Störfaktoren
Ich werde nicht gerne in meiner Einsamkeit gestört, aber genau das ist jetzt passiert, wie ärgerlich. Das Haus, das ich bewohne, betrachte ich als mein Eigentum, seit Jahren schon, ach was, seit Jahrzehnten. So sehe ich mich: als Hausbesitzer, nicht als Hausbesetzer, obwohl mir dieses verfallene Anwesen natürlich nicht im klassischen Sinne gehört.
Ich bin kein geselliger Geist, wie viele andere es sind. Die wesentlichsten Charaktereigenschaften die man als Lebender besitzt, nimmt man in den Tod und darüber hinaus mit. Ich war schon immer introvertiert und genügte mir selbst, schon vor meinem Autounfall im Jahre 1934.
Seit ca. zwei Wochen haben sich hier vier Strolche eingenistet. Verkommene Subjekte, die nichts Besseres zu tun haben, als skrupellose Pläne auszuhecken. Sie prahlen über die Taten, die sie schon begangen haben. Von Raubüberfällen bis zu Mord ist alles dabei. Jetzt planen sie die Entführung eines reichen Industriellen. Ha! Das ich nicht lache. Die vier sind zusammen so intelligent wie ein Blumentopf, wobei der Blumentopf wesentlich besser abschneiden würde.
Wie sie dem Gesetz entwischt sind, wird für mich immer ein Geheimnis bleiben. Und die Sprache, derer sie sich bedienen! Verabscheuungswürdig. Ich bin wirklich schwer genervt, das kann ich Ihnen versichern.
Anfangs hatte ich gehofft, diese Menschen würden von selbst verschwinden, aber man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass ich diese Illusion vergessen kann. Sie haben das ganze Haus in Beschlag genommen, einschließlich der Räumlichkeiten in denen ich mich früher so gerne aufgehalten habe.
Natürlich, ich könnte ausziehen und mir eine andere Bleibe suchen. Aber ich bin nicht flexibel genug, außerdem sehe ich nicht ein, warum ich das Feld räumen soll. Ich war als erster hier und ich werde noch hier sein, wenn diese Typen im Grabe vor sich dahinfaulen und die Würmer sich an ihrem Fleisch laben. Denn das diese Menschen nach ihrem Tod nicht als Geister herumwandeln werden, ist sonnenklar. Es gibt gewisse Voraussetzungen, die Einen dazu berechtigen, in die Geisterwelt einzutauchen. Wir sind auch nicht besonders viele, im Verhältnis zu den Lebenden. Keiner dieser abscheulichen Kreaturen die sich bei mir eingenistet haben, erfüllt auch nur ein einziges der notwendigen Kriterien. Das ist gut so, denn wenn hier nicht bald Ruhe einzieht, sehe ich mich zu gewissen Handlungen genötigt.
Ich gehe viel im Wald spazieren. Stundenlang wandere ich über die verschneiten Pfade, keine Spuren hinterlassend. Es ist so herrlich hier, wie ich diese für mich jetzt selten gewordene Kostbarkeit würdige! Ich sinke auf einen Baumstumpf und weine über die Schönheit der absoluten Stille.
Kehre ich zurück, trifft mich der Lärm, den diese Verbrecher veranstalten, doppelt hart. Ich kann nicht verhindern, dass mein Zorn von Tag zu Tag wächst. Ich weiß jetzt, was Hass ist.
Üble Gerüche ziehen durch mein Heim. Wir Geister verfügen über einen ausgeprägten Geruchsinn, müssen sie wissen. Der Gestank von Schweiß, Fäkalien, abgestandenen Bier und Zigarettenrauch verpestet die Luft und ich krümme mich angeekelt zusammen. Gibt es eine Steigerungsform für Hass? Oh, wie ich leide.
...
Gustav „Gus“ Peterson, war das, was man einen harten Burschen nennt. Er sprach ordinärer als die anderen drei, fluchte wie ein Rohrspatz, unter seinen gewaltigen Schritten quietschten die Dielen gequält auf, ja er rülpste sogar lauter als seine Gefährten. In seiner ganzen Herrlichkeit war er der geborene Anführer. Und obwohl er über die neue Bleibe die sie gefunden hatten - die alt und schäbig war, aber ein gutes Versteck vor den Bullen bot –ausgesprochen froh war, spürte er an diesem Ort ein gewisses Unbehagen, dass er einfach nicht los wurde. Er kam sich beobachtet vor. Was ihm am meisten Angst machte, war die Tatsache, dass dieses Gefühl manchmal ganz plötzlich verschwand und dann mit einer Intensität zurückkam, die ihm fast den Atem raubte.
Natürlich sagte er den anderen drei nichts von seinen Empfindungen, sie hätten ihn ausgelacht, und wenn er etwas nicht vertrug dann war es ausgelacht zu werden. Er glaubte nicht, dass seine Kumpane – die dämliche, aber sehr nützliche Marionetten für seine Zwecke waren – merkten, dass mit dem Haus etwas nicht stimmte. Was genau damit nicht stimmte, hätte er selbst nicht sagen können. Es war einfach so, als wenn noch jemand hier wäre. Ein unsichtbarer Jemand, der ihre Anwesenheit missbilligte.
Es gab keine äußeren Anzeichen dafür. Keine knarrenden Türen, keine herumfliegende Gegenstände, keine Geräusche. Nichts. Nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das von Tag zu Tag an Intensität gewann.
Kurzfristig gelang es ihm, seine Angst einzudämmen – an dem Tag, an dem sie die Entführung des millionenschweren Industriellen durchführten.
Aber schon Stunden später packte ihn wieder das Grauen – das er nicht beim Namen nennen konnte - und ihm blieb nichts anderes übrig, als den Biervorrat zu dezimieren um nicht verrückt zu werden. Etwas Ablenkung verschaffte er sich, indem er den Entführten mit Fußtritten und verbalen Attacken quälte. Seine Kumpels waren beunruhigt, wagten ihn aber auf seinen Zustand nicht anzusprechen, sie wussten, wie unberechenbar ein rotzbesoffener Gus Peterson war.
...
Ich habe es getan, ich habe es wirklich getan. Ich stehe in der Tür und betrachte den rostroten Schnee. Schon vor Stunden haben die Zuckungen des vor mir liegenden Menschenknäuels aufgehört. Zufrieden schaue ich auf die verdrehten, zerrissenen, zerbrochenen Gliedmaßen. Ein Haufen Knochen, totes Fleisch. Ein schöner Anblick. Was hab ich eigentlich mit ihnen angestellt? Ich weiß nur, dass ich so eben aus einem gewaltigen roten Rausch erwacht bin. Ich horche in mich hinein und spüre den Frieden, der mich durchströmt.
Ich schließe die Tür und betrachte den gefesselten Mann auf dem Boden, das Entführungsopfer. Er zittert wie Espenlaub, steht unter Schock, wimmert vor sich hin. Kein Wunder, aber ich kann ihm nicht helfen. Er wird sich erholen. Die Polizei wird ihn bald befreien kommen und das Leichenbündel draußen fortschaffen. Sie werden das Haus von oben bis unten durchsuchen. Ich habe nichts dagegen, spätestens in ein paar Tagen werde ich meine heißgeliebte Ruhe wiederhaben.
[ 26.07.2002, 09:27: Beitrag editiert von: Liz ]