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Spurensuche
Es ist keine gute Idee, in der Nähe eines Totempfahls zu lagern. Aber heute gehe ich nicht weiter. Ich bin erledigt. Brauche Ruhe. Nicht in zwei Stunden, nicht später irgendwann, sondern jetzt. Sofort.
Ich setze die Tasche ab, schaue mich um. Im Westen glüht die Sonne in tiefem Orange über den Wäldern. Ausläufer der morastigen Ebene, die sich im Osten bis zum Horizont erstreckt, sinken bereits in das Zwielicht der anbrechenden Nacht. Eine sonderbare Stille liegt über allem, die Kronen der Ulmen, Fichten und Douglasien um mich her ragen bewegungslos in die Leere des Himmels.
Ich rolle das Karibufell aus. Die Versuchung, mich jetzt einfach hinzulegen und zu schlafen, ist so mächtig, dass ich die Fäuste balle, durchatme und mich zwinge, das gesammelte Brennholz zu einem Tipifeuer zu schichten.
Die Nacht kommt rasch. Ich sitze am Feuer, das alte Henry-Gewehr auf den Knien, kaue Trockenfleisch, starre in die Flammen. Er könnte das Feuer bemerken. Seine Spuren heute Mittag waren frisch. Er ist in der Nähe. Aber mir fehlt die Kraft, das Lager zu tarnen. Risiko.
Immer wieder blicke ich hinüber zu dem verrotteten Pfahl. Vogelaugen starren zurück. Eine Sippe Krähen lebte hier viele Jahre lang. Mein Vater hat es mir erzählt. Damals zogen nicht nur ihre Späher und Krieger durchs Land. Ganze Familien bevölkerten die Niederungen am Fluss. Vielleicht war das eine glücklichere Zeit, eine Zeit, in der sie uns nicht als Feinde betrachteten.
Bei Sonnenaufgang fegt ein eisiger Wind über die Taiga. Wenn die Tage im Herbst so übel beginnen, ist der Winter nah. In meine Decke gehüllt, richte ich die Glut des Feuers für das Kaffeekochen. Ich habe nicht von ihr geträumt. Wie war es gestern? Ich kann es nicht sagen. Überhaupt – schwierig, Erinnerungen und Träume auseinander zu halten. Der zerschmetterte Schädel, war das real? Das Blut auf den schmutzigen Dielen, das Büschel ausgerissenen Haars?
Ich setze den Becher an die Lippen, schlürfe den heißen Kaffee. Der Wind flaut ab. Vielleicht habe ich Glück mit dem Wetter.
Über mir im Blattwerk des Hickorybaums flattert ein Waldsänger von Zweig zu Zweig. Sein goldenes Gefieder strahlt metallisch im Glanz der Morgensonne. Ich schaue ihm eine Weile zu. Die Wildnis kennt keinen Schmerz. Ob wir Menschen schreien, bluten oder sterben, es spielt keine Rolle, macht keinen Unterschied.
Am Nachmittag entdecke ich seine Spuren im feuchten Kies des Flussbettes. Ihm geht der Proviant aus, und zum Jagen fehlt ihm die Zeit. Ich könnte abwarten. Die Taiga wird ihn erledigen. Oder ein Pfeil zerfetzt ihm die Brust.
Während ich der Fährte folge, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Ich sehe es im Glitzern des Wassers, in den Wolken, die über meinem Kopf dahin ziehen, im Geröll des Ufers. Irgendwann bleibe ich stehen. »Geh fort!«, sage ich. »Bitte. Lass mich allein.«
Ich lege die Kleider ab und tauche in das dunkle Wasser des Flusses. Die Strömung zerrt an mir. Mag sie alles wegspülen, all diese Gedanken, Bilder, Gefühle. Doch als ich aus dem Wasser steige, rieche ich wieder den Duft ihres Haars. Ich sehe das Schimmern ihrer Haut, höre den Klang ihrer Stimme.
Die Dämmerung legt sich über das Land. Ich hocke in der Schwarzbärenschlucht und betrachte den Abdruck seiner Stiefel. Hier stand er. Ich sehe ihn vor mir, wie er innehält und dort hinüber starrt. Dorthin, wo sich Hemlock-Tannen und Rot-Zedern an die Felsen der Klamm schmiegen. Was hat er dort gesehen?
Im letzten Licht des Tages untersuche ich den Boden unter den Tannen. Es ist nicht mehr als ein Gefühl, dennoch bin ich sicher. Die Späher der Krähen greifen nur selten an. Manchmal zeigen sie sich, um uns zu erschrecken, in die Irre zu führen.
Später am Feuer, dessen Flammen an den Rundungen der Erdmulde lecken, denke ich an meinen Vater und daran, wie er mich Tag für Tag an der Fährtenkiste unterrichtete. Mit einem Zweig hatte er Spuren in den Sand gezeichnet, und nun schauten wir dabei zu, wie sie vom Regen aufgeweicht, von der Sonne getrocknet, vom Wind davongetragen wurden. Wir beobachteten, wie sie alterten und irgendwann verschwunden waren. Die Fährtenkiste war eine Erfindung der Krähen, einer ihrer Krieger zeigte meinem Vater den Trick.
Das war, bevor eine Siedlerin und ihre Tochter von zwei jungen Krähen überfallen und vergewaltigt wurden. Bevor die Siedler begannen, Krähen zu jagen und zu töten. Die Siedler töteten jede Krähe, die ihnen in die Hände fiel. Jede Krähe, ohne Ausnahme, gleich ob Krieger, Greis, Frau oder Kind.
Der Schrei einer Eule lässt mich zusammenfahren. So ist es jetzt. Seit diesem Tag, seit ihrem Tod. Diese Welt will mein Ende. Nichts dagegen einzuwenden.
Seine Augen betrachten mich mit einem Blick, in dem es keine Hoffnung gibt. An den Stamm einer Sitka-Fichte gelehnt, die Beine von sich gestreckt, sitzt er da, als heiße er das Unvermeidliche willkommen.
Er leckt sich über die rissigen Lippen und sagt: »Ich wollte nicht …«
Ich setze die Tasche ab und schaue mich um, das Henry-Gewehr in den Händen.
»Hätte nicht gedacht … « Er hustet, spuckt, wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. »Also, dass du mir über den Schwarzstein-Pass ohne dein Pferd folgen würdest ...«
»Deine Waffe?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Hab keine Munition mehr.«
»Trotzdem«, sage ich. »Wirf sie rüber.«
Er lächelt matt, deutet mit einer Bewegung des Kinns auf seine Satteltasche, die ein paar Schritte entfernt unter Ginstersträuchern liegt.
»Da musst du dich selbst bemühen.«
Ich bewege mich nicht.
»Also«, sagt er und schluckt. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.«
Ich schaue ihn an. Über seinem Kopf bewegen sich die Fichtenzweige im Wind. Vom Fluss her ist das Rauschen des Wassers zu hören.
»Sie hat es provoziert. So, wie sie mich angesehen hat. Ich wollte nur … Wollte nur …«
Als ich die Waffe auf ihn richte, wird sein Blick hart.
»Scheiße«, sagt er kalt. »Sie war doch nur eine verdammte Krähe.«
Ich feuere, lade in einer schnellen Bewegung durch und feuere erneut.
Das Krachen der beiden Schüsse hallt eine Zeitlang nach. Dann ist da nur noch das Geräusch von Wind und Wasser.
Ich nehme meine Tasche auf und sehe sie – drei Krähen. Krieger. Bewegungslos stehen sie da, kaum zwanzig Schritte entfernt. Ich betrachte die Zeichen auf ihren nackten Leibern und warte darauf, dass sie ihre Waffen heben. Die drei Männer starren mich an.
Ich schultere mein Gewehr, drehe mich um und gehe los. Der Wind flaut ab. Vielleicht habe ich Glück mit dem Wetter.