel regnen und den Tod bringen. Er hatte geraten, Fenster und Türen für mehrere Tage zu verschließen. Xaver hielt ihr einen langen Vortrag über Aberglauben und Umwelthysterie, bis Babette ihre Fingernägel in Xavers Arm krallte:
»Meine Hose ist nass!«
»Wie, nass? Wieso?«
»Johanna kommt.«
»Oh mein Gott!«
Xaver trat aufs Gas. Staub wirbelte auf. Die ganze Autobahnfahrt stützte sich Babette am Armaturenbrett ab. Über der Stadt lag eine Dunstglocke.
Am nächsten Morgen eilte Xaver die Krankenhaustreppe herunter. Babette war endlich von der Kaiserschnittoperation zurück im Zimmer und hatte Johanna gerade das erste Mal gestillt. Nachts war er schon fast verzweifelt. Zehn Stunden waren sie über Krankenhausflure spaziert, um die Wehen in Gang zu bringen, bis Babette endlich einem Kaiserschnitt zugestimmt hatte. Es war der glücklichste Tag in seinem Leben. Xaver blickte aus dem Fenster, in der kleinen Cafeteria, in der er sich gerade eine Semmel geholt und einen Kaffee bestellt hatte. Komisches Wetter. So dunstig, staubig, ging es ihm durch den Kopf. Im Vorübergehen erhaschte er die Schlagzeile einer Tageszeitung, die ihm den Appetit verdarb:
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