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Spurensuche

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08.07.2012
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Spurensuche

Es ist keine gute Idee, in der Nähe eines Totempfahls zu lagern. Aber heute gehe ich nicht weiter. Ich bin erledigt. Brauche Ruhe. Nicht in zwei Stunden, nicht später irgendwann, sondern jetzt. Sofort.
Ich setze die Tasche ab, schaue mich um. Im Westen glüht die Sonne in tiefem Orange über den Wäldern. Ausläufer der morastigen Ebene, die sich im Osten bis zum Horizont erstreckt, sinken bereits in das Zwielicht der anbrechenden Nacht. Eine sonderbare Stille liegt über allem, die Kronen der Ulmen, Fichten und Douglasien um mich her ragen bewegungslos in die Leere des Himmels.
Ich rolle das Karibufell aus. Die Versuchung, mich jetzt einfach hinzulegen und zu schlafen, ist so mächtig, dass ich die Fäuste balle, durchatme und mich zwinge, das gesammelte Brennholz zu einem Tipifeuer zu schichten.
Die Nacht kommt rasch. Ich sitze am Feuer, das alte Henry-Gewehr auf den Knien, kaue Trockenfleisch, starre in die Flammen. Er könnte das Feuer bemerken. Seine Spuren heute Mittag waren frisch. Er ist in der Nähe. Aber mir fehlt die Kraft, das Lager zu tarnen. Risiko.
Immer wieder blicke ich hinüber zu dem verrotteten Pfahl. Vogelaugen starren zurück. Eine Sippe Krähen lebte hier viele Jahre lang. Mein Vater hat es mir erzählt. Damals zogen nicht nur ihre Späher und Krieger durchs Land. Ganze Familien bevölkerten die Niederungen am Fluss. Vielleicht war das eine glücklichere Zeit, eine Zeit, in der sie uns nicht als Feinde betrachteten.

Bei Sonnenaufgang fegt ein eisiger Wind über die Taiga. Wenn die Tage im Herbst so übel beginnen, ist der Winter nah. In meine Decke gehüllt, richte ich die Glut des Feuers für das Kaffeekochen. Ich habe nicht von ihr geträumt. Wie war es gestern? Ich kann es nicht sagen. Überhaupt – schwierig, Erinnerungen und Träume auseinander zu halten. Der zerschmetterte Schädel, war das real? Das Blut auf den schmutzigen Dielen, das Büschel ausgerissenen Haars?
Ich setze den Becher an die Lippen, schlürfe den heißen Kaffee. Der Wind flaut ab. Vielleicht habe ich Glück mit dem Wetter.
Über mir im Blattwerk des Hickorybaums flattert ein Waldsänger von Zweig zu Zweig. Sein goldenes Gefieder strahlt metallisch im Glanz der Morgensonne. Ich schaue ihm eine Weile zu. Die Wildnis kennt keinen Schmerz. Ob wir Menschen schreien, bluten oder sterben, es spielt keine Rolle, macht keinen Unterschied.

Am Nachmittag entdecke ich seine Spuren im feuchten Kies des Flussbettes. Ihm geht der Proviant aus, und zum Jagen fehlt ihm die Zeit. Ich könnte abwarten. Die Taiga wird ihn erledigen. Oder ein Pfeil zerfetzt ihm die Brust.
Während ich der Fährte folge, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Ich sehe es im Glitzern des Wassers, in den Wolken, die über meinem Kopf dahin ziehen, im Geröll des Ufers. Irgendwann bleibe ich stehen. »Geh fort!«, sage ich. »Bitte. Lass mich allein.«
Ich lege die Kleider ab und tauche in das dunkle Wasser des Flusses. Die Strömung zerrt an mir. Mag sie alles wegspülen, all diese Gedanken, Bilder, Gefühle. Doch als ich aus dem Wasser steige, rieche ich wieder den Duft ihres Haars. Ich sehe das Schimmern ihrer Haut, höre den Klang ihrer Stimme.

Die Dämmerung legt sich über das Land. Ich hocke in der Schwarzbärenschlucht und betrachte den Abdruck seiner Stiefel. Hier stand er. Ich sehe ihn vor mir, wie er innehält und dort hinüber starrt. Dorthin, wo sich Hemlock-Tannen und Rot-Zedern an die Felsen der Klamm schmiegen. Was hat er dort gesehen?
Im letzten Licht des Tages untersuche ich den Boden unter den Tannen. Es ist nicht mehr als ein Gefühl, dennoch bin ich sicher. Die Späher der Krähen greifen nur selten an. Manchmal zeigen sie sich, um uns zu erschrecken, in die Irre zu führen.
Später am Feuer, dessen Flammen an den Rundungen der Erdmulde lecken, denke ich an meinen Vater und daran, wie er mich Tag für Tag an der Fährtenkiste unterrichtete. Mit einem Zweig hatte er Spuren in den Sand gezeichnet, und nun schauten wir dabei zu, wie sie vom Regen aufgeweicht, von der Sonne getrocknet, vom Wind davongetragen wurden. Wir beobachteten, wie sie alterten und irgendwann verschwunden waren. Die Fährtenkiste war eine Erfindung der Krähen, einer ihrer Krieger zeigte meinem Vater den Trick.
Das war, bevor eine Siedlerin und ihre Tochter von zwei jungen Krähen überfallen und vergewaltigt wurden. Bevor die Siedler begannen, Krähen zu jagen und zu töten. Die Siedler töteten jede Krähe, die ihnen in die Hände fiel. Jede Krähe, ohne Ausnahme, gleich ob Krieger, Greis, Frau oder Kind.
Der Schrei einer Eule lässt mich zusammenfahren. So ist es jetzt. Seit diesem Tag, seit ihrem Tod. Diese Welt will mein Ende. Nichts dagegen einzuwenden.

Seine Augen betrachten mich mit einem Blick, in dem es keine Hoffnung gibt. An den Stamm einer Sitka-Fichte gelehnt, die Beine von sich gestreckt, sitzt er da, als heiße er das Unvermeidliche willkommen.
Er leckt sich über die rissigen Lippen und sagt: »Ich wollte nicht …«
Ich setze die Tasche ab und schaue mich um, das Henry-Gewehr in den Händen.
»Hätte nicht gedacht … « Er hustet, spuckt, wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. »Also, dass du mir über den Schwarzstein-Pass ohne dein Pferd folgen würdest ...«
»Deine Waffe?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Hab keine Munition mehr.«
»Trotzdem«, sage ich. »Wirf sie rüber.«
Er lächelt matt, deutet mit einer Bewegung des Kinns auf seine Satteltasche, die ein paar Schritte entfernt unter Ginstersträuchern liegt.
»Da musst du dich selbst bemühen.«
Ich bewege mich nicht.
»Also«, sagt er und schluckt. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.«
Ich schaue ihn an. Über seinem Kopf bewegen sich die Fichtenzweige im Wind. Vom Fluss her ist das Rauschen des Wassers zu hören.
»Sie hat es provoziert. So, wie sie mich angesehen hat. Ich wollte nur … Wollte nur …«
Als ich die Waffe auf ihn richte, wird sein Blick hart.
»Scheiße«, sagt er kalt. »Sie war doch nur eine verdammte Krähe
Ich feuere, lade in einer schnellen Bewegung durch und feuere erneut.
Das Krachen der beiden Schüsse hallt eine Zeitlang nach. Dann ist da nur noch das Geräusch von Wind und Wasser.
Ich nehme meine Tasche auf und sehe sie – drei Krähen. Krieger. Bewegungslos stehen sie da, kaum zwanzig Schritte entfernt. Ich betrachte die Zeichen auf ihren nackten Leibern und warte darauf, dass sie ihre Waffen heben. Die drei Männer starren mich an.
Ich schultere mein Gewehr, drehe mich um und gehe los. Der Wind flaut ab. Vielleicht habe ich Glück mit dem Wetter.

 

Hallo @Achillus,

eigentlich sollte ich erst an meinem Text arbeiten und meine Kommentare beantworten, habe aber gerade Deinen Beitrag gesehen und bin irgendwie völlig verwirrt:

Dass sich am Ende herausstellt, dass eine Krähe seine Frau war, ist ein wichtiges Detail zur Deutung der Geschichte.

Das habe ich ehrlich gesagt beim ersten Durchlesen überhaupt nicht verstanden.

Aber ich weiß jetzt auch warum. Ich habe die Frau in seiner Erinnerung mit der von den Krähen vergewaltigten Siedlerin in Verbindung gebracht. Ich bin nicht darauf gekommen, dass das seine Ehefrau war, die er rächen wollte.

Ich hatte mir das so zusammengereimt. Der Protagonist hat die Siedlerin und die Tochter gesehen, die vergewaltigt und getötet wurden. Hat ihnen vielleicht noch versucht zu helfen, ihre Schreie gehört. Daher verfolgen ihn die schrecklichen Bilder, der Geruch, die Stimme und seitdem macht er Jagd auf Krähen bzw. auf Vergewaltiger und Frauenmörder.

Beim nochmaligen Lesen ist mir auch alles klar geworden. :bonk:

Interessant ist aber, wenn man mal auf dem falschen Dampfer ist, so wie ich, gibt es praktisch keinen Hinweis, der einen von der falschen Fährte wieder auf den richtigen Weg führt.

Nur dieser eine Satz »Sie war doch nur eine verdammte Krähe.« ist ein Hinweis, aber der hat für mich nicht ausgereicht, um den Schwenk hinzubekommen und zu verstehen, dass er seine Frau gerächt hat. Ich dachte, er hat einen Vergewaltiger und Frauenmörder gejagt und tötet ihn trotzdem, obwohl "nur" eine Krähe sein Opfer war, weil dieses Verbrechen an der Siedlerin und Tochter für ihn so traumatisch war, dass es nicht darauf ankommt, ob die getötete Frau Krähe ist oder nicht.

Selbst der Schluss passt übrigens bei dieser Lesart.

Naja, wahrscheinlich bin ich da alleine mit dem großen Brett vorm Kopf gewesen.

Gruß
Geschichtenwerker

P.S.: Lass ein wenig Gnade walten bei meiner Geschichte, das wird nicht so Deinen Geschmack treffen, aber ich wollte mal eine Alltagsgeschichte ausprobieren. Trotzdem freue ich mich natürlich sehr, wenn Du sie kommentierst.

 

Hallo Geschichtenwerker, vielen Dank für Deine Ergänzung. Bei diesen Dingen ist es manchmal wirklich eigenartig, genau wie Du schreibst. Wenn man erst mal auf der falschen Fährte ist, fügt das Gehirn alles weitere schön passend aber eben falsch ein.

Ich bin nicht schlüssig, ob ich die Geschichte in der Hinsicht noch klarer machen sollte. Danke auf jeden Fall für den Hinweis.

Gruß Achillus

 
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Während ich der Fährte folge, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Ich sehe es im Glitzern des Wassers, in den Wolken, die über meinem Kopf [dahinziehen], im Geröll des Ufers. Irgendwann bleibe ich stehen. »Geh fort!«, sage ich. »Bitte. Lass mich allein.«

Ich noch mal – z. T. von Deiner neueren Geschichte „Sanuhe“ veranlasst und auch Änderungen feststellend (incl. einer Fluse, s. Eingangszitat), wie die nun eindeutige Verlagerung des Ortes des Geschehens in der Bezeichnung des Rens als „Karibu“ und dazu auch eine Bestätigung des Begriffes „Taiga“ als auch jenseits Sibiriens: »Taiga w [von russisch tajgá = dichter Wald, Urwald], circumpolare boreale Nadelwaldzone in Nordeuropa, Sibirien und Nordamerika (zum Teil wird die Bezeichnung Taiga nur für den sibirischen Teil verwendet). (Taiga)«, ein
Tipifeuer zu schichten
kann ja so zufällig nicht sein.

Aber ich hatte in grauer Vorzeit auf das unterschwellig immer wieder auflebende, urzeitliche Rechtsinstitut der „Blutrache“ schon hingewiesen und zitier Wolfram* - der Blutrache für die Völkerwanderungszeit beschrieb "’s sind Dichtungen tragischer Ereignisse. Der Held wird aktiv und scheitert in aller Regel an einem besonderen Ethos von Treue, Mut und Kampfesfreude, insbesondere aber der Ehre. Wolfram definiert nicht nur die gotische „Ehre eines Menschen“ als „seine totale Integrität, seine Unverletztheit in körperlicher wie geistiger, materieller wie ideeller Hinsicht. Wer Ehre hat, ist heil, besitzt Heil. Wer ehrlos wird, wird auch heillos, er wird »feig«, das heißt, er ist dem Tode geweiht.“ [Wolfram1995, S. 21] Stets ist Ehre durch Unehre bedroht, bewirkt durch eine üble Tat („Neidingstat“ im mhd.). Die üble Tat schreit nach Vergeltung. Allein durch Rache kann die üble Tat geheilt, Ehre wiederhergestellt werden. Ge- und Beschädigte reagieren mit Blutrache und Fehde. Rechtsgrundsätze von alters her. Wo es keine Strafbehörde gibt, sind Angehörige der Familie zur Vergeltung aufgerufen und der Akt der Vergeltung vermag zum Krieg sich auszuweiten zwischen Familienverbänden und deren Verbündete. Glaube niemand, er wäre gegen ein solch archaisches Denken gefeit. Wolfram zeigt auf, wie es bis heute fortwirkt, im Großen wie im Kleinen: Gleich welches Motiv dahinter steht, wir erfahren den klein(st)en Diebstahl als persönliche Kränkung, der ertappte kleine Dieb wird bestraft, unabhängig von der Größe des Schadens. So spielt das gegensätzliche Paar Ehre und Unehre bis in die heutige Erziehung hinein, wenngleich andere Modelle von Sanktionen als die real existierenden sich anwenden ließen. –
Oder ins Größere gewendet: Massenvergewaltigungen - Wolfram erinnert an Bosnien, das Mitte der 1990er Jahre in die Schlagzeilen geriet. Die Schändung der Frau(en) trifft nicht nur deren „persönliche Integrität und Ehre, sondern auch die des Gegners insgesamt ...“ Anders gewendet: wesentliches Moment des Schocks des 9/11 ist nicht so sehr das verletzte Sicherheitsgefühl des Westens - um das Sicherheitsgefühl wiederzugewinnen wurde mancherlei unternommen,ob sinnvoll oder nicht ist eine andere Frage, sondern die gekränkte Ehre. Zielt doch die „Dramaturgie des Angriffs“ auf Demütigung des Angegriffenen, dass alsbald der Kampf um Ehre, Stolz, Ruhm, Schande und Schmach in eine schier endlose Spirale der Demütigung der Demütigenden zu führen droht. Archaische Strukturen holen die „moderne“ Zivilisation ein, waren nie überwunden! (allemal lesenswert: Wolfram, Herwig: Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, Sonderausgabe, München 1983 -
Ihm gelingt das schier unmöglich geglaubte, eine Ethnologie aufzustellen, von einem Völkerverbund, von dem bis ins 15. Jh hinein ein letzter Rest auf der Krim erhalten blieb). vgl.
„9/11 oder Silvester 406 und der Nibelunge not“, 9/11 oder Silvester 406 und der Nibelunge not

Tschüss

Friedel

 

Hallo Friedrichard, vielen Dank für Deinen Nachtrag zu meiner Geschichte. Hat mich sehr gefreut, dass Du noch einmal reingeschaut hast, und Deinen Exkurs zum Thema »Ehre« habe ich mit Spannung gelesen. Vor ein paar Jahren schenkte mir eine Freundin »Ohrfeige, Duell und Ehrenmord – Eine Geschichte der Ehre« von W. Speitkamp mit der Anmerkung, das würde mich sicher interessieren. Ich verstehe den Hinweis.

Bei dieser und anderen Rachegeschichten geht es mir persönlich, mal ganz unabhängig davon, was der Leser darin sehen mag, allerdings weniger um Ehre, als vielmehr um Vergeltung im Sinne eines Wiederherstellens von Gerechtigkeit. Zwar ist das so natürlich nicht möglich, und auch die gesellschaftlichen Folgen von Revanche-Bedürfnissen sind katastrophal.

Andererseits ist Rache als Bedürfnis, den Verursacher von Unrecht zu bestrafen so tief in die menschliche Psyche eingeschrieben, dass man es beinahe als evolutionär codierten Impuls betrachten kann. Tatsächlich erkennen bereits Primaten Formen der Ungerechtigkeit (wenn sie beispielsweise von Pflegern beim Füttern benachteiligt werden) und reagieren mit Wut.

Ich finde das Thema jedenfalls hochspannend und setze mich gern mit meiner Wut und meinem Wunsch nach Vergeltung auseinander. Es ist ein typisches Beispiel dafür, dass da etwas ins uns rumort, von dem wir ziemlich gut wissen, wie problematisch es ist, aber dennoch zu gern nachgeben würden. Viele Geschichten in Film und TV sind Rachegeschichten, so ist der Western z.B. stark davon geprägt. Mich fasziniert das, und es befriedigt mich zutiefst, wenn die Schurken in den Staub beißen.

Gruß Achillus

 

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