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Stadtexperiment - eine wahre Geschichte

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Stadtexperiment - eine wahre Geschichte

Aufmerksamen Stadtbummlern am Samstag fällt es zur Mittagszeit auf. Die Sirenen heulen kurz – meistens nur ein langgezogener Heulton: Entwarnung. Manchmal auf- und abschwellend: Luftalarm. Für die älteren Leute stellten diese akustischen Signale eine konkrete Erinnerung an schreckliche Zeiten dar. Für Jüngere waren sie eventuell das Gedenken an die Wasserkatastrophe in der Altstadt. Nun, die Landbevölkerung kannte dies Heulen sowieso: „Willi, du mut los, de rode Hahn bi Meiers olle Kate!“ Wer wird nach Denen fragen, die solche Sirenen betätigen. Ach doch, jemand will dies wissen.

Nun, manchmal wurde der rote Knopf pünktlich um 12, zur Mittagszeit, von mir betätigt. Jemand konnte mich in die Liste eintragen, weil von mir versäumt worden war, mich für das gesamte Halbjahr bezüglich sonstiger Dienste unabkömmlich zu melden: Herr K. arbeitet an dem Geheimprojekt XY und kann daher keinen Dienst in der Alarmierungszentrale übernehmen – so hätte der Nächsthöhere es mir bescheinigen müssen. Hatte er nicht. Morgens musste es schnell gehen: „Füllst du mir bitte den Tee in die Thermoskanne, packe bitte auch eine Joghurt ein, nicht wieder die Kunstmassen-Leberwurst.“

Dann ratterte mein VW-Käfer mit der Auspuff-Bandage in die Garage des beflaggten Dienstgebäudes. Möblierung, wie sie für mich sein soll – abgeschabte Schreibtische und dahinter Stahlschränke, die von vielen fleißigen Dezernaten, Stabsabteilungen, Referaten und Referenten mit Aktenordnern, Vorgängen, Asservaten und versiegelten „Im Falle von ...“-Umschlägen bestückt worden waren. Mein Vorgänger hatte schon das Weite gesucht. Eigentlich wollte ich mit ihm zusammen eine kurze Kontrolle des Schrankinventars veranstalten. Nun gut, nächstes Mal.

Das Blitzmädchen aus dem Telefonbunker machte die Übergabe: „Nelly ist jetzt unten. Sie hat keinen Whisky mehr, dein Job! Ich bleibe bis Nachmittag auf deiner Couch und nerve dich, kann so besoffen nicht zur Mutter stolpern. Nelly und ich haben keine Angst vor dir. Kannst sehen, woher du deine Meldungen kriegst, wenn wir auf dem Trockenen bleiben müssen!“ „Nun, du weißt, ich liebe euch alle beide. Das Geld für euren Jonny-Walker ist in der Kasse, die ist im Panzerschrank, an den komme ich nicht ran. Du kannst mir einen neuen Auspuff spendieren. Bin verheiratet, wenn du dies mit dem Funkmaat verwechselst haben solltest“, entgegnete ich geschult beschwichtigend. Sie gab schnarchend ruhe.

Der Routinedienst begann: Anruf bei Kommando A, dann Rückruf von Dienstetage B. Alles per Betriebsfunk zur Privatwohnung des Kollegen, der dann per Telefon als Relaisstation funktionierte. Totalausfall des Telefonbunkers wegen schmollendem Whisky- und Liebes-Entzugs. Für alle denkbaren Szenarien gab es einen Umschlag, der wiederum von 1 bis 798 Anweisungen an den Diensthabenden enthielt: 1. Veranlassen Sie die Hinzuziehung des Kommandanten über die Rufnummer ... 2. Holen Sie ihre Ausrüstung aus dem Gebäude 23a ...u.s.w. Irgendwann aß ich die erste Stulle, trank ein Gläschen Tee. Was gab es Neues in der Welt? Der Kurier hatte die Zeitungen gebracht.

Zwölf Uhr mittags: Zeit für die Alarm-Sirene. Da staunte ich nicht schlecht. Silva stand mit entblößter Schulter vor dem Alarmknopf und meinte schelmisch „Drücke doch hier mal, mein Süßer! Du verdreifachst dein Gehalt und kriegst die Silva als deine Dienstsklavin!“ Wie am handballerischen Siebenmeterkreis, versuche zum Sirenenknopf durchzukommen – Täuschung links, dann drücke ich rechts. Ah, der langgezogene Heulton, die Entwarnung! „Dienstgeiles Arschloch!“, war Silvas Dank. Wer mochte ihr etwas übel nehmen? Niemand. Sie rauschte davon, nunmehr wurde es erholsam still.

In den Schaufenstern der Stadt leuchteten Großbildschirme, die den neuesten Diskussionsstand zu Themen der Stadt und ihrer Bürger wiedergaben. Besonders interessierten hier die Thesen und Gegenthesen über Stadtfinanzen. Eine wohlhabende Stadt. Goldene Wasserhähne fehlten nur bei wenigen Bürgern. Die energische Erarbeitung von Wohlstand und Vermögen war nach und nach durch den lässigen Genuss dieser Errungenschaften ersetzt worden. Es ging finanziell sichtbar bergab. Allen Bürgern waren Kreditbürgschaften der Stadt eingeräumt worden und nun sollte dies ein Ende haben. Erregte Bürgerfragen an den Vorsitzenden des Finanzausschusses. Er hatte die rettende Idee: Von der Weltunion war eine Metropole gesucht worden, die für Experimente zur Verfügung stand, und sich dies sehr gut bezahlen ließ. Alle waren einverstanden, die Stadt wurde Welt-Experimentier-Metropole.

Warum malten die bloß überall riesige Rotpunkte auf die Gehsteige? Plötzlich drang der Wunsch in die Gedankenwelt der Bürger, sich genau innerhalb der Rotpunkte aufzuhalten. Unwiderstehlich – teilweise krochen Menschen rückwärts auf allen Vieren in die Kreise. Es gab kein Gedankenentrinnen: Gewissensbisse zwangen zur Ausführung, wechselten dann zu groben Kommandoworten. Der erste Schritt in Richtung Rotkreis wurde motivierend schmeichelnd belohnt. Zwischen den so taumelnden Bürgern am Rande des Wahnsinns liefen Experimentatoren mit Draht- und Abwehrhauben auf den Köpfen herum, die unbeeinflusst von dem neuronalen Gedankenanweiser, der als Großanlage auf dem Marktplatz stand, letzte Unstimmigkeiten klärten und das Licht ausmachten, wenn der letzte Bewohner sein Haus verlassen hatte. Über den Dächern thronte Manfred Witz, der Stadtchef, in seiner gläsernen Zentrale auf dem Regierungspalast. „Wir starten nunmehr die zweite Phase des Experimentes – eine Evakuierung der gesamten Einwohnerschaft zum Mars!“ Hupend kamen Autobusse zu den roten Punkten mit den Menschenansammlungen – hörten gar nicht mehr auf zu hupen. Vermutlich eine Fehlfunktion der Autoalarmanlagen dieser Busse.

Es knallte, ich war vom Stuhl gefallen. Draußen stand hupend meine Ablösung, die das Kärtchen für die elektrische Öffnung der Garageneinfahrt zu Hause vergessen hatte und meinen öffnenden Knopfdruck benötigte. „Na, wie war der Dienst!“, fragte mein Nachfolger. „Ein Traumjob, mach' es besser!“, murmelte ich verschämt.

 

Hallo Gerhard!

Ich habe früher schon ein paar Geschichten von Dir gelesen, die ich allerdings ohne Deine nachfolgenden Erklärungen nicht verstanden hätte – diese hier finde ich zugänglicher.

Die meisten „Es-war-eh-alles-nur-ein-Traum“-Geschichten lassen mich etwas enttäuscht zurück, bei „Stadtexperiment“ ging es mir nicht so. Vielleicht, weil die Realität der Dienststelle mit ihren schrulligen Charakteren schon etwas surreal wirkt, und der Traum dieses Bild eher ergänzt als ablöst.

Ich verstehe die Geschichte als Beschreibung einer skurrilen Dienststelle und der Arbeit darin. Viel Handlung sehe ich nicht, aber ich vermute, darum ging es Dir auch gar nicht. Das Lesen hat mir Spaß gemacht, bleibt zu hoffen, dass ich die Geschichte nicht komplett missverstanden habe :)

mfg

Bernhard

 

Hallo Gerhard,
also auf einen erneuten Versuch eine deiner Geschichten zu "verstehen"... :)
Zu Afnang dachte ich, ich versteh sie...
Dann kam der Mittelteil mit abgedrehten und betrunkenen Telefonmädchen, riesige Rotpunkten auf Gehsteigen und mein Verständnis war weg...
Gut, er hat geträumt. Aber was genau jetzt alles? Ab wann hat er geschlafen und was hat er wirklich noch erlebt. Der Übergang erscheint mir fliessend.
Sofern ich davon ausgehe, dass die etwas sehr verrückten Dinge nur in seinem Traum passieren.
Allerdings ist bei deinem Schreibstil oft nur schwer festzustellen was verrückt ist, und was noch annähernd normal...

Vielleicht eine nachfolgende Erklärung?

glg Hunter

 

Bis "erholsam still" läuft Wachdienst in einer Meldezentrale, dessen Dramatik nur hinter den Zeilen durchschimmert. Wer dabei "richtig" handelt, soll etwas offen bleiben. Die Beschreibung bleibt eher so, wie ich mich in der dortigen Situation auch präsentiert habe, nämlich als Sunnyboy mit Keep-Schmiling, unangreifbar in seiner Unerschütterlichkeit. Die Binnenverfassung, vielleicht auch nicht voll bewusst, ist widersprüchlicher, zerrissener. Sie drückt sich nur in surrealen Träumereien aus, die das ganze Dienstgeschehen übersteigert darstellen: Nur noch riesige rote Knöpfe auf den Straßen als übersteigerte Abbildung des Sirenenknopfes und der Ansammlung von Daten zu katastrophalen Szenarien im Panzerschrank. Menschen im vergangenen "Kalten Krieg", die psychische Mechanismen entwickelt haben, mit dem Schlimmsten fertig zu werden: Die beiden Telefonistinnen, eher Freundinnen als Untergebene, reagieren auf die problematische Gesamtsituation mit Trunkenheit und lässiger Dienstauffassung. Ich agiere die eventuellen Überlastungen in Albträumen aus.
MfG Gerhard Kemme :cool:

 

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